LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

Wir Menschen sind ja so angelegt, dass Zweck allein uns nicht genügt. Kein Zweck kann uns befriedigen, wenn wir ihn nicht sinnvoll finden. Und wenn wir im Leben keinen Sinn mehr finden, dann ist es um uns geschehen. Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Darum können wir ja unseren Selbsterhaltungstrieb, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, opfern, so stark er auch immer sei. Wir können unser Leben hingeben, wenn uns das sinnvoll erscheint.

Wir können freiwillig sterben. Jeder weiß das.

Was nur wenige wissen, ist dies: Wir können auch freiwillig leben.

In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte:

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.

Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht.

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
weist er uns an,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.

Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.

Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:

Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken ...
Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.

Und zum Abschied sagt er uns:

Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.

«Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand.»

Und das Kind in uns kann kaum warten, bis wir ihm erlauben, sich, von seinen Sinnen hinausgesandt, bis an seiner Sehnsucht Rand zu wagen. Sobald wir aber nur einmal damit anfangen, führt schon ein Schritt zum nächsten. Wir dürfen uns da auf unser eigenes Erleben verlassen. Darauf kommt es ja schließlich an. Denn, was nicht im Erleben wurzelt, ist ja nur Scheinwissen.

Was aber ist diese Sehnsucht?
Ist sie nicht letztlich Heimweh?

Heimweh nach jenem Urquell von Sinn,
den wir Gott nennen.
Und der quillt in unserem innersten Herzen auf.

Augustinus ist bekannt durch zwei Sätze, die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen. Einerseits sagt er:

«In meinem innersten Herzen ist Gott mir näher als ich mir selbst bin,
weil Gott das Selbst meines Selbst ist.»

Aber derselbe Augustinus sagt andererseits, und dieses Wort ist noch besser bekannt:

«Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, o Gott.»

Nur in Gott, als dem Urquell von Sinn, findet unser rastloses Herz Ruhe.

Das Paradox des Menschenherzens drückt sich aus im scheinbaren Wiederspruch zwischen diesen beiden Sätzen des großen Heiligen.

Daheimsein in Gott und immer auf der Suche sein nach Gott;
in dieser Spannung erfahren wir Gott,
erfahren wir das Leben,
leben wir das Paradox.
Und im Paradox erfahren wir
Sinn.

Paradox ist das, was der allgemein üblichen Meinung widerspricht. So widerspricht es der allgemein üblichen Meinung, dass Sinnen über Denken hinausgeht. Es ist aber so, weil Leben über Logik hinausgeht. Leben widerspricht zwar nicht der Logik, geht aber weit über sie hinaus.

Pascal hat dieser Tatsache ihren bleibend gültigen Ausdruck gegeben:

«Le coeur a ses raisons, que la raison ne connaît point» ‒
«Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt.»

Nur unser mystisches Erleben kann diese Gründe ausloten; nur in dichterischer Sprache dürfen wir wagen, davon zu reden.

Die Sinne senden uns hinaus. Und nur so können wir dahin kommen, wo wir immer schon sind. Unsere Ausfahrt zum äußersten Rand unserer Sehnsucht ist Heimkehr zur Herzmitte.

Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.

Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung.

Wann und wo hast du ‒ ganz gleich wie flüchtig und wie bald bezweifelt oder vergessen ‒ jene «feurige Umarmung» erlebt, von der David Whythes «Selbstbildnis» spricht? Lies es hier als Ganzes; vielleicht wirst du darin dein eigenes Selbst abgebildet finden.

David Whyte entfaltet Pascals Einsicht in gegenwartsnaher Sprache. Darum ist es nicht erstaunlich, dass sein «Selbstbildnis» in den USA zur Zeit zu einem der meist zitierten Gedichte geworden ist. Mit seinen ersten, sehr herausfordernden Worten schon spricht es vielen Menschen unserer Zeit aus dem Herzen ‒ und zwar keineswegs nur spirituell gleichgültigen, sondern vor allem den ernstlich Gott Suchenden:

Selbstbildnis
David Whyte

Es interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.
Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern. Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
‹Hier stehe ich›. Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht. Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere  L e i d e n schaft
deiner unausweichlichen Niederlage.

In  d i e s e r  feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.

Mir wurden in den Jahrzehnten meiner Freundschaft mit David Whyte viele feurige Gipfelerlebnisse geschenkt. Gemeinsam beugten wir uns über die äußersten Klippen der Aran-Inseln und schauten hunderte Meter tief senkrecht hinunter auf den Atlantischen Ozean. Gemeinsam erlebten wir einen Frühlingstag auf einer kleinen Insel in einem irischen See, einen jener verzauberten Tage, wenn nach langem Regen der Schlehdorn wie in Brautschleiern strahlend weiß im Sonnenschein dasteht, und der Kuckuck nicht aufhört zu rufen. Und auf einer dritten Insel, Whidbey Island an der Westküste Nordamerikas, saßen wir gemeinsam auf einer alten Holzbank, und da ereignete sich ‒ nichts. (Wir sagen das so leichthin. Wenn sich Nichts aber einmal wirklich ereignet ‒ uns wirklich bewusst wird ‒, dann ist das vielleicht der höchste Gipfel, den wir erleben können.)

«Es interessiert mich nicht, ob es einen
Gott gibt oder viele Götter.»

Und warum nicht? Weil das rein theoretische Fragen sind. Dem Herzen aber geht es um Einsicht, die der Erfahrung entspringt. Und von Erfahrung sprechen gleich die nächsten Zeilen:

«Ich möchte wissen, ob du
dazugehörst oder dich verlassen fühlst,
ob du Verzweiflung kennst und sie erkennen kannst
in andern.»

Darauf kommt es also an: Ob wir jene allumfassende Zugehörigkeit kennen, die den Gegenpol darstellt zu Verlassenheit und Verzweiflung.

Wir dürfen sicher sein, dass wir schon irgendwann einmal dieses All-eins-sein gefühlt haben ‒ in einem Gipfelerlebnis, würde Maslow sagen.

Wir dürfen uns nur nicht irreführen lassen durch diesen Ausdruck und gleich ans Matterhorn denken oder an einen Gipfel im Himalaya. Vielleicht war unser persönlicher Gipfel im Vergleich dazu ein Ameisenhaufen; das spielt keine Rolle.

Es genügt jedenfalls, dass wir uns schon einmal so recht daheim gefühlt haben im All, wenn auch nur einen Augenblick lang. Wir hörten etwa eine Melodie (Händels Alleluja ist für mich so eine) und waren plötzlich so ganz da; alles war recht so, wie es war, und wir waren Teil des Ganzen, waren irgendwie das Ganze. Einmal wenigstens, das genügt ‒ oder es sollte genügen. Wir dürfen das Geschenk eines solchen Augenblickes nur nicht vergessen.

Sooft wir uns dankbar daran erinnern, wissen wir, dass wir «dazugehören» und sind vor der Verzweiflung gerettet.

Das ist aber eine Haltung, die wir täglich neu erringen; täglich auf neue Art beweisen müssen. Das Leben verändert uns ja ständig, ob wir es wollen oder nicht. Es fordert uns heraus, sicher zu sein, dass der Anker hält, auch in Stürmen.

Darum fragt der Dichter weiter, ob wir auch wirklich zu leben bereit sind:

«Ich möchte wissen,
ob du zu leben bereit bist in der Welt
mit ihrem harten Zwang,
dich zu verändern. Ob du zurückschauen kannst
mit festem Blick und sagen:
‹Hier stehe ich›.»

Nur das gläubiges Ich weiß, wo es steht. Nur unser wirkliches Selbst steht überhaupt.

Unser kleines Ego wird nur ankerlos umhergeschwemmt. Aber es sehnt sich, «aufgehoben» zu werden, ‒ ausgelöscht, über sich hinausgehoben ins große Selbst und dort liebend verwahrt.[1] Darum die weitere Frage:

«Ich möchte wissen,
ob du es verstehst,
in die feurige Lebenshitze hineinzuschmelzen,
hineinzufallen
mitten in deine Sehnsucht.»

‒ die Sehnsucht nach dem All-eins-sein. In allem, was wir Liebe nennen, schwingt irgendwo lauter oder leiser diese Sehnsucht mit.

Denn Liebe ist ja nicht nur ein Gefühl, sondern letztlich unser Ja zur Zugehörigkeit, ein «Ja», das jeder Funke unseres Geistes, jeder Herzschlag unseres Leibes ausruft.

Darum holt auch hier der Dichter weit aus zu seinem vierten und letzten «Ich möchte wissen», das nach der Liebe fragt:

«Ich möchte wissen,
ob du bereit bist,
Tag für Tag die Folgen der Liebe zu ertragen
und die ungewollte bittere  L e i d e n schaft
deiner unausweichlichen Niederlage.»

Sooft ich es lese, trifft mich hier dieses Wort «Niederlage» wieder wie ein Blitz. Besser gesagt, mein kleines Ich wird so vom Blitz getroffen. Mein wahres Selbst ist ja Liebe ‒ das große Ja zum All-eins-sein. Darin aufzugehen ist Niederlage für mein Ego,

aber es ist zugleich das strahlende Aufleuchten des gläubigen Selbst ‒
die «feurige Umarmung»,
die allem Leiden, aller Sehnsucht Sinn gibt.

Hier liegt auch die Antwort auf die Frage bezüglich des einen Gottes und der vielen Götter. Sie wurde eingangs des Gedichtes zurückgewiesen, weil nur vom Kopf gestellt; hier in den beiden letzten Zeilen wird sie vom Herzen in ganz überraschender Weise doch beantwortet:

«In  d i e s e r  feurigen Umarmung, heißt es,
reden selbst die Götter von Gott.»

Das ganze Gedicht verdient es, am Ende dieses Abschnittes noch einmal vorgelegt zu werden. Man muss es mehrmals lesen, um ihm gerecht zu werden:

Self Portrait
David Whyte

It doesn't interest me if there is one God
or many gods.
I want to know if you belong or feel
abandoned.
If you know despair or can see it in others.
I want to know
if you are prepared to live in the world
with its harsh need
to change you. If you can lookback
with firm eyes saying
this is where I stand. I want to know
if you know
how to melt into that fierce heat of living
falling toward
the center of your longing. I want to know
if you are willing
to live, day by day,
with the consequence of love
and the bitter
unwanted passion of sure defeat.

I have been told, in  t h a t  fierce embrace, even
the gods speak of God.

[Komposition aus: Die Achtsamkeit des Herzens, 48f., 40, 35f. (siehe auch Sinne und Kind werden); Musik der Stille (2023), 48f. (siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob); Im Paradoxen Sinn erfahren, 60f. (siehe auch Sinn und Zweck); Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube an Gott»: «Persönliche Erwägungen», 31-36]


[
Ergänzend:

1. Lebendig bleiben mit David Steindl-Rast (2023):
Szenische Lesung mit Bettina Buchholz und Video-Gespräche mit David Steindl-Rast. Ein Theaterprojekt von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser (Transkription); siehe auch Leiden in schwerer Krankheit:

(Video 53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.

In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:

Wir wissen’s ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.

Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?

Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.

Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich’s.»

R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905

2. «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht.» (Rilke: Das Stunden-Buch)

2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016); siehe auch Fragen des Lebens: Ergänzend: 2.
‹Audio Tag 2 ‒ Nachmittag›:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht›

2.2. Lebendige Spiritualität (2015); siehe auch Dunkelstunden: Ergänzend: 2.1.
Audio ‹Schweigen›:
(52:10) ‹Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden› – ‹Du Dunkelheit, aus der ich stamme› – ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht›]

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[1] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der hegelsche Begriff ‹aufheben› ist für Bruder David ein wichtiger Schlüsselbegriff, siehe Abschied, Wandlung, Aufheben: Ergänzend: 1.



Quellenangaben

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