Abschied, der Klang des Lebens
Video, Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Eines Deiner großen Geschenke heißt Abschied. Trennung schmerzt,
doch wenn ich sie ‒ trotz des Schmerzes ‒ als Geschenk dankbar
aus Deinen Händen empfange, wird Abschiednehmen zur Feier.
Schon als Kind durfte ich der Großmutter nachwinken und dabei erleben,
dass die Feier dieses kleinen Rituals der Abschiedswehmut eine eigene Süße gab.
Oder das Winken von Boot zu Boot beim aneinander Vorübergleiten:
Ein tiefer Instinkt verlangt es.
Heute will ich (ganz unbemerkt) auch die kleinsten Trennungen als Abschied feiern
und so zugleich Abschiednehmen üben und Dankbarkeit lernen.
Amen.»[1]
Alles schwindet. Wir aber sind die Schwindendsten, weil wir um unser Schwinden wissen.
Wenn wir die unvorstellbar lange Zeitspanne von sechzehntausend mal tausend mal tausend Jahren bedenken, die das Weltall brauchte, um uns hervorzubringen, dann ist unsere Lebensspanne im Vergleich dazu kürzer als ein Seufzer. Wir wissen aber nicht nur, wie schwindend wir sind, wir wissen auch, wie wir unser Schwinden einmünden lassen können in Ewiges Leben: indem wir unser Hiersein in seiner Einmaligkeit völlig vollziehen ‒ jetzt und jetzt und jetzt, mit jedem Atemzug.
Das erwarten all die anderen schwindenden Formen von uns Menschen, denn sie brauchen uns, um durch uns ins Ewige Leben einzugehen. Darum fordert Rilke uns auf:
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.»(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII)
Als Menschen wissen wir, wie kein anderes der vergänglichen Lebewesen um den Tod, jenen endlosen Winter. Aber gerade darum kennt unser Herz auch das Geheimnis, ihn zu überstehen: «allem Abschied voran zu sein», indem wir im Jetzt leben.
Wach um den Tod zu wissen, heißt ihn vorwegnehmen.
Orpheus wird hier zum Beispiel dafür. Es gelang ihm nicht ‒ so der griechische Mythos ‒, Eurydike, seine große Liebe, aus der Unterwelt zurückzubringen, aber umso klangvoller sang er ‒
«… wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.»(Rilke: Die neunte Elegie)
Das ist auch unsere Aufgabe, und wir erfüllen sie, indem wir die Vergänglichkeit des Augenblickes durch dankbares Leben zum Klingen bringen.
«Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.»(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII, 2. Strophe)
Mitten im vergänglichen Augenblick das unvergängliche Jetzt dankbar rühmend zu feiern, das ist wahres Sein, und es ist uns nur unter der Bedingung geschenkt, dass wir auch zum Nicht-sein, zum Schwinden Ja sagen.
Jubelnd muss dieses Ja zur Vergänglichkeit erklingen, damit die Vielzahl vergänglicher Formen im ewigen Jetzt aufgehoben werden kann.
«Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.»(Rilke: Ebd., die sechs Schlusszeilen)
Auf «dieses einzige Mal» kommt alles an. Solange wir erwarten, dass es uns «nächstes Mal» gelingen wird, ganz im Augenblick zu sein, ihn völlig zu vollziehen, sind wir noch in Zeit und Zahl verfangen.
Das «nächste Mal» wird ja auch «dieses einzige Mal» sein, denn «alles ist immer jetzt».
Wir dürfen diese Einmaligkeit nicht vergessen in allem was wir tun und erleiden ‒ ein Mal.
Und weil es «unwiderruflich» ist, führt «dieses eine einzige Mal» als Tor zum Ewigen Leben.
Verlangt das nicht Mut von uns? Großen Mut? Sollten wir nicht erwarten, dass «Ewiges Leben» höchsten Lebensmut von uns verlangt? Und nicht später einmal, sondern jetzt.
Wie anders sieht das doch aus, als die landläufige Vorstellung vom «Ewigen Leben» als Fortleben nach dem Tod.
Der indische Mystiker Kabir (1440-1518) sagt dazu:[2]
«Wenn du deine Fesseln nicht als Lebender sprengst,
meinst du,
Geister werden es später tun?
Seliges Entzücken der Seele,
nur weil der Leib verwest,
ist reine Phantasterei.
Was du jetzt findest, wirst du dann finden.
Wenn du jetzt nichts findest,
wirst du eben eine Wohnung
in der Stadt der Toten erben.
Wenn du dich jetzt auf göttliches Liebesspiel einlässt,
werden dann deine Züge befriedigte Lust spiegeln.»
Im Jetzt leben bedeutet nicht weniger, als sich auf ein Liebesspiel einzulassen mit der göttlichen Wirklichkeit, die uns mit jedem Atemzug neu begegnet.
Scheint es nicht so, als ob dieses letzte Wort im Credo uns «Das Ewige Leben» als größtes Versprechen vor Augen halte und zugleich als höchste Herausforderung für unser Leben hier und jetzt?[3]
(Video 06:16):
«Sei immer tot in Eurydike.»
«Das richtet sich an jeden von uns: Wer und was ist deine Eurydike?
Wer ist der liebe Mensch, oder was war geliebt, und ist jetzt schon in der Unterwelt?
Das gehört auch zu deinem Leben dazu:
Sei ‹tot in Eurydike› heißt nicht: Sei tot, sondern es heißt: Sei so lebendig, dass du sogar den Tod deiner Eurydike ‒ den Tod von all dessen, was dir gestorben ist ‒, in deine Lebendigkeit hineinnehmen kannst.
Denn gleich das nächste Wort ist:
‹… s i n g e n d e r steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.›
Was ist dieser ‹reine Bezug›, in den wir zurücksteigen?
Es ist die Offenheit fürs Leben.
Aus dem Tod, wenn wir den hineinnehmen können in unsere Lebendigkeit, sind wir im ‹reinen Bezug› zum Leben.
Und dieser reine Bezug zum Leben ist Hoffnung:
Hoffnung gehört zum Überleben dazu
Abschied nehmen gehört zum Überleben dazu.
Wir müssen lernen, Abschied zu nehmen.
Und wir müssen lernen:
Hoffnung:
Und Hoffnung ist ganz etwas anderes wie die Hoffnungen. Es ist wunderbar, wenn man viele Hoffnungen hat. Und wenn man ein Mensch der Hoffnung ist, hat man auch viele Hoffnungen. Aber die Hoffnung ist etwas ganz anderes.
Die Hoffnung ist Offenheit für Überraschung.
Das ist wahre Hoffnung. Die Hoffnungen, die wir haben, sind immer Dinge, die wir uns vorstellen können. Aber Überraschung ist das, was alles übertrifft. Hoffnung öffnet sich für das, was alles übertrifft.
Und das brauchen wir zum Überstehen: die Offenheit für das Leben.
(Video 15:36) Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?
Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett, das gerade vorher kommt in der Sammlung:
‹W o l l e die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!›(Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen ‒ nicht die Wandlung ‒, und wenn’s so still ist, ist das nur die Wandlung vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.
(17:36) Und das ist das Entscheidende: Wenn wir uns fragen: Wie können wir überstehen, heißt das eigentlich: Wie können wir Angst überwinden?
Angst lässt sich nicht vermeiden. Sie lässt sich nur überwinden. Furcht ist nicht unvermeidlich. Wir müssen unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Furcht lässt sich vermeiden. Angst lässt sich dadurch überwinden, dass wir die Furcht überwinden. Angst kommt von demselben Wort wie Enge ‒ ‹miser et angustiae› ‒, das sind die Ängste, die Bedrängnisse. Angst ist im Deutschen dasselbe Wort wie im Lateinischen ‹angustiae› ‒ ‹Enge›. Und durch diese Enge kommen wir schon in die Welt. Wir haben als Fötus ein paradiesisches Leben. Und dann kommen wir durch die Enge des Geburtskanals in diese Welt. Jeder von uns hat das durchgemacht.
Und dann im Lauf dieses Lebens kommen wir immer wieder in Engpässe, immer wieder in Bedrängnis von allen Seiten. Und während wir uns als Babys während der Geburt ganz instinktiv dem Leben und der Überraschung überlassen haben ‒ wir waren offen für Überraschung und sind so geboren worden ‒, müssen wir das jetzt willentlich tun: Wir tun’s nicht mehr instinktiv, sondern instinktiv sträuben wir uns eigentlich, wir lassen so Borsten heraus und bleiben stecken in dieser Enge.
Und das müssen wir lernen: uns dem Leben anvertrauen. Und so wie uns das Leben durch den Geburtskanal in die Welt gebracht hat, bringt es uns immer wieder durch jede Enge.
Die größte Angst und Enge, die hinter jeder andern Angst steht, ist die Todesangst, denn wir haben keine Ahnung, was nachher kommt: das macht uns Angst.
Aber wenn wir uns nicht fürchten, dürfen wir vertrauen, dass wir durchgehen jedem Abschied voran in größeres Leben, in größere Fülle des Lebens, in eine neue Geburt, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Die Raupe kann sich ja auch nicht vorstellen, dass sie dann als Schmetterling herumfliegen wird. Wir können es uns nicht vorstellen ‒, wir sollen uns gar nicht bemühen, es uns vorzustellen.[4]
Aber wir dürfen darauf hoffen, dass, so wie wir durch jede Enge ‒ wenn wir uns nicht sträuben, nicht fürchten ‒, immer wieder in eine neue Geburt kommen, wir auch im letzten Abschied überstehen können.
Abschied lernen, gehört zum Überleben,
Mut und Bereitschaft zur Verwandlung.
Und ich hoffe, dass wir, wenn wir jetzt diese Musik anhören, die das so viel schöner und so viel ergreifender immer wieder sagt, als Worte es ausdrücken können, dass wir nicht nur das irgendwie nachempfinden können, sondern, dass wir uns entschließen können: ent-schließen, öffnen für das Leben.
Wenn ein Konzert noch so schön ist und am Ende nicht zum Entschluss führt, dann fehlt, wie das Rilke zusammenfasst:
‹Namenlos bin ich zu dir entschlossen› ‒ ‹Erde du liebe, ich will.›[5]
Das sollen wir sagen können:
Leben: ‹namenlos bin ich zu dir entschlossen›.
Und nichts kann unser Herz besser ent-schließen als Musik.
Und dafür sind wir heute ganz besonders dankbar.»[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 3 und 6]
[Ergänzend:
2. Bruder David trägt die beiden Sonette vor im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009):
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
(39:16) ‹Sei allem Abschied voran› (Ebd. 2. Teil, XIII): Bruder David deutet das Gedicht mit Versen aus: ‹Ich lese es heraus aus deinem Wort› (Rilke: Das Stunden-Buch) und der neunten Duineser Elegie ‒ ‹All is always now› (T.S. Eliot) ‒ Jeder Augenblick ist aufgehoben (ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben)
3. In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete diese beiden Sonette das Herzstück dieser vier intensiven Tage; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 140-148, 150-155
4. Das Sonett ‹Sei allem Abschied voran› in weiteren Vorträgen von Bruder David:
4.1. Audio 2.1, in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) und Mitschrift:
In diesem zum Video parallelen Vortrag geht Bruder David ab (19:53) näher auf den Mythos von Orpheus und Eurydike ein, siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56
4.2. Audio ‹Viertes Seminar im Rittersaal des Schlosses Goldegg›, in Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Augenblicke wach im Jetzt: Ergänzend: 2.2:
(12:06) Bruder David: «Und jetzt diese wunderbare Beschreibung des Lebens Augenblick für Augenblick hier auf dieser Ebene: ‹Hier unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige›: ‹der Tag hat sich geneiget›, es neigt sich hier alles schon zum Abend. Und die ursprüngliche Bedeutung von Trauer ist Neige ‒ die Trauerweide, die Trauerbirke, diese hängenden, sich neigenden Bäume ‒, im Namen für diese Bäume hat Trauer noch die ursprüngliche Bedeutung: Trauer ist, was uns neigt ‒ die Augen niederschlagen, den Kopf neigen ‒, und Trost ist, was uns aufrichtet. Trost kommt von dem Wort für Eichenbaum (das germanische Baumnamensuffix đr[a] ist noch bewahrt in Holunder, Wacholder und Flieder); der Trost ist die innere Kraft, sich aufzurichten. Trost spenden ist, jemandem diese Kraft geben. Das Reich der Neige ist das Reich der Trauer … Sehr schön, dass Trauer sich neigt und Trost sich aufrichtet.
(14:36) ‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, / sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug›: Das Glas klingt und zerbricht. In diesem Augenblick klingen und für diesen Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.
Das ganze Buch (Rilke: Die Sonette an Orpheus) ist eigentlich ein Trostbuch. Das erste Wort ist schon: ‹Da stieg ein Baum›: das ist der Trost: ein hoher Baum.
(15:30) ‹Sei immer tot in Eurydike … / Sei und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung …›: da ist das nicht so die Fülle, auf die wir so immer wieder angespielt haben, das zu ‹Sein› und ‹des Nicht-Seins Bedingung› zu wissen: das hängt übrigens auch engstens zusammen, mit dem wir gestern so gerungen haben: die Tapferkeit, die ein bisschen der Furcht voraus ist, und der Glaube, der ein bisschen dem Zweifel voraus ist: des ‹Nicht-Seins› Bedingung ist, was das Sein so seinsmächtig macht, so wie die darunterliegende Furcht, das Nicht-tapfer-sein, die Tapferkeit zu dem macht, was sie ist, und der Zweifel, das Nicht-glauben-können, den Glauben zu dem macht, was es ist.
(18:07) Aber Bedingung kann auch bedeuten, dass nur unter der Bedingung, dass wir das Nicht-Sein auch erleben, s i n d wir wirklich. Das ist auch die Bedingung für das wirkliche Sein; … dann hat auch Grund in der nächsten Zeile wieder diese Bedeutung …: Das kann entweder der Abgrund sein, der Abgrund des Nicht-Seins über dem das Sein schwingt, oder der Abgrund ist gerade der Grund, die Veranlassung für diese Schwingung, die Basis. Und das ist wieder dann die Fülle, die aus dem Nichts hervorquillt. Die Quelle ist ja nicht etwas ‒ wenn es fließt, ist es schon nicht mehr die Quelle, sondern der Bach ‒, die Quelle ist nichts, die Quelle – ich kann immer weiter zurückgehen, bis die Quelle eben nur den Anfang bedeutet.
(19:59) ‹Sei ‒ und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, / den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, / dass du sie völlig vollziehst
‹dieses einzige Mal›,
als ob dies das Einzige wäre, das du je in diesem Leben tun wirst, du tust es zum ersten Mal und zum letzten Mal. So sollten wir jede Türe aufmachen und jede Türe zumachen: wir tun das, als ob wir sicher wären, dass wir wieder durch diese Türe gehen ‒ keinen Beweis dafür. Nichts verpflichtet. So ein Tod, wie unsere verstorbene Andrea gestern, bringt uns das wieder zum Bewusstsein.[7] Wir wissen es nie und das ist gut für uns, denn dann vollziehen wir, was immer wir tun ‹dieses einzige Mal›: völlig ‒ v o l l ziehen.
(22:24) Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick für Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»
4.3. Audio ‹Verstehen durch Tun›, in Lebendige Spiritualität (2015)
(46:52) ‹Sei allem Abschied voran›
4.4. Vertrauen in das Leben (2014)
(42:12) ‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›]
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[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹33 ‒ Abschied›, 42
[2] Robert Bly (Hrsg.): Kabir: Ecstatic Poems, 2004; siehe auch Tod und Auferstehung
[3] Credo (2015): ‹Ewiges Leben›: ‹Persönliche Erwägungen›, 225-228
[4] Im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (44:44):
«Das Wichtigste scheint mir, im Augenblick zu leben, ganz gleich, wie alt man ist: Im Augenblick zu leben. Denn der letzte Augenblick wird auch ein Augenblick sein. Mir sind die Jenseitsvorstellungen nicht wichtig: Wir wissen es nicht.»
Johannes Kaup: «Du hast so schön geschrieben, dass du mit Eichendorff Skifahren gehen wirst?»
Bruder David: «Träumen darf man schon, solange man weiß: das stelle ich mir halt so vor, das wünsche ich mir halt so, dann ist das schon gerechtfertigt. Man mag sich ja nur hineindenken in eine Raupe, die einmal ein Schmetterling werden wird. Diese Raupe kann sich sehr schwer vorstellen, dass sie einmal herumfliegen wird, und ebenso wenig kann ich mir das Leben jenseits des Todes vorstellen. Das ist eine Zeitverschwendung. Es gibt soviel hier zu erleben: darauf sollte ich mich konzentrieren.»
[5] Rilke: Die neunte Elegie:
«Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? ‒ Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? ‒ Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen ‒, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.»
[6] Der Text ab (Video 06:16) ist der Transkription des Videoes Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) entnommen.
[7] Siehe ‹Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg›: (00:00) Eine Reporterin des ORF ist auf der Heimreise tödlich verunfallt.
Abschied, Wandlung, Aufheben
Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Möge ich immer bereit sein Abschied zu nehmen, immer bewusst, dass jede Ankunft ein Auftakt zur Abreise ist, jede Geburt ein Schritt hin zum Sterben und möge ich dadurch den Segen kosten, voll im Jetzt zu sein, da, wo ich bin.[1]
Weil alle Askese auf Bleibendes gerichtet ist, wir aber nur allzu gut um den Wandel wissen, der allem Sinnlichen eignet, ist das Wesensmerkmal sinnenfreudiger Askese ein freudig gehorsames Loslassen.
Jeden Augenblick des Lebens gilt es, sich daran zu freuen und ‒ loszulassen.
Wir aber haben Angst und fürchten uns davor.
Wir wollen uns im Bleiben verschließen. Das aber widerspricht dem großen Weltplan.
Die Choreographie des kosmischen Tanzes verlangt von uns den Willen zur Wandlung.
Das Planmäßige an der Askese entspringt ja nicht der Willkür menschlichen Planens, sondern letztlich dem Bauplan des Kosmos, der sich wandelnd entfaltet.
«Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.»(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)
Das Herz, das wirklich gehorsam hinhorcht auf den Rhythmus des großen Tanzes, steht immer am Wendepunkt, lässt leicht los, nimmt Abschied vorweg.
«Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.»(Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII)
Wir können hier nur die erste Strophe anführen. Man sollte aber in diesem Zusammenhang das ganze Sonett sorgfältig lesen. Worum es sich dreht ‒ in doppeltem Sinn ‒ ist der wendende Punkt.
Vergil stand an diesem Wendepunkt des Herzens. Er wusste, was Abschiednehmen heißt. Er konnte, Rachel Varnhagen sagt es so schön:
«durch Tränen des Abschieds die Welt anschauen.»
Durch diese Tränen hindurch glänzt jedes Lächeln «ewiger»; (Rilke wusste das).
Wer so die Welt anschaut, sieht im Bleibenden Wandel und im Wandel das Bleibende.
Dazu aber gehört jener zarte Humor der trotzdem lächelt, wenn er auch vielleicht nicht lacht.
«Am letzten Tag noch wird sie lachen,»
heißt es von der weisen Frau in der Bibel, wohl deshalb, weil sie gelernt hatte, immer wieder loszulassen. Uns weniger Weisen hilft Gott ein bisschen nach. Darum entfaltet sich die letzte Strophe von Eichendorffs Gedicht aus seiner ersten Zeile, wie aus einem Samen:
«Es wandelt, was wir schauen …
...
Du bist's, der, was wir bauen,
mild über uns zerbricht,
dass wir den Himmel schauen ‒
darum so klag' ich nicht.»
«Himmel» steht hier für das immer Bleibende, so wie der Mond (der Wandel und Bleiben vereint) in Ryokans Haiku.
Der Humor ist in beiden Gedichten gleich zart. Selbst die angedeutete Situation ist nicht unähnlich.
«DER DIEB VERGASS IHN.
ER HÄNGT JA NOCH IM FENSTER
VOLL UND SCHÖN, DER MOND.»
Ein anderer fernöstlicher Dichter schreibt im Alter ein Gedicht über das Ausfallen der Zähne ‒ auch das voll Humor.
Aber selbst Galgenhumor kann unversehens zur Rühmung werden, Rühmung, die umso reiner klingt, weil sie sich des Rühmens selbst kaum bewusst ist.
Christian Morgenstern beweist dies in seinen «Galgenliedern».
Angesichts der Aufhebung unserer Sinnlichkeit ist Humor deshalb trotzdem noch möglich, weil «nichts vergänglich ist, als die Vergänglichkeit.» ‒
«Trunken von Beständigkeit,»
stößt Werner Bergengruen mit dieser Einsicht tief in den Sinn des Sinnlichen vor.[2]
Damit stehen wir aber schon völlig
«im Raum der Rühmung,»
wie Rilke ihn nennt.
Rühmend hebt der Dichter das Sinnliche auf, indem er es erhöht, überhöht, übertrifft.
«Rühmen, das ist's! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergänglicher Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.»(Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, VII)
Das ist der Dichter, der das Sinnliche aufhebt und über den Wandel hinaushebt, indem er es zu Sinn verdichtet.
Wir dürfen aber den Begriff Dichter nicht zu eng fassen. Es gibt den Dichter in jedem von uns. Wir alle sind dazu berufen, das, was wir durch unsere Sinne empfangen, im Herzen aufzuheben.
Menschliche Berufung ist es, das Nur-Sinnliche ungültig zu machen, indem wir es rühmend über sich hinausheben, es aber zugleich in seiner ganzen vergänglichen Einmaligkeit im immer Bleibenden geborgen halten und verwahren.
Erinnerung ist es, die diese Aufgabe letztlich vollendet. Das Sinnliche, das im Humor gärt, klärt sich in der Dichtung und gewinnt seine volle Süße im Erinnern.
Wir müssen dem Wort «Erinnerung» hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innelichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.
«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
(R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz)
Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn.
Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern. «Alles Vollendete fällt heim zum Uralten.»
«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»(R. M. Rilke: Sonette an Orpheus Teil 1, XIX)
In diesem «Lied überm Land» liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.[3]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 3]
[Ergänzend:
1. «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der hegelsche Begriff ‹aufheben› ist für Bruder David ein wichtiger Schlüssel im Zusammenhang mit Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag: (08:27) und dem Thema Jetzt und ewiges Leben:
«Von dieser Mitte her können wir ‹in Fülle› leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.»
Im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009) trägt Bruder David ‹Sei allem Abschied voran› und ‹Wolle die Wandlung› (Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII und XII) vor und spricht, wie jeder Augenblick aufgehoben ist: ausgelöscht, bewahrt, in das Bleibende hinaufgehoben.
2. ‹Aufheben› ist auch das Schlüsselwort im Kapitel ‹Sinnlichkeit und christliche Askese› im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 80-99, dem der obige Text entnommen ist, wie auch Rühmen, Er-innern, Aufheben; Sterben und Wandlung; Altern: Ergänzend: 4.
3. Links zu weiteren Audios und Texten mit den Sonetten ‹Sei allem Abschied voran› und ‹Wolle die Wandlung› in Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 3.-4. und Anm. 3 und 6
4. Links zu Audios und Texten mit dem Sonett ‹Rühmen, das ist’s› und ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› in Rühmen, Er-innern, Aufheben: Ergänzend: 2.: Audios
5. Links zum Video und Audios mit dem Sonett ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› in Sterben und Wandlung: Ergänzend: 3.
6. Links zu Audios und Texten mit Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen› (Der Umkehrende, 4) in Fragen des Lebens: Haupttext und Ergänzend: 3.; Sterben und Wandlung: Haupttext und Ergänzend: 2. mit Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil IIDichtung, Teil II (2014), 93]
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[1] Blessings ‒ Segenswünsche deutscher Text zum Video Blessings ‒ Segenswünsche von Bruder David (2019)
[2] Werner Bergengruen: ‹Nichts Vergängliches vergeht› und ‹Magische Nacht›, in Die den Kurs begleitenden Gedichte, 37f. und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 110f.
[3] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›, 93-99
Achtsamkeit
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Vergegenwärtigen Sie sich achtsame Menschen: Sie sind fest in ihren Körpern verwurzelt. Sie sind in ihrem Körper lebendig. Aber es ist bezeichnend, dass wir dafür kein Wort haben und es einfach nur als achtsam im Sinn von geistig wach sein bezeichnen. Das weist darauf hin, dass etwas fehlt. Wenn in unserer Sprache ein Wort fehlt, dann fehlt damit auch eine Einsicht, nämlich in diesem Fall die Einsicht, dass volles Lebendigsein volles geistiges und auch körperliches Wachsein umfasst, und dass hier von diesem vollen Lebendigsein die Rede sein soll.
Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an der Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: «Der Mensch kann nicht viel Realität aushalten.» Aber in verschiedenen Graden können wir die Realität aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Realität auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Realität zu kommen, mit der ganzen Realität, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen. [Auf dem Weg der Stille (2016) 68f.]
Im Kloster wird Zeit und Raum so eingeteilt, dass die Achtsamkeit gefördert wird; mit Bewusstsein und im Gefühl des Segens. Nahrung zuzubereiten und zu essen ist eine grundlegende Tätigkeit, um die Achtsamkeit in unseren Alltag einzufügen. Unsere Brüder in buddhistischen Klöstern singen: «Unzählige Arbeiten waren nötig, um uns dieses Essen zu bescheren; wir sollten wissen, wodurch es uns geschenkt wurde.» Und sie fahren fort: «Wir wollen uns fragen, ob unsere Tugend und Übung diese Nahrung verdienen.» Wir essen, um dienen zu können; wir ernähren uns, um anderen zu Diensten sein und in irgendeiner Form weiterzugeben, was wir bekommen haben.
Wenn wir den Segen des Lebendigseins erkennen, entspringt daraus ganz spontan eine demütige Haltung, ein nützlicher, praktischer Dienst und Sorgfalt in Einzelheiten. Das ist auch etwas, was wir in jeder Lebenslage üben können. Das eine bedingt und fördert das andere: Wenn wir uns liebevoll um Einzelheiten kümmern, die uns so leicht entfallen, während wir uns auf die scheinbar großen Dinge konzentrieren, dann entsteht eine Haltung der Sorgsamkeit und Zärtlichkeit. Wir müssen ohnehin kochen und putzen, also können wir es genauso gut liebevoll und sorgsam tun.
[ST 12, Quelle: MS 5) 85f.]
Jeder wirklich achtsame Mensch erkennt, dass alles ein Geschenk ist. Niemand schuldet es uns, wir haben es nicht gekauft und haben nicht dafür bezahlt. Es ist kostenlos, und wir reagieren mit Dankbarkeit auf diese kostenlose Wirklichkeit.
Es hilft, täglich wenigstens eine Überraschung wahrzunehmen, irgend etwas, was überraschend und unvorhergesehen ist. Vielleicht ist es das Wetter, vielleicht ein Anblick, auf den wir aufmerksam werden. Es kann ein angenehmes oder ein unangenehmes Ereignis sein. Wenn wir unser Herz öffnen, um etwas Überraschendes hineinzulassen, wird es uns immer klarer, wie viele Überraschungen jeder Tag enthält, und mit der Zeit erkennen wir, dass wir in einem Universum leben, das irgendwie zu uns spricht. Wenn wir das erst einmal erkannt haben, hören wir ganz selbstverständlich hin, weil wir die Botschaft hören wollen.
[ST 13, Quelle: SW 102]
[Ergänzend:
1. ACHTSAMKEIT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 128:
«Achtsamkeit ist das Gegenteil von Zerstreutheit, bedeutet eine Haltung erhöhter Aufmerksamkeit und aufgeweckter, aber entspannter Konzentration. Während jedoch Konzentration typisch unsre Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt verengt, erweitert die Achtsamkeit ihren Bereich ins Grenzenlose.
Der Dichter T. S. Eliot kennzeichnet dieses Paradox als ‹Konzentration ohne Ausblendung›.[1]
Es ist aber nicht genug, nichts auszublenden, sondern wir müssen bewusst unser Gegenüber einblenden, sonst zeigt sich nämlich in der Praxis, dass wir dazu neigen, uns auf uns selbst zu konzentrieren.
Achtsamkeitsübungen, so wichtig und hilfreich sie sein können, sind nicht selten überwiegend selbstbezogen. Dadurch gleitet manches, was sich fälschlich Achtsamkeit nennt, in Selbstbespiegelung ab.
Echte Achtsamkeit zeigt sich uns in Menschen, die für ihr jeweiliges Gegenüber wach und zum Dialog bereit sind.»
2. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014) klärt Br. David gleich zu Beginn die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit und Dankbar leben. Er beobachtet ‒ seit «Achtsamkeit» in aller Munde ist ‒ eine Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs in Richtung auf «meine» Wünsche und Bewertungen und nicht mehr auf: «Wovon werde ich jetzt beeindruckt?» «Welche Gelegenheit bietet mir jetzt das Leben?»]
_______________________
[1] «Concentration without elimination …»
T. S. Eliot: «Four Quartets»: «Burnt Norton», II, ebenfalls zitiert in: Auf dem Weg der Stille (2016), 60f. und in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 44 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 42]: «Konzentration, die nichts ausgrenzt.»
Achtsamkeit üben
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen.
Wie soll das praktisch aussehen? Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?
Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen. Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.
Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt.
Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.
[Auf dem Weg der Stille (2016) 88f.]
Allein ‒ All-Eins
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen einen Augenblick gewählt haben, in dem Sie allein waren ‒ ein Augenblick allein in Ihrem Zimmer, beim Strandspaziergang, im Wald oder vielleicht auf einem Berggipfel. In einer dieser Erfahrungen stellen Sie fest, dass Sie, obwohl Sie allein waren ‒ und, paradoxerweise, nicht obwohl Sie allein waren, sondern gerade weil Sie in diesem Augenblick so allein waren ‒ mit allem und jedem vereint waren.
Wenn es keine Menschen um Sie herum gab, mit denen Sie sich vereint fühlen konnten, dann waren es die Bäume oder die Felsen oder die Wolken oder das Wasser oder die Sterne oder der Wind oder was auch immer. Es fühlte sich an, als dehne sich Ihr Herz aus, als ob Ihr Wesen ausgedehnt würde, um alles zu umarmen, als ob die Schranken auf irgendeine Weise heruntergerissen oder aufgelöst worden wären, und Sie mit allem eins wären.
Sie können das im Nachhinein überprüfen, indem Sie feststellen, dass Sie keinen Ihrer Freunde auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung vermisst haben. Einen Augenblick später mögen Sie vielleicht gesagt haben: «Ach, ich wünschte, der-und-der könnte jetzt hier sein und diesen herrlichen Sonnenuntergang erleben, oder könnte dies sehen, oder diese Musik hören.» Aber auf dem Gipfel Ihrer Gipfelerfahrung haben Sie niemanden vermisst, und der Grund dafür liegt nicht darin, dass Sie alle anderen vergessen hätten, sondern dass die anderen bei Ihnen waren, oder Sie bei den anderen. Weil Sie mit allem eins waren, war es sinnlos, irgend jemanden zu vermissen.
Wenn man so will, hatten Sie den Mittelpunkt erreicht, von dem die religiöse Tradition manchmal spricht, und in dem jeder und alles zusammenschmelzen.
Nun gut, es ist also ein Paradoxon, dass ich, wenn ich am stärksten allein bin, eins mit allem bin.
Man kann das auch umdrehen:
Manche von Ihnen haben vielleicht an eine Erfahrung gedacht, in der ein Teil der Gipfelerfahrung gerade darin bestanden hat, dass Sie sich innerhalb einer riesigen Menschenmenge mit allen eins fühlten. Das war vielleicht eine liturgische Feier, vielleicht aber auch ein Friedensmarsch, ein Konzert oder ein Theaterstück ‒ irgendeine Versammlung, in der ein Teil Ihrer überströmenden Freude darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, alle seien ein Herz und eine Seele, und jeder mache dieselbe Erfahrung. Übrigens mag das objektiv gar nicht gestimmt haben. Es ist möglich, dass Sie der Einzige waren, der in einer solchen Stimmung war, aber Sie haben es so erfahren als ob es jeder genauso empfände.
In diesem Fall drehen wir das Paradoxon um:
Wenn man mit allen am meisten eins ist, ist man auch wirklich allein.
Sie sind plötzlich herausgehoben, als ob jenes besondere Wort des Redners (falls es ein Vortrag war, der dies bewirkte) an Sie persönlich gerichtet gewesen wäre, und fast werden Sie rot. «Warum spricht er über mich? Warum wählt er mich dafür aus?»
Oder: «Diese Passage einer bestimmten Symphonie ist für mich geschrieben, für mich komponiert worden und wird für mich aufgeführt; was für eine wunderbare, vollkommene Aufführung ‒ und alles für mich, jetzt und hier!» Sie sind auserwählt; Sie sind völlig allein. Und wir erkennen, dass das kein Widerspruch ist.
Wenn man wirklich allein ist, ist man eins mit allem ‒ schon das Wort «allein» spielt darauf an. Es mag vielleicht nur eine Gedächtnisstütze sein, sich das zu merken, aber es kann auch mehr dahinterstecken ‒ all-ein, eins mit allem, wirklich allein. [Der Mönch in uns (1978)]
[Ergänzend:
1. Die Achtsamkeit des Herzens (2021):
«In dem bewussten Augenblick waren Sie, in einem tieferen Sinn, allein. Nicht, dass Sie sich damals darüber Gedanken gemacht hätten, aber rückblickend stellen Sie fest, dass das Wort ALLEIN passt, selbst wenn Sie sich inmitten einer Menschenmenge befanden. In einem gewissen Sinn waren Sie ‹der oder die Einzige›. Nicht nur in dem Sinne von auserwählt sein, sondern, und das ist noch wichtiger, im Sinne von wirklich dort sein, wo Sie sind, aus einem Stück: ‹all-eins›.
Genau dann, als Sie all-eins mit sich selbst waren, fühlten Sie sich innig vereint mit allem. Ihr tiefes Alleinsein fand seine Entsprechung in grenzenloser Verbundenheit. Tatsächlich handelt es sich um zwei Aspekte derselben Erfahrung. Und auch hier kommt es nicht darauf an, ob Sie äußerlich allein oder inmitten einer Menschenmenge waren. Selbst auf einer einsamen Insel, weit entfernt von anderen menschlichen Wesen, könnten Sie vom Bewusstsein tiefer Verbundenheit überwältigt worden sein. Auch beschränkt sich diese Zugehörigkeit nicht auf Menschen. An diesem Schmelzpunkt war Ihr innerstes Wesen mit allem vereint: mit dem Duft wilden Thymians auf der Wiese in der Dämmerung; mit dem plötzlichen Aufleuchten eines Winterblitzes, der Stimme des Wasserfalls oder einer Krähe. Sie waren allein, all-eins, eins mit allem.» [ST 55; AH 1-2) 108f.; 3-5) 105]
2. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung paradox wahrnehmen und ausdrücken:
«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins.»
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben»: Ja-sagen
Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger; siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981)
3. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Audio: Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:
(03:01) Ich bin allein und dennoch mit allen und allem verbunden oder ich bin in Gemeinschaft und zugleich allein, ganz persönlich angesprochen — Gotteserfahrung muss paradox sein, weil in Gott sich alle Widersprüche treffen]
Altern
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Altern war mein Schicksal, jetzt ist es Aufgabe ‒ ein gesegnetes Schicksal und eine nicht ganz leichte Aufgabe. Unter den Gaben des Altwerdens bin ich vor allem für meine Gesundheit dankbar ‒ ein unermessliches Geschenk. Dann für die unzähligen Begegnungen in all diesen Jahren ‒ die erinnerten und die vergessenen; sie alle haben mich geformt. Und wenn ich an die Erlebnisse denke, zu denen diese vielen Jahre mir Zeit schenkten, dann bin ich überwältigt von Dankbarkeit.
Jetzt gilt es, die Erinnerungen zu sichten. Schenk ihnen, ich bitte Dich, noch sonnige Herbsttage, in denen sie zur vollen Süße ausreifen können.[1] Lass mich alles, was mich drückt, vertrauensvoll Deiner Vergebung übergeben, alles Schöne noch einmal lange und dankbar betrachten und dann loslassen. Von allem Beschwerlichen des Alterns lass mich die Augen aufheben zum ‹Morgenglanz der Ewigkeit›. Amen».[2]
Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»
Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.
Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.
Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»
Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»
Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?
Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»
Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.»
Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»
Bruder David: Wie Augustinus sagt:
«Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.»[3]
Als junger Mann wanderte ich bei einem meiner ersten Besuche in New York City eines Abends die 5th Avenue aufwärts und schlenderte an der 59th Straße in den kleinen Zoo hinein, den es damals an dieser südöstlichsten Ecke des Central Parks gab. Den Zoo besuchten vor allem Kinder und um diese Zeit war ich alleine hier. Doch plötzlich fühlte ich eine mächtige Gegenwart, blickte auf und sah einen Gorilla auf dem Dach seines Häuschens sitzen. Der massige Klotz schien sich in der Dämmerung riesig aufzutürmen und doch saß er gebeugt und wie trauernd da. Beim Näherkommen konnte ich in seine Augen schauen, aber es schien mir, dass er mich kaum wahrnahm und seine Gedanken weit weg irgendwo wanderten. Er war alt, vielleicht sehr alt. Ich kann nicht sagen, wie lange wir so Auge in Auge verweilten, aber ich weiß, es war eine ganze Zeit lang. Lange genug, um mir etwas mitzuteilen über das Altwerden, eine Ahnung, so tief, dass ich sie immer noch nicht völlig ausgelotet habe, auch nicht in diesem bisher letzten Jahrzehnt meines Lebens ‒ ich sage «bisher», denn ich habe gelernt, mit Überraschungen zu rechnen, und weil es eben noch Geheimnisse gibt, die aufs Ausloten warten.
In diesem Lebensabschnitt gerät das Senklot meines ahnenden Nachdenkens immer wieder in Tiefen, in denen ich ein Schlüsselwort Rilkes hilfreich finde; der Dichter spricht vom Doppelbereich:
«Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e d a s B i l d.Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.»[4]
Auf vieles lässt sich dieses Bild anwenden, und dabei erscheint es mir besonders wichtig, nicht zu vergessen, dass der Doppelbereich eine untrennbare Einheit ist, auch wenn mein Denken seine beiden Aspekte immer wieder auseinanderreißen möchte. Unterscheiden ‒ ja; trennen ‒ nein!
Aufs Ganze zu schauen, es so umfassend wie möglich zu sehen und nicht zu erlauben, dass es in meiner Vorstellung auseinanderfällt ‒ das sehe ich als meine große Aufgabe beim Altwerden.
T. S. Eliot weist auf die Schwierigkeit hin:
«Ich will dir zeigen, was das Alter bringt ...
Da Leib und Seele auseinanderfallen.»[5]
An manchen Tagen scheint es wirklich, als ob alles im Begriff wäre, auseinanderzufallen: Das Dinkelweckerl fällt mir in den vollen Suppenteller und bespritzt die weiße Kutte von oben bis unten mit Kürbissuppe und Kernöl ‒ schwarz und gelb in den kaiserlichen Farben.
Ist das meine «zweite Kindheit»? Aus meiner ersten weiß ich, weil meine Mutter es mir lachend erzählte: Als ich zum ersten Mal einen Teller voll Spinatsuppe vor mir auf dem Tisch sah, war ich so begeistert vom Grün, dass ich beide Hände in die Suppe tauchte und mich von oben bis unten damit anmalte. Auch jetzt lachen die Brüder verständnisvoll bei meinem kleinen Unfall im Refektorium und schlagen vor: «Vielleicht darf man das ‹Aktionskunst› nennen.» Das ist jedenfalls eine positivere Interpretation, als vom Auseinanderfallen zu sprechen.
Warum liegt denn überhaupt der Gedanke nahe, dass beim Altwerden und Sterben Leib und Seele auseinanderfallen?
Weil ich mir einerseits bewusst bin, dass meine Seele, mein Selbst, im Jetzt lebt, also nicht in der Zeit gefangen ist, andererseits aber mein Leib einen Anfang hatte bei meiner Empfängnis und seinem Ende zugeht, das täglich näher kommt.
Durch meinen Leib bin ich also an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand.
Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich und selbst. Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.
Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.
«Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt,»[6]
sagt der Dichter. Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.[7]
«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:
‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[8]
Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.
Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[9]
In seinem berühmten Gedicht «Sailing to Byzantinum»[10] sagt Butler Yeats, ein alter Mann sei eine jämmerliche Vogelscheuche,
«… wenn nicht die Seele klatscht und singt und lauter singt
für jeden Riss im sterblichen Gewand.»
Das versuche ich zu tun, so oft wieder etwas in Fetzen geht am «sterblichen Gewand», und klatsche dankbar allen Körperteilen und Organen Beifall, die noch funktionieren. So wird das, wofür ich dankbar sein kann, täglich mehr.
«Mein Becher fließt über» (Psalm 23,5).
Es wird mir immer klarer bewusst: Dankbarkeit ist Feste feiernde Liebe.
Wie Liebe das gelebte Ja freudiger Zugehörigkeit ist, so feiert Dankbarkeit das Leben durch ein freudiges Ja an jedem Knoten des großen Netzwerks, in dem alles mit allem zusammenhängt.
Je überzeugter wir dieses Ja leben, desto sommerlicher reift die Liebe in uns und um uns.[11]
Ein großer Denker ‒ Otto Mauer ‒, ein Wiener Priester, Mitte des 20. Jh., hat das wunderschön ausgedrückt:
‹Der Mensch stirbt nicht am Tod, sondern an ausgereifter Liebe›.[12]
Also das ist die Aufgabe des ganzen Lebens: die Liebe ausreifen zu lassen.»[13]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 7, 9, 11, 13]
[Ergänzend:
1. Video Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 13:
Isha Johanna Schury: «Ja, diese Energie des Lernen Wollens, das ist auch ein Geschenk, ich trage das ganz stark. Deswegen hatte ich auch den Impuls für diesen ÄLTESTENRAT-Kongress, weil ich es wunderschön finde, von dieser Weisheit und von dieser Erfahrung lernen zu dürfen. Da wohnt so viel ‒ großes Geschenk für mich drin. Viele von uns haben so das Gefühl, sie müssen nichts mehr lernen, sie wissen schon alles, aber lernen ist doch eine große Freude und trägt mich schon ein ganzes Stück weiter.»
David Steindl-Rast: «Ich war noch ein recht junger Mann, als ich eines Abends in New York City in einen kleinen Zoo hineingewandert bin ‒ damals hat es den Zoo noch gegeben, den gibt es heute nicht mehr, das muss eine Art Kinderzoo gewesen sein im Central Park. Da war kein Mensch drinnen, es war eben Abend, kurz vor dem Absperren ‒ stell ich mir vor. Da ist auf dem Dach seiner Hütte ein Orang-Utan gesessen. Der ist nur so dort gesessen und ich bin lange Zeit vor dem gestanden. Der hat mir eine Weisheit übermittelt, die mir für das ganze Leben wichtig war. Ich kann es natürlich nicht in Worte fassen, aber das war ein weises altes Lebewesen. Dafür bin ich immer noch dankbar. Das ist mindestens schon … 60 oder 65 Jahre her.»
Isha Johanna Schury: «Wunderschön, wunderschön. Diese Weisheit strahlt einfach, die so ein älteres, gelebtes, erfahrenes Wesen in sich trägt. Und so Vieles kann man nicht mit Worten ausdrücken, was einfach die Worte übersteigt.»
2. Widersprüche in ein Sinnbild fassen:
Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (28:48) und Text in Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32, siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild:
«Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?»
3. Wirklich werden:
Musik der Stille (2023), 27; siehe auch: Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 2. ‹Die Tagzeiten›:
«Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›[14]. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
‹Tut Wirklichwerden weh?›
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
4. Sich erinnern:
Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,97f.; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben:
«Wir müssen dem Wort ‹Erinnerung› hier seine volle Bedeutung zurückgeben. Er-innerung ist Ver-innerlichung, Sinnernte unserer Sinnlichkeit ‒ Einbringung, Verwandlung.
Rilke schreibt in seinem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, 13. November 1925:
‹So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden.
Verwandelt?
Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht.
Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.
Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible: Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenkorb des Unsichtbaren anzuhäufen.›
Kennen wir nicht dieses selbstvergessene Blütensaftsaugen aus der tiefsten Erfahrung unseres eigenen Lebens? So verwandelt unser Herz das Sinnliche unseres wachsten Erlebens und birgt es in seiner großen, goldenen Honigwabe als Sinn. Darum wird beim Altwerden jedes Weihnachtsfest reicher, gewichtiger, schwerer und süßer, weil Freude und Traurigkeit aller vergangenen Weihnachtsfeste von frühester Kindheit an im Erleben mitschwingt; weil in der Erinnerung Altes und Neues einander bereichern.
5. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen:
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual …
(36:58) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX)
Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Sinnlichkeit und christliche Askese›,98f.:
«Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.»
R. M. Rilke: Sonette an Orpheus Teil 1, XIX
«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.»[15]]
___________________
[1] ‹Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiel den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.›
R. M. Rilke: ‹Herbsttag›
[2] Erwachende Worte (2023): ‹Altern›, 99
‹Morgenglanz der Ewigkeit
Licht vom unerschaffnen Lichte,
schick uns diese Morgen-Zeit
deine Strahlen zu Gesichte,
Und vertreib’ durch deine Macht
unsre Nacht.›
Erste Strophe aus dem Kirchenlied von Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689) im heutigen Sprachgebrauch
[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich ‒ ‹9. Dialog, 193; siehe auch Jetzt im Doppelbereich
[4] Rilke: Sonette an Orpeus 1. Teil, IX
[5] ‹Let me disclose the gifts reserved for age
To set a crown upon your lifetimes’s effort.
First, the cold friction of expiring sense
Without enchantment, offering no promise
But bitter tastelessness of shadow fruit
As body and soul begin to fall asunder.›
T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, II
[6] Siehe auch Jetzt im Doppelbereich, Anm. 1 und Audio zu Beginn von Kreuz ‒ Sinnbild:
‹Stimme eines jungen Bruders
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›
R. M. Rilke, Das Stunden-Buch
[7] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 180-182
[8] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie
[9] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35; siehe auch dieses Gebet am Ende des Haupttextes in Doppelbereich Ich-Selbst
[10] ‹An aged man is but a paltry thing,
A tattered coat upon a stick, unless
Soul clap ists hand an sing, and louder sing
For every tatter in tis mortal dress …›
W. B. Yeats: Sailing to Byzantium
[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich›, 186
[12] Siehe auch Sterben und Tod: Ergänzend: 1.
[13] Video Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 8
[14] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106, und Erlösende Kraft, Anm. 4:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[15] Siehe auch dieses Sonett im Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975)
(08:59) vorgetragen von Ellinor Jensen; siehe auch Transkription
Andacht
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind. Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel. Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleichwie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.
Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten. Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. Auf das Gebet angewandt könnte dies bedeuten, jeden Mundvoll genauso aufmerksam zu essen und zu trinken, wie wir jene erste Tasse Kaffee trinken. Und bald schon entdecken wir, dass Essen und Trinken Gebet sein kann. Wenn wir «ohne Unterlass beten» sollen, wie könnten wir da beim Essen und Trinken mit dem Beten aufhören?
[ST 16f., Quelle: FN 1) 42f.; 2-3) 45]
Anfängergeist
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Johannes Kaup: «Im Buddhismus gibt es eine zentrale Haltung, die man als Anfängergeist beschreiben könnte. Das ist im Englischen mit beginner's mind ein etwas missverständlicher Ausdruck, weil man meinen könnte, hier ginge es um den Gegensatz von unerfahrenen Schülern und erfahrenen Lehrern. Was ist dieser Anfängergeist, der auch für Sie sehr wichtig wurde?»
Bruder David: «Wer Anfängergeist hat, erlebt zum Beispiel jeden Tag so, als ob es der erste Tag wäre.
Mit Anfängergeist putzt man sich jedes Mal die Zähne so, als ob man sich noch nie die Zähne geputzt hätte.
Wenn man es einmal praktisch versucht, sieht man erst, was das für einen Unterschied im Leben macht. Wie interessant plötzlich alles wird, wie lebendig. Man bemerkt Dinge, die man vorher nie bemerkt hat. Darum sprechen buddhistische Lehrer vom typischen Dahinleben als einem Schlafwandeln. Ein schlafwandelnder Mensch wandelt eben durch die 24 Stunden des Tages dahin, aber ein wacher Mensch erlebt das Leben in voller Lebendigkeit. In diesem Sinn wach zu sein heißt, mit Anfängergeist zu leben. Bin ich nicht immer Anfänger? Ich habe ja diesen jeweils neuen Tag noch nie erlebt.»
Johannes Kaup: «Dieses Gespräch auch noch nicht. Wir haben schon ein paarmal miteinander gesprochen und es ist immer wieder neu. Wir fangen etwas Neues an, erkunden noch Unerhörtes. Ich jedenfalls komme mir auch immer wieder wie ein Anfänger vor.
Bruder David: «Das ist gut, das müssen wir beide ...»
Johannes Kaup: «… aus einem frischen Geist tun. Man könnte auch sagen, es geht darum, die Dinge von ihrem Ursprung her immer wieder neu und tiefer zu verstehen. Man versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, zur Quelle zu gehen und nicht die fixierten Begrifflichkeiten, die Vorurteile, die gedanklichen Einbahnen, die Meinungen über Menschen und Sachen als Schablone zu übernehmen, sondern diese zurückzustellen und einzuklammern.»
Bruder David: «Jede Benennung ist schon eine Verallgemeinerung und sozusagen eine Ablage in irgendeiner Schublade. Solange ich etwas nicht benenne, bleibt es reines Erlebnis. Auch das gehört zum Anfängergeist: Ich habe noch keinen Namen dafür.
Wenn ich es benenne, erlebe ich es gar nicht so richtig, sondern der Name kommt zwischen das, was ich tue, und mein lebendiges Erleben. Es wird zur Gewohnheit.
Die Rabbiner sagen: Die Gewöhnung ist das eigentliche Exil.
Was war das eigentliche Exil? War es, in Babylon zu sein oder in Ägypten? Nein. Sie antworten: Das eigentliche Exil besteht darin, dass man sich daran gewöhnt. Das Exil ist die Gewöhnung.[1] Sobald wir uns an etwas gewöhnen, erleben wir es nicht mehr mit Anfängergeist, sondern sind im Exil.»
Johannes Kaup: «Ich möchte das doch noch mit dem Gedanken von vorhin in Verbindung bringen. Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»
Bruder David: Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.
Wenn wir im Augenblick leben, wird er für uns taufrisch und überraschend.
Diese Einsicht steht wohl auch hinter dem großen Versprechen Gottes in der Apokalypse: ‹Siehe, ich mache alles neu› (Offenbarung 21,5).
Wenn wir bewusst in Gott leben und weben und sind, dann wird alles jeden Augenblick neu.
Es meint nicht: An einem gewissen Punkt der Geschichte werde ich alles erneuern und von da an beginnt es wieder zu altern, nein. Vielmehr: Sieh her! Wach auf! Jeden Augenblick mache ich alles neu. Das ist das große Versprechen. Eigentlich gibt es also gar keine Wiederholung.»
Johannes Kaup: «Es ist paradox: Wir leben aus einer Quelle, die sich ständig schenkt. Zugleich zieht sich der Grund dieser Quelle zurück, ist nicht sichtbar und fassbar. Das beschreibt gut die Situation, in der wir leben. Wir können das unergründliche Geheimnis Gott nicht festhalten. Aber aus dem Anfängergeist heraus können wir entdecken, dass sich uns ständig etwas neu schenkt.»
Bruder David: «Der Quellgrund, der hinter dem Herausquellen liegt, ist ja noch nicht Quelle. Anfängergeist achtet jeden Augenblick auf das Herausquellen, auf den Ur-Sprung.»[2]
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das TAO. Watercourse Way nennt Alan Watts das TAO auf Englisch. Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden.
Um mit dem TAO zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum ‹Anfängergeist› des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt. ‹Du hast noch kein Ich, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet›, wie Alan Watts es ausdrückt. ‹Deshalb geschieht Dir auch nichts. Es geschieht einfach.› Du nimmst teil, sagt er an ‹den wundervollen Tanzfiguren … fließenden Wassers›.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im ‹Fließweg›. Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby ‹geschieht einfach› das Lebensbejahende, aber mit unsrer Zustimmung. Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.»[3]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f.)
[Ergänzend:
1. Musik der Stille (2023), S. 53:
«Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. Diese erfrischende Haltung, Dinge immer wieder neu zu betrachten, nennen buddhistische Mönche ‹Anfängergeist›.
Gelegenheit, diese Haltung einzunehmen, ist nicht nur Mönchen vorbehalten, sie ist allen zugänglich. Wie Rilke im Stunden-Buch sagt: ‹Nichts war vollendet, eh ich es erschaut.›[4] Niemand hat je gesehen, was ich sehe, weder mit meiner ganz eigenen Anschauungsweise noch von meinem ganz persönlichen Standpunkt aus. Ich bin Schöpfer eines jeden neuen Tages. Mir ist Gelegenheit gegeben, alles in diesem neuen Licht zu betrachten, und als der einmalige Mensch, der ich bin, dies zu würdigen und darauf zu antworten.»
2. ‹Es nicht benennen›:
2.1. Schmecken, Ahnen, Weisheit:
«Wir meinen etwas schon zu kennen, nur weil wir ihm einen Namen gegeben haben. Wenn wir uns aber dem Schmecken einmal wirklich hingeben, dann wird uns ‹langsam namenlos› im Munde.»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(55:40) ‹Voller Apfel, Birne und Banane› (R. M. Rilke, Die Sonette 1. Teil, XIII):
‹Wo sonst Worte waren, fließen Funde›: ‹Worte: das sind Begriffe ‒ Funde sind Ergriffenheit›
(58:41) Bruder David liest das Gedicht noch einmal
2.2. Riechen, Düfte, Erinnerung:
«Solange man dem nicht einen Namen gegeben hat, war es ein großes Erlebnis. Und dann sagt man ‹pille› (‹bitter›) und aus ist es, abgestempelt. Aber solange man nicht benennt, hat es einen ungeheuren Effekt. Und so ist es auch nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit dem Geruch. Und das sollte man immer wieder mal ausprobieren: nicht benennen: ‒ erleben!»
Audio Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(43:44) ‹Der Duft› (Rilke, aus dem Nachlass) – ‹Rose, du thronende› (Rilke, Die Sonette 2. Teil, VI)
2.3. Stille zulassen:
«In einem Kloster, das ich besuchte, trieb das Kreischen der Kreissäge beim Nachbarn eine der Schwestern buchstäblich die Wände hoch. ‹Wie kann denn so ein Geräusch Gabe Gottes sein?› Mein Vorschlag war: nur hinhorchen; nicht benennen. Und in diesem Fall wirkte es. ‹Ich hab's versucht›, berichtete die Schwester nach ein paar Tagen, ‹und was ich da hörte, klang wie die Stimme eines Erzengels!› Zwar verstehe ich mich nicht auf die Unterscheidung von Engelstimmen, aber ich glaube, mir würde schon die Stimme eines ganz gewöhnlichen Engels genügen.»
Audio Wie wir sinnvoll leben können in der Advents- und Weihnachtszeit (2011)
Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch:
(13:52) Wie wir Stille finden können, wenn Lärm und Geräusche uns stören / (17:47) Die Tiefe des menschlichen Herzens, diese Tiefe liegt hinter allem: diese sehr tiefe Traurigkeit, die gehört dazu, und das Heimweh der Menschen liegt am Grund von allem Lärm]
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[1] Siehe auch Sakramentales Leben: ‹Der Name unseres Exils ist nicht Babylon oder Ägypten, sondern Gewöhnung.›
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 103-105
[3] Orientierung finden (2021): ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 88f.]; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.
[4] ‹Da neigt sich die Stunde und fasst mich an›: Das Gedicht, mit dem Rilke das Stundenbuch eröffnet, in Sehen ‒ schöpferisches Schauen, Sinn und Feier, Anm. 2, Stop ‒ Look ‒ Go, Anm. 2
Angst
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 00:00) Geburt gilt überall in der Welt als ein freudiger Anlass; und sie ist es auch. Aber wir wollen nicht vergessen, um welchen Preis diese Freude erkauft werden muss, was beide, die Mutter und auch das Neugeborene, da durchleiden müssen.
Nachdem meine arme Mutter mit mir als Erstgeborenem mehr als 24 Stunden lang in Wehen lag, bis ich dann (nicht mit dem Kopf, sondern mit der rechten Hand zuerst) ans Tageslicht kam, hat das sicher auch mich allerhand gekostet und hat mein Lebensgefühl wohl entscheidend geprägt. Aber wir haben’s geschafft.
Ja, alle von uns dürfen rückschauend sagen: «Wir haben’s geschafft!» – rückschauend nicht nur auf unsere Geburt, sondern auf jede Lebenslage, die uns in die Enge trieb und uns Angst machte.
Angst und Enge sind ja im Deutschen wurzelverwandte Wörter und sicher nicht zufällig; unser menschliches Urerlebnis von Angst ist ja die Enge des Geburtskanals. Durch diese Enge gehen wir aber noch mit instinktiver Bereitschaft hindurch; erst später müssen wir mühsam erlernen, uns auf jede Angst so furchtlos einzulassen, wie uns das bei unserer ersten Angst spontan gelang.
Furchtlos ist da das entscheidende Wort.
Angst ist im Leben unvermeidlich; zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen:
Furcht sträubt sich gegen die Angst (und bleibt so in der Enge stecken); Mut lässt sich voll Vertrauen auf die Angst ein (und findet so den Weg ins Weite). Mut nimmt dabei die Angst nicht weg; im Gegenteil: Wer nicht Angst hat braucht ja keinen Mut und hat auch keinen.
Wer aber mitten in der Angst aufs Leben vertraut, den führt das Leben durch jede Angst zu einer neuen Geburt. Zum Beweis genügt es, wenn wir zurückblicken auf die Engpässe unseres Lebens: Je drückender die Beängstigung, umso strahlender das überraschend Neue, das daraus hervorgeht. Es hilft mir, mich immer wieder daran zu erinnern.
Erinnerung an diese Lebenserfahrung kann uns allen helfen, besonders in Zeiten einer «großen Bedrängnis, wie sie nicht war vom Anfang der Welt bis jetzt.» (Mt 24,21).
Ja, Ängste bedrängen uns von allen Seiten und sie zu leugnen, wäre selbst Ausdruck eines furchtsamen Sträubens gegen nüchternes Hinschauen auf die gegebene Welt.
Was wir dennoch feiern dürfen ist unser Lebensvertrauen und den Lebensmut, der daraus aufblüht «mitten im kalten Winter.»
Das Kind, mit dem unsere Welt in Wehen liegt, ist eine ganze Menschheit mit neuem, höherem Bewusstsein. Diese Neugeburt verantwortungsbewusst und bereitwillig durchzustehen, darum geht es.
In großer Hoffnung auf das überraschend Neue, das nicht ohne unsere äußerste Anstrengung geboren werden kann und doch reines Geschenk ist, grüße ich Euch, Herz zu Herz, Euer Bruder David.
[Adventsbrief 2015; nachgesprochen auch als Video (2020)]
[Ergänzend:
1. ANGST, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 129f.:
«Angst und Furcht sind zwei Wörter, die im sorgfältigen Sprachgebrauch nicht verwechselt werden sollten.
Angst lässt sich im Leben nicht vermeiden. Sie ist die unwillkürliche Reaktion auf Bedrohliches und löst körperliche Veränderungen aus. Dazu gehört ein Gefühl der Enge und Beengung in Brustkorb und Kehle. Diese Enge ‒ im Lateinischen «angustia» ‒ gibt der Angst ihren Namen.
Wir können nun durch die Bedrohung, die Angst auslöst, mutig hindurchgehen; wir können aber auch innerlich Widerstand leisten und uns innerlich sträuben.
Das Sträuben gegen die Angst heißt Furcht.
Was den Unterschied zwischen den beiden ausmacht, ist das Lebensvertrauen, auf das der Mut sich stützt.
Denn der Furcht fehlt Vertrauen.
Das Urerlebnis von Angst ist die Geburt. Die Ur-Enge, durch die wir hindurchmüssen, ist der Geburtskanal. Was wir als Embryo bei der Geburt instinktiv tun, das verlangt das Leben von uns immer wieder: dass wir uns dem Fließweg des Lebens anvertrauen. Sooft wir das tun, führt uns die Angst zu einer neuen Geburt. Wir dürfen dies selbst von der Todesangst erhoffen.»
2. Video
2.1. Im Video-interview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg spricht Bruder David über den Zusammenhang von Ich und Selbst / Ich und Ego und den Unterschied von Angst und Furcht:
(21.45) «Angst ist unvermeidlich im Leben. Jeder Mensch hat immer wieder Angst.
Das heißt: Angst hängt zusammen mit dem Wort Enge:
Wir kommen immer wieder in die Enge, wir kommen sogar schon in die Welt durch die Enge des Geburtskanals ‒ das ist unsere Urangst ‒, aber wir kommen furchtlos, denn wir haben den Instinkt, uns aufs Leben zu verlassen und durchzugehen. So kommen wir ins Leben.
Und immer wieder, wenn wir in die Enge kommen und furchtlos durch diese Angst durchgehen ‒ ‹ja, ich habe Angst, aber ich fürchte mich nicht› ‒, dann kommt eine neue Geburt.»
2.2. Im Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019) spricht Bruder David ebenfalls über Angst und Furcht im Zusammenhang mit Lebensvertrauen:
(08:37) «Wodurch wird Euer Lebensvertrauen herausgefordert? Durch Angst. ‒ Durch Angst.»
3. Audios
3.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden
3.2. Fülle und Nichts (1996):
(19:17) Das Gegenteil von Glaube ist nicht Unglaube, sondern Misstrauen, Angst / (20:09) Vertrauender Glaube hält Überzeugungen fest, aber doch leicht / (21:14) Aber nichts verbessert sich, wenn wir uns jetzt noch vor der Angst ängstigen. Warum betrachten wir nicht stattdessen Angst als notwendige Voraussetzung für Mut? / (22:12) Wie den Hanserl unterweisen? / (24:05) Angst, unvollkommen zu sein / (24:34) Angst treibt uns immer tiefer genau in das hinein, was wir fürchten – Unterschied von Angst und Furcht / (25:37) Angstbesetzte Idealvorstellungen von Vollkommenheit, Gott, Vollendung und das Wagnis des Glaubens / (28:17) Die Angst, unnütz zu sein / (33:00) Angst vor Misserfolg – Gelassenheit üben / (34:35) Angst, nichts Besonderes zu sein / (36:25) Angst, nicht genug zu wissen – Sich ergreifen lassen (Bernhard von Clairvaux) / (38:50) Die Angst, nicht anerkannt zu werden / (40:33) Die Angst vor Enttäuschung – Mut, durch jede Enttäuschung zur Wahrheit zu gehen / (41:56) Angst, schwach zu sein / (43:19) Angst vor dem Neuen
3.3. Die Kraft der Visionen (1991): Bruder David im Gespräch mit Baker Roshi:
(39:37) «Die Angst ist heute die stärkste Waffe derer, die die Welt zerstören»]
Arbeit ‒ Gebet
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die Hymne der Prim beginnt mit den Worten: «Die Sonne ist aufgegangen»[1]. Die ersten beiden Stunden waren eher besinnlich. Jetzt ist die Bühne bereit für die Handlung. Die Prim ist die Stunde der Arbeitsverteilung. Dabei richtet sich das Augenmerk auf einen angemessenen Beginn. Es ist wesentlich, dass die Anforderungen und Beschäftigungen des Tages aus ganzem Herzen und mit Begeisterung angefangen werden.
Der Ort der Prim ist der Kapitelsaal, wo die Mönche zusammenkommen, um die praktischen Fragen der Gemeinschaft zu besprechen. Die Arbeit wird gemeinschaftlich verteilt. Und auch wenn wir Mönche oft tagsüber lange Zeit allein arbeiten, so ist es dennoch eine gemeinsame Arbeit.
Robert Frost drückte dies sehr schön aus, als er sagte, dass Menschen immer zusammenarbeiten, «ob sie gemeinsam arbeiten oder getrennt».
Frost berichtet von einem Landarbeiter, der frühmorgens hinausgeht, um das Heu zu wenden. Der Mäher hatte seine Arbeit bereits viel früher am Morgen getan und war längst weggegangen. Und nun fühlt sich dieser Mann beim Heuwenden etwas verlassen und einsam und sagt sich: «Ich muss allein sein ‒ genauso wie der andere es war, wie alle es sein müssen», so sinniert er in seinem Herzen, «ob sie zusammenarbeiten oder getrennt.»
Dann aber wird seine Aufmerksamkeit von einem Schmetterling auf ein Blumenbüschel gelenkt, das der Mäher stehengelassen hat, weil es zu schön war, um abgemäht zu werden. Das gemeinsame Erlebnis der Schönheit dieser Blumen bewegt ihn, sich anders zu besinnen: «Und gleichsam träumend unterhielt ich mich brüderlich mit jemandem, den ich nicht einmal in Gedanken zu erreichen hoffte.»
«Menschen arbeiten gemeinsam», sagte ich ihm von Herzen, «ob sie zusammen arbeiten oder getrennt.»
Seine plötzliche Einsicht machte ihm klar, dass Arbeit immer Gemeinschaftsarbeit ist, ob wir das nun erkennen oder nicht. Alle Arbeit ist miteinander verflochten.[2]
Natürlich gibt es Arbeit, die sich eigentlich nicht lohnt. Aber selbst wenn es sich nur um Handgriffe an einem Fließband handelt, dürfen wir doch hoffen, dass sie Menschen irgendwo in der Welt helfen, mit denen wir in Gemeinschaft arbeiten, obwohl wir ihnen nie begegnen werden.
Auch dieser Gedanke ist wiederum mit dem Choral verknüpft: Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und unsichtbaren Kreatur.
Die Arbeit frisst uns mit ihren Forderungen auf, wenn wir sie nicht bewusst angehen. Dann werden wir zu Sklaven, ganz egal, wie weit oben auf der Leiter wir stehen! Nur wenn wir lernen, bewusst zu beginnen mit Anhalten, Hinschauen und Vorangehen, kann uns die Arbeit nicht unterjochen. Mönche wenden sich bewusst der Arbeit zu, so wie der Augenblick es erfordert; und sie lassen alles stehen und liegen, wenn die Glocke erklingt. Sie beweisen damit, dass sie nicht dem Gesetz der Arbeit unterstehen, sondern frei sind, sie immer dann loszulassen, wenn die Zeit gekommen ist.
Gehen wir nicht absichtsvoll und achtsam mit unserer Arbeit um, werden wir zu ihrem Sklaven und fühlen uns schließlich entfremdet und leer. Sogar Arbeit, die wir nicht gerne verrichten und für sinnlos halten, kann Sinn gewinnen, wenn wir uns bewusst und oft daran erinnern, warum wir sie tun.
Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.[3]
Diese Erde ist uns gegeben worden, damit wir mit ihr arbeiten. Wenn wir sie bebauen, erlangen wir ein tieferes Verständnis der göttlichen Wirklichkeit, die jeden Teil der Schöpfung erfüllt.
Rilke sagt in einem seiner Gedichte an Gott: «Du wirst nur mit der Tat erfasst.» Das Wort «erfassen» beinhaltet sowohl, etwas in Händen zu halten, zu fassen, als auch mit der Hand in etwas hineinzugreifen, wie beispielsweise beim Formen von Ton. Nur auf diese Weise erfassen wir die göttliche Wirklichkeit.
Manche glauben, dass wir das Göttliche umso mehr erfassen, je weiter wir uns von der Materie entfernen. Der Schöpfungsgeist betont jedoch zu Recht, dass wir das Göttliche im Materiellen entdecken. So wie das Blumenbüschel der Punkt war, an dem der Mäher und der Mann, der das Heu wendete, miteinander in Berührung kamen, ist die Materie unser Berührungspunkt mit dem Göttlichen.
Im Kloster ist es wichtig, die Arbeit als Herausforderung anzunehmen und nicht nur als eine Haushaltspflicht. Es ist nie dieselbe Aufgabe wie gestern: Heute ist ein neuer Tag, eine neue Herausforderung und eine neue Gelegenheit.
Im Kloster lernen wir, unsere Arbeit zu genießen, während wir sie tun ‒ wir tun sie um ihrer selbst willen und nicht einfach, damit sie getan ist oder damit wir sie erledigt haben.
Wir müssen lernen, unserer Neigung zu widerstehen, uns in die Dinge zu stürzen und unsere Beschäftigungen im Eilzugstempo hinter uns zu bringen. Unsere Zivilisation lehrt uns: «Zeit ist Geld»; sie fasst Arbeit als ein notwendiges Übel auf, lediglich ein Mittel zum Zweck. Wir wollen sie hinter uns bringen. Wenn wir die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, etwas hinter uns zu bringen, dann macht das wohl leicht die Hälfte unseres Lebens aus.
Die mönchische Haltung aber besteht darin, gezielt etwas anzugehen und alles, was wir tun, in einem bedächtigen, gemessenen Tempo und mit voller Aufmerksamkeit zu vollbringen. So arbeiten Handwerkmeister, Weber, erfahrene Bauern und andere verständige Arbeiter. So können auch schwierige Aufgaben gemächlich, freudig und um ihrer selbst willen gelöst werden. Und somit werden sie zu Lebensspendern.
Wenn während der Prim die Arbeit verteilt wird, heißt das zugleich die Arbeit zu segnen als auch sie zuzuweisen. Wir bitten darum, dass Gott unsere Handlungen lenken möge. Wenn wir unsere Arbeit so tun, wird alles zu einem Gebet. Das ist keineswegs eine engstirnige, fromme Anschauung. Um mit Rilke zu sprechen:
«Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
dass sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.»[4]
Alles, was wir im Angesicht Gottes tun, ist Gebet. Auf diese Weise werden unsere Hände geheiligt und gesegnet. Sie können nichts schaffen, was nicht betet.
«Ob einer malte oder mähte», fährt der Dichter fort, «schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit.» Wird etwas richtig begonnen und unsere Handlungen mit unseren besten Absichten in Einklang gebracht, dann ist alles, was wir tun, Gebet. Die Prim ist jene Stunde des Tages, in der wir nicht darum beten, etwas hinter uns zu bringen, sondern darum, dass alles, was wir tun, zum Gebet werde.
Alle Experten für Zeitmanagement raten uns, damit zu beginnen, den Tag zu planen. Wenn wir tatsächlich innehalten und uns Zeit nehmen, vorauszudenken und gezielt vorzugehen, dann werden wir die Prioritäten deutlich erkennen und können uns mit Erfolg einsetzen.
Die Prim ermöglicht uns, die Gelegenheit wahrzunehmen, im Voraus unser Gewissen zu erforschen und darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Wir setzen die Prioritäten, so wie sie unseren innersten Gefühlen entsprechen. Wir können uns nochmals daran erinnern, was wir gestern Abend zur Komplet aus der Tagesrückschau gelernt haben und was wir besser machen wollten.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2f., 5]
[Ergänzend:
1. ‹Ora et labora›:
1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen (2011)
Spiritualität und Ökonomie:
(50:58) Würde der Arbeit und des Arbeiters: ‹Ora et labora› ‒ Fest für die Straßenarbeiter in Tassajara (Zen Mountain Center)
1.2. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019); siehe auch Sakramentales Leben:
«… Darum scheint mir manchmal, dass dankbar leben sogar unser Motto ‹Ora et labora› ersetzen könnte. Es geschieht ja durch dankbares Leben, dass die Arbeit selbst zum Gebet wird ‒ und alle Geräte des Klosters zu heiligem Altargerät (RB 31,10).
Rainer Maria Rilke ist ganz im Einklang mit unserem Ordensvater, wo er diese Wahrheit dichterisch ausdrückt – und zwar so, dass sie nicht nur für Mönche gilt, sondern für alle Menschen:
‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›
So wie das Tagewerk zum Gebet wird, so wird auch das Gebet zum Werk, zum ‹opus Dei›, wie der heilige Benedikt das Chorgebet nennt.»
2. «Du wirst nur mit der Tat erfasst» (Rilke: Das Stunden-Buch):
2.1. Lebendige Spiritualität (2015): Vier Gesprächsabende mit Texten von Rainer Maria Rilke
Verstehen durch Tun:
(06:54) ‹Wenn es nur einmal so ganz stille wäre› – ‹Sprich mir aus überall› (‹Du wirst nur durch die Tat erfasst› – Das nackte Du
(13:56) ‹Es gibt im Grunde nur Gebete› (‹Alle, die ihre Hände regen›) … entfaltete sich Frömmigkeit: ‹Pietas› und Dankbares Leben / (17:57) Im Gespräch mit P. Johannes – ‹Contemplatio in actione›: Das göttliche Tun in unserem Tun
2.2. Das Gedicht in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 63-67
3. Den großen Tanz beten (1998) [siehe auch diesen Text, übersetzt von Bernardin Schellenberger, im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 1: ‹Lernen wie man in Stille betet›, 17f.]:
«Zu einer dritten inneren Welt [des Gebetes] ist das Tun der Schlüssel, liebevolles Tun. Sicher liegen Welten zwischen dem Gebet des Tuns und dem der Stille oder des Wortes. Hier bin ich mit Gott nicht übers Horchen und Antworten verbunden, auch nicht durch das Eintauchen in die Stille, sondern durch das Tun.
Was immer ich liebevoll tun kann, kann zu einem Gebet des Tuns werden.
Es ist auch nicht nötig, dass ich während dem Arbeiten oder Spielen unbedingt an Gott denke. Manchmal wäre das kaum möglich. Wenn ich ein Manuskript korrigiere, konzentriere ich mich wohl besser auf den Text als auf Gott. Wenn meine Gedanken zwischen beiden hin- und her gerissen sind, werden mir die Tippfehler entschlüpfen wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz.
Gott wird genau in dieser liebevollen Achtsamkeit anwesend sein, die ich der Arbeit entgegenbringe, welche mir anvertraut ist. Indem ich mich ganz und liebevoll dieser Arbeit hingebe, gebe ich mich ganz Gott hin. Dies geschieht nicht nur in der Arbeit, auch im Spiel, beim Reden, beim Beobachten von Vögeln oder beim Anschauen eines guten Videos. Wenn es mich in Gott erfreut, muss sich Gott darüber in mir erfreuen. Ist nicht dieses Einssein das Wesen des Betens?»
3. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294-296, 300f.; siehe auch Kontemplation im Handeln: Ergänzend: 5.; Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:
«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»
«Das also ist Kontemplation im tiefen Sinne, diese Verbindung von schauen und bauen. Wenn wir das in jedem Bereich unseres Lebens durchführen, dann kann der Dichter sagen:
‹Es gibt im Grunde nur Gebete.›
Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleibt, im Mysterium, solange unser Handeln im Grunde der Kontemplation verwurzelt bleibt und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet.
Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.
Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:
‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift›
(Rilke, Das Stunden-Buch)»
4. Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung
«Das Mönchsleben ist ein Weg, um sich radikal der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In einem solchen Leben kann man nicht im Zweck stecken bleiben: Zwar gibt es viele Zwecke, die Mönche verfolgen, aber sie sind alle zweitrangig. Als Mönch bist du vollkommen überflüssig, und darum kannst du der Frage nach dem Sinn nicht ausweichen.»
5. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]:
«Ich möchte jetzt gerne ein paar Bemerkungen zum mönchischen Leben machen. Erstens ist das Klosterleben eine besondere Art von Leben. Das Kloster ist ein besonderer Ort und eine besondere Umgebung. Man könnte es eine professionelle Umgebung, eine kontrollierte, geregelte Umgebung, ein Labor, eine Werkstatt nennen. Und in der Tat nennt die ‹Regel des Heiligen Benedikt›, eines der Schlüsseldokumente unserer abendländischen Tradition des Mönchstums, das Kloster eine Werkstatt. Es ist ein Ort, an dem alles darauf ausgerichtet ist, jene kontemplative Dimension zu pflegen, von der wir gesprochen haben, jene mystische Einstellung zu pflegen, jenes Offensein für den Sinn, das wir alle in unseren Gipfelerfahrungen kennengelernt haben.
Wir alle sind also in unserem Leben in gewissem Sinne Amateure des mönchischen Lebens. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Mönchen besteht darin, dass die Mönche Fachleute sind. Aber gerade in unserer Zeit wissen wir, dass die Fachleute sehr oft in ihrem Fach weniger leisten als manche Amateure. Deshalb: je mehr Menschen entdecken, wie wichtig der Mönch in ihnen ist, und je mehr sie entdecken, wie wichtig das Offensein für den Sinn ist, umso wichtiger wird es, dass jeder, Amateur oder Fachmann, ab und zu Zugang zu dieser geregelten Umgebung bekommt, in der er die mönchische oder kontemplative Dimension seines Lebens fördern kann.»]
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[1] «Iam lucis orto sidere
Deum precemur supplices
Ut in diurnis actibus
Nos servet a nocentibus.»
1. Strophe des Hymnus von Aurelius Ambrosius (339/40-397), übersetzt von Adalbert Schulte:
«Da sich nun das Tagesgestirn erhoben hat,
so wollen wir Gott flehentlich bitten,
dass er uns bei den Geschäften des Tages
vor schädlichen Dingen bewahre.»
[2] Musik der Stille (2023), 66f.
[3] Ebd. 74f.
[4] R. M. Rilke: ‹Alle, die ihre Hände regen› (Das Stunden-Buch)
[5] Musik der Stille (2023), 67-70
Arbeit, Spiel, Muße
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Aber nur wenige Worte aus unserem Sprachgebrauch werden so sehr missverstanden wie das Wort Muße.
Das wird sofort deutlich, wenn wir von Arbeit und Muße als einem Gegensatzpaar sprechen. Heißen die beiden Pole aller Aktivität wirklich Arbeit und Muße? Wenn dem so wäre, wie könnten wir dann von einem Arbeiten in Muße sprechen? Das wäre ein offensichtlicher Widerspruch. Und doch wissen wir, dass es ganz und gar kein Widerspruch ist. Tatsächlich ist es so, dass jede befriedigende Arbeit mit Muße verrichtet werden will.
Was also ist nun das Gegenteil von Arbeit, wenn es nicht Muße ist? Es ist das Spiel. Arbeit und Spiel ‒ das sind die beiden Pole aller Aktivität. Und was wir über Zweck und Sinn gelernt haben, wird uns hier helfen, dies klarer zu erkennen.
Wann immer du arbeitest, dann tust du das, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Gäbe es diesen Zweck nicht, dann hättest du etwas besseres zu tun. Arbeit und Zweck sind so eng miteinander verknüpft, dass deine Arbeit endet, sobald dein Zweck erreicht ist. Oder willst du dein Auto weiter reparieren, wenn es bereits wieder läuft? Das mag weniger offensichtlich sein, wenn du den Boden fegst. Ist es nicht möglich, den Boden weiter zu fegen, selbst dann, wenn sich kein Staubkörnchen mehr findet? Nun, du kannst natürlich mit dem Besen weiterfegen, wenn es dir Spaß macht, aber dein Zweck ist längst erreicht, und damit endete die Arbeit als solche. Früher oder später wird dich sicherlich jemand fragen, warum du noch immer mit dem Besen herumspielst. Was einmal Zweck hatte und Arbeit war, ist jetzt eben zum Spiel geworden.
Beim Spiel liegt die gesamte Betonung auf dem Sinn der Aktivität. Sagst du deinen Freunden, dass es dir außerordentlich sinnvoll erscheint, an einem Freitagabend mit einem Besen herumzutanzen, dann mögen sie dich zwar verwundert anschauen, ernsthaft widersprechen können sie hingegen kaum. Spiel braucht kein Ziel. Darum kann das Spielen immer weitergehen, solange die Spieler es für sinnvoll halten. Schließlich tanzen wir ja nicht, um irgendwo hinzukommen. Wir tanzen im Kreis.
Eine Symphonie endet nicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Genau genommen hat sie keinen Zweck. Es ist spielerische Sinnentfaltung, die sich in jedem ihrer Rhythmen, in jedem Satz und jedem Thema offenbart: Sinn zu feiern, darum geht es.
Menzlers Kanon ist eine der großartigen Überflüssigkeiten des Lebens. Wann immer ich ihm zuhöre, erkenne ich aufs Neue, dass einige der überflüssigsten Dinge die notwendigsten für uns sind, weil sie unserem menschlichen Leben Sinn verleihen.
Wir sollten darauf achten, dass wir nicht Muße und Arbeit gegeneinander ausspielen. Muße ist die Ausgewogenheit von Arbeit und Spiel. Muße wird beiden gerecht.
Aber selbst das könnte missverstanden werden. Zu hastig könnte jemand sagen: «Jawohl, wenn Spiel, dann Spiel; wenn Arbeit, dann Arbeit. Jedes zu seiner Zeit. Eine perfekte Balance, nicht wahr?» Nicht besonders perfekt, wie mir scheint. Geht mir perfekte Arbeit nicht auch spielerisch von der Hand? Menschen, die ihre Arbeit mit nichts als ihrem Ziel vor Augen verbringen, wissen kaum mehr, was spielen heißt, wenn ihre Freizeit schließlich anfängt.[1]
(Video 34:54) «Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.
Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.»[2]
«Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
«Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, ‹gute Arbeit› ist wie ein kosmisches Ballspiel, ‹wie ein heiliger Tanz.›»[3]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3]
[Ergänzend:
1. Schlüsselwort ‹Arbeit/Spiel›, in: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 165 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 166]:
«Menschliches Handeln ist von zweierlei Art: Arbeit und Spiel. Wir arbeiten, um einen nützlichen Zweck zu erfüllen. Aber wir spielen aus sinnvollem Vergnügen. Spiel ist in sich selbst sinnvoll. Wir können in unserer Arbeit dermaßen zweckorientiert werden, dass wir selbst nach der Arbeit nicht länger spielen können; bestenfalls können wir uns eine weitere Runde Arbeit verschaffen. Nützlichkeit verdrängt unser Vergnügen. Welch eine Zeitverschwendung! Aber wir können Arbeit davor schützen, zu bloßer Plackerei zu werden. Wir können lernen, spielerisch zu arbeiten. Das aber bedeutet, unsere Arbeit nicht nur im Blick auf ihre brauchbaren Resultate zu verrichten, sondern auch wegen des Vergnügens, das wir dabei empfinden, wenn wir sie aufmerksam und dankbar verrichten. Dankbare Arbeit ist spielerische, gelassene Arbeit. Nur gelassene Arbeit ist auf lange Sicht fruchtbar. Nur wenn wir spielerisch arbeiten, sind wir wirklich lebendig.»
2. Sterben lernen (2005); siehe auch Muße:
«Diese innere Einstellung, sich selbst hinzugeben, ein Gehenlassen von Augenblick zu Augenblick ist es, was uns so besonders schwer fällt, doch kann man es anwenden auf beinahe jedem Gebiet unserer Erfahrung.
Wir haben zum Beispiel die Zeit erwähnt. Da ist das ganze Problem der Freizeit, wie wir sie nennen, der Entspannung und Muße.
Wir denken uns als ein Privileg derer, die es sich leisten können, sich Zeit zu nehmen (dieses ewige ‹Nehmen›!), während sie in Wirklichkeit überhaupt kein Privileg ist. Muße ist eine Tugend, und zwar eine, die jeder sich leisten kann. Es geht hier nicht darum, sich Zeit zu nehmen, sondern Zeit zu geben, ‹sich Zeit zu lassen›.
Muße ist die Tugend derjenigen, die sich Zeit nehmen für was immer es ist, das Zeit braucht ‒ dieser Angelegenheit so viel Zeit schenken, wie sie benötigt. Das ist der Grund, warum Muße für uns beinahe unerreichbar ist. Zu sehr sind wir ausgerichtet auf Nehmen, auf Aneignen. Und so gibt es mehr und mehr freie Zeit ‒ und immer weniger Muße. In früheren Jahrhunderten, als für alle viel weniger freie Zeit zur Verfügung stand und es keine ‹Ferien› gab, da entspannten sich die Leute während der Arbeit. Heute arbeiten sie hart, um sich zu entspannen.
Es gibt Leute, die arbeiten von morgens um neun bis abends um fünf mit der Einstellung: Lasst es uns erledigen, lasst uns die Sache an die Hand nehmen. Sie sind vollkommen zweckorientiert, und wenn es endlich fünf Uhr ist, sind sie so erschöpft, dass sie keine Zeit mehr haben für richtige Muße. Wer nicht entspannt arbeitet, kann auch nicht entspannt spielen. So kommt es zum Zusammenbruch, oder die Leute nehmen ihren Tennis- oder Golfschläger und fahren fort mit der Arbeit, die dann ‹Freizeittätigkeit› genannt wird.»
3. Der Mönch in uns (1978) [dieser Text findet sich, übersetzt von Bernard Schellenberger, weitgehend auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Kernsätze zum 9. und 10. Mai:
«Arbeit ist diese besondere Art von Aktivität, die auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist, und wenn dieser erreicht ist, hört die Arbeit auf.»
«Gewöhnlich denken wir, dass das Gegenteil von Arbeit Muße ist. Muße ist nicht das Gegenteil von Arbeit. Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, wenn du einen Gegensatz haben willst. Und die Muße überbrückt die Lücke zwischen Arbeit und Spiel. Muße ist, seine Arbeit in der Haltung des Spielens zu tun.»
4. Im Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-14, geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit Spiel und Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung ein:
«Beachten Sie, dass wir Sinn und Zweck nicht gegeneinander ausspielen. Es geht uns nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als-auch. Wir müssen unterscheiden, aber wir dürfen nicht trennen. Das gilt auch von den Begriffen Arbeit und Spiel. Die beiden sind miteinander verbunden in dem Begriff von Muße. Muße ist freilich ein oft missverstandener Begriff. Verwechseln wir nicht allzuoft Muße mit Müßiggang? Muße ist aber keineswegs Untätigkeit. Wie könnten wir sonst mit Muße arbeiten? Und wir wissen doch, dass die beste Arbeit in Muße geleistet wird. Diese echte Muße ist aber die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Spiel.
Nun missverstehen wir das oft so, dass wir meinen, man müsse zuerst arbeiten und nichts als arbeiten, um dann endlich zum Lohn spielen zu können. Wenn man aber nicht schon spielerisch arbeitet, dann kann man auch nachher nicht spielen. Kennen wir nicht Leute, die während der Arbeitszeit wie wild arbeiten und dann nachher entweder erschöpft zusammenbrechen oder während der Freizeit einfach weiterarbeiten, nur jetzt mit Spielzeug als Werkzeug? Sie kommen aus der Zwangsjacke der Zweckgerichtetheit einfach nicht heraus. Wenn man nicht schon mit Muße arbeitet, kann man auch nicht mit Muße seine Freizeit gestalten.
Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fallt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?»]
___________
[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 67-69 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 66f.
[2] Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Tasten, berühren, behüten: Ergänzend: 1.
[3] Orientierung finden (2021): ‹Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens›, 108f.; siehe auch Fließweg
Askese
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Man verbindet Mönchstum und Mönchsein oft mit Askese, und das ist auch richtig. Aber oft glaubt man, Askese bedeute, dass man die Sinne verleugnet, und das ist ein Irrtum. In spirituellen Überlieferungen wie etwa dem Zen lernen wir, dass Askese eine Disziplinierung der Sinne bezeichnet, durch die man die Fähigkeit entwickelt, jede Daseinsdimension mit gesteigerter Sensibilität zu erleben. Das wurde in Blütezeiten seit jeher vom Mönchstum in jeder Tradition betont. Für einen wahrhaft aufnahmebereiten Gaumen ist Quellwasser sehr wohlschmeckend.
Richtig verstanden bedeutet Askese üben. Das Wort kommt vom griechischen askesis, dem Üben der Athleten. Wenn wir Lebensqualität suchen, dann üben wir, entwickeln Methoden, verfeinern unsere Sprache, achten auf unsere Bewegungen und ernähren uns sorgfältiger. So geschieht es auch mit unserem spirituellen Wachstum. Wer sich beispielsweise besser ernähren will, muss vielleicht auf Dinge verzichten, die gut schmecken oder sonst verlockend sind. Wem aber etwas am Gesundsein liegt, wird daran arbeiten, wird seine Ernährung verbessern, wird vielleicht sogar seinen Geschmack verändern und bald feststellen, dass man dabei auf nichts verzichten muss, was man wirklich braucht. So geht es auch bei der Askese. Der erfahrene Läufer, der gesunde Feinschmecker, der Musikvirtuose, der meisterhafte Gärtner ‒ jeder, der aus Leidenschaft für Spitzenleistungen auf irgendeinem Gebiet eine disziplinierte Kunst daraus macht ‒ verzichtet gern auf einiges, um durch Übung eine Vollkommenheit zu erlangen, die eine außerordentliche Vitalität und Freude zur Folge hat. [ST 20f., Quelle: MS 5) 56-58]
Augenblicke dankbar leben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. (3. Februar)[1]
Die rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden. (4. Februar)[2]
In jedem Augenblick wird alles, was es gibt, uns neu geschenkt, und wir können es in Dank verwandeln. Das Wesen göttlicher Schöpfung ist Geschenk, das Wesen menschlicher Schöpfung ist Dankbarkeit. Durch diesen Austausch nehmen wir teil am göttlichen Leben selbst. (5. Februar)[3]
Dankbares Leben ist ein Weg zum Heilwerden der Welt. Nicht nur wenn uns was Schönes wiederfährt, sondern wenn wir dankbar leben, jeden Augenblick. (23. April)[4]
Die Art von Glück, die davon abhängt, was uns glückt und was uns nicht glückt, was uns zustößt, ist etwas sehr Unbeständiges. Im Gegensatz zur Freude, die jenes Glück ist, das nicht davon abhängt, was uns widerfährt.
Und der Schlüssel, zu dieser Freude ist die Dankbarkeit, denn in dem Augenblick, wo wir dankbar sind, finden wir zurück zu der Freude, die immer in uns ist. (2. Juli)[5]
Es ist aufschlussreich, dass die Sprache vom gegebenen Augenblick spricht: Der Augenblick wird uns gegeben, er ist uns geschenkt. Und daher ist die einzig entsprechende Antwort auf dieses Gegebene: die Dankbarkeit. (8. Oktober)[6]
Als Weg zum Glücklichwerden kann das Dankbarsein nur dann dienen, wenn ich es übe, wenn ich daraus einen spirituellen Weg mache. Ein Augenblick, eine kurze Begegnung, ist noch kein Weg. (14. Oktober)[7]
Wenn ich dankbar dem Sein gegenüber bin, werde ich das auch im nächsten und übernächsten Augenblick sein können ‒ und dann auch im letzten Augenblick, wenn es darum geht, das Ich endgültig loszulassen im Sterben. (19. November)[8]
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. (25. Dezember)[9]
Wie oft wir einfach genießen dürfen, was uns jetzt geschenkt ist, bemerken wir erst, wenn wir beginnen, aufzuwachen zu dankbarem Leben. Und je dankbarer wir leben, umso mehr Gelegenheit zur Dankbarkeit entdecken wir. Freilich, manchmal stößt uns etwas zu, wofür niemand dankbar sein kann. Wer kann dankbar sein für Verletzung, Untreue, oder Betrug; für Fremdenhass, Ausbeutung, Krieg?
Nein, wir können nicht für alles dankbar sein ‒ doch aber in jedem Augenblick.
Auch Widerwärtigkeiten geben uns Gelegenheit ‒ etwa die Gelegenheit Geduld zu lernen, Erfahrung zu sammeln, oder uns in tapferem Widerstand zu üben. Für diese Gelegenheiten können wir uns dankbar erweisen, indem wir sie wahrnehmen (was für ein schönes Wort!) und sie nutzen. (Bruder David im Vorwort zum Buch)[10]
Dankbarkeit, das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden.
Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt voraus den Geber aller Gaben, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt.
Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor.
Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe.
Und wir sind, weil wir in einer gegebenen Welt leben, aufgefordert dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle. (‹Wir sind uns gegeben›, 10f.)[11]
Alles in dieser gegebenen Welt ist Geschenk. Aber das Geschenk in jedem Geschenk ist Gelegenheit. Meistens bedeutet das die Gelegenheit zum Genießen. Manchmal bedeutet es die Gelegenheit, sich zu mühen, zu leiden, ja selbst zu sterben. Wenn wir nicht aufwachen zu den zahllosen Gelegenheiten, das Leben zu genießen, wie können wir da erwarten, wach zu sein, wenn die Gelegenheit, sich dem Leben dienlich zu erweisen, auftaucht? Jene, die erkennen, dass das Geschenk in jedem Geschenk die Gelegenheit ist, werden Dankbarkeit nicht passiv verstehen.
Dankbarkeit ist die Tapferkeit des Herzens, sich der Gelegenheit zu stellen, die ein gegebener Augenblick bietet. (‹Die Gelegenheit erkennen›, 17)[12]
Wir Menschen werden keinen Frieden finden, solange wir in unserem Leben keinen Sinn finden können. Sinn ist das, worin unser Herz Ruhe findet. Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird einem immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen.
Was jeden gegebenen Augenblick sinnvoll macht, ist, dass er gegeben ist. Dankbarkeit erkennt diesen Sinn, anerkennt und feiert ihn. (‹Dem Leben Sinn geben›, 18)[13]
Unsere Sinne führen uns hinaus in die Vielfältigkeit, weiter und weiter. Es ist ein wundervolles Abenteuer. Aber wir können uns in der Vielfalt verlieren, wenn wir nicht jene heilige Einfalt finden, die uns tiefer und tiefer führt und alles zusammenhält. Dazu verhilft uns die Dankbarkeit.
Die Einfalt der Dankbarkeit ist ganz und gar nicht einfältig, im Sinne von Beschränktheit. Sie ist mit Arglosigkeit verwandt, mit Ehrfurcht und mit Weisheit. Weil sie arglos ist, geht sie heil durch den Dornwald argwöhnischen Misstrauens. Arglos erkennt die Dankbarkeit jeden Augenblick mit allem, was er enthält, als Geschenk.
In Ehrfurcht anerkennt sie in (und zugleich jenseits von) allen Gaben den Geber. Preisend bekennt sie, dass alles Gnade ist.
Ergriffen von dieser Einsicht, führt die Dankbarkeit zu jener Weisheit, von der der Heilige Bernhard sagt: «Begriffe machen wissend; Ergriffenheit macht weise.»
In Dankbarkeit können wir vom Erkennen der Gabe zum Anerkennen des Gebers und von da zum preisenden Bekennen der Gnade fortschreiten und so durch unsere Sinne Sinn finden. (‹Sinnfinden durch die Sinne›, 38f.)[14]
Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen.
Tag und Nacht wird uns mit jedem Augenblick Unzähliges geschenkt. Wir brauchen nur darauf zu achten, und Dankbarkeit wird uns beinahe überwältigen. Aber achten wir darauf? Das ist die Frage. (...)
Seit Jahren schreibe ich zum Beispiel täglich in meinen Taschenkalender zumindest eine Sache, für die dankbar zu sein mir vorher noch nie in den Sinn kam. Meint vielleicht jemand, es sei schwer, jeden Tag einen neuen Grund zur Dankbarkeit zu finden? Es ist nicht schwer. Oft kommen mir vier oder fünf Gründe in den Sinn. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie alt ich werden müsste, um den Vorrat merklich zu vermindern.
Was wir bemerken, wenn unsere Aufmerksamkeit wächst, ist, dass uns in tausend Formen immer das Gleiche geschenkt wird, nämlich Gelegenheit. Gelegenheit ist das Geschenk, für das alle anderen Geschenke nur Verpackung sind. Und hier ist das Erstaunliche: In 99 von 100 Fällen wird uns schlicht und einfach Gelegenheit geschenkt, uns zu freuen.
Es fragt sich nur: Nehmen wir diese Gelegenheit überhaupt wahr?
Meistens wohl nicht. Ein Grund dafür ist dieser: An schwierigen Tagen stehen unsere Schwierigkeiten so im Vordergrund, dass wir alles andere übersehen. Der tiefere Grund ist aber, dass wir einfach nicht gewohnt sind, auf die uns geschenkten Gelegenheiten zu achten; auch an unseren fröhlichen Tagen nehmen wir alles ganz undankbar als selbstverständlich hin.
Dankbare Aufmerksamkeit lässt sich üben und erlernen. Wir können am Abend auf den vergangenen Tag zurückschauen und für etwas noch nie vorher Beachtetes zum ersten Mal dankbar sein. Wir können aber auch vorausplanen. Heute wird, sagen wir, dankbar auf Gerüche geachtet; morgen auf Farben und Formen; übermorgen auf Geräusche. In einem «Kurs», der jeden sechsten Tag wieder von vorne beginnt, können wir so durch dankbare Sinnlichkeit unsere freudige Lebendigkeit planmäßig fördern. Alles hängt davon ab, dass wir uns immer wieder erinnern. (‹Gründe genug›, 62-65)[15]
Welche Tätigkeiten lösen in dir regelmäßig spontane Andacht aus, so dass dein Herz ganz ohne Mühe dabei ist? Vielleicht ist es die erste Tasse Kaffee am Morgen, die Art und Weise, in der sie dich wärmt und wach macht, oder der Spaziergang mit deinem Hund, oder die Huckepack-Tour mit einem kleinen Kind.
Dein Herz ist voll dabei, und so findest du auch Sinn darin ‒ keinen Sinn, den du in Worte fassen könntest, sondern Sinnfülle, in der du Ruhe finden kannst. Das sind Momente gesammelter Andacht, auch wenn wir sie nie als Gebet betrachtet haben. Sie zeigen uns die enge Verbindung von Gebet und Spiel.
Diese Augenblicke, in denen unser Herz ‒ ganz gleich wie kurz ‒ in Gott Ruhe findet, sind Beispiele dafür, was Gebet eigentlich ist. Könnten wir diese innere Haltung aufrechterhalten, dann würde unser ganzes Leben zum Gebet werden.
Zugegeben, es ist keine leichte Aufgabe, die Sammlung, Dankbarkeit und Andacht jener Augenblicke, in denen das Herz voll ist, aufrechtzuerhalten.
Aber jetzt wissen wir wenigstens, worauf wir hinauswollen. Es ist, als wollten wir lernen, einen Bleistift auf einer Fingerspitze zu balancieren. Darüber zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Haben wir es aber ein einziges Mal geschafft, dann wissen wir wenigstens, dass wir es können und wie es gemacht wird. Der Rest ist eine Frage der Übung und des Immer-wieder-Probierens, bis es zur zweiten Natur geworden ist. (‹Momente der Andacht ausweiten›, 66-68)[16]
Die Dankbarkeit ist eine Form spiritueller Praxis, die den Vorzug hat, dass sie sehr schnell Resultate zeigt. Wenn wir uns am Morgen vornehmen, dankbar zu sein für alles, was uns an diesem Tag begegnet, werden wir am Abend bereits spürbar glücklicher sein.
Dankbarkeit heißt, den gegebenen Augenblick und jede gegebene Gelegenheit, einfach alles, was uns begegnet, als Gabe, als Geschenk wahrzunehmen.
Wenn wir alles, was uns begegnet, als Geschenk erkennen und nicht einfach als gegeben hinnehmen, wachen wir auf zu einer neuen Lebendigkeit. Das gibt uns tausend Gelegenheiten, uns zu freuen. (‹Neue Lebendigkeit›, 86)[17]
Was geschieht, wenn wir unsere Augen in Dankbarkeit für alles öffnen, was uns begegnet: Wir sehen göttliches Licht durch alles, was ist, hindurchleuchten.
Jemand mag dann etwa sagen: «Naja, aber wie kann ich für Völkermord dankbar sein? Wie kann ich für Terrorismus dankbar sein?» Und wie können wir für das Elend in den Straßen vor unserer eigenen Haustür dankbar sein? Oder für die Zerstörung unserer Umwelt? Oder für die Tierquälerei in Laboratorien und Legebatterien? Über diese Dinge an und für sich können wir uns keinesfalls freuen, doch dafür, dass sie uns Gelegenheit geben, etwas dagegen zu unternehmen, können wir dankbar sein.
Diese rückhaltlose Aufgeschlossenheit für das Geschenk des gegenwärtigen Augenblicks ist eine außerordentlich schöpferische innere Haltung.
Sie inspiriert uns zum Hinschauen und Überlegen, was wir tun können, so wenig es auch sein mag. Zumindest können wir fragen, was wir dagegen tun können und die Gelegenheit nutzen. Wenn genügend Menschen fragen: «Was können wir tun?», dann werden wir schließlich Lösungen für unsere dringendsten Probleme finden.
Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten, Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. (‹Alte Schwierigkeiten neu anpacken›, 110-112)[18]
Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich. (‹Vertrauen in den Geber›, 118f.)[19]
Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an. (‹Ich erkenne, ich anerkenne›, 132f.)[20]
Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe. Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.
In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. (‹Einswerden›, 139)[21]
[Obige Kernsätze mit Angabe von Tag und Monat sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen; ihnen folgen die längeren Kernsätze mit Überschrift und Seitenzahl aus dem Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018); siehe den gesamten Text des Buches in Einladung zur Dankbarkeit und die Quellenangaben in Anm. 1-21]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023)
Teil 4: ‹Dankbar leben ‒ oder: ‹Wenn jeder Augenblick zum Geschenk wird›:
(12:12) ‹Das ganze Leben ist Dialog mit dem schenkenden Geheimnis, das mir Augenblick für Augenblick Gelegenheiten schenkt und will, dass ich etwas daraus mache›
1.2. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): Johannes Kaup im Gespräch mit Bruder David
Vortrag ab (01:23:42), siehe auch:
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Audio: ‹Augenblick für Augenblick freudig dankbar›:
«Dankbarkeit ist ja Freude, ist nicht Danksagung. Das ist etwas anderes. Dankbarkeit ist die Freude, die ganz spontan in uns aufsteigt, wenn uns etwas Wertvolles geschenkt wird. Das springt einfach auf in uns. Und diese Freude können wir jeden Augenblick haben, wenn wir bedenken, dass das größte Geschenk und völlig unbezahlbare Geschenk der Augenblick ist, das Jetzt. Denn wenn wir den Augenblick nicht hätten, könnten wir sonst nichts machen. Das ist sozusagen das Gefäß, in dem alles uns geschenkt wird, und die Gelegenheit, die dieser Augenblick uns bietet. Und wenn wir uns dessen bewusst werden, dann leben wir wirklich erfülltes Leben, spirituelles Leben, denn dann sind wir Augenblick für Augenblick freudig dankbar für das Geschenk des Lebens und haben allen Grund dazu. Und auch in sehr schwierigen Lebenslagen sind wir dankbar für die Gelegenheit, die diese schwierigen Lagen uns bieten: Gelegenheit zu wachsen, Gelegenheit etwas zu lernen, sogar Gelegenheit zu protestieren: alles das ist Gelegenheit, die der Augenblick uns schenkt. Und lang genug innezuhalten, um nicht von dem Fluss der Zeit fortgerissen zu werden, sondern wirklich in diesem Jetzt zu sein, in dem Jetzt Ausschau zu halten, innehalten, innewerden der Gelegenheit, die sich uns jetzt hier und jetzt bietet, und dann etwas aus dieser Gelegenheit machen, das ist dankbares Leben. Und das ist wirklich im Zentrum jeder spirituellen Praxis. Und das ist zugleich die Quelle der Lebensfreude. Und wenn man so richtig freudige Menschen sieht, sieht man immer, das sind auch wirklich dankbare Menschen. Und manche Menschen haben alles, was man brauchen würde, um wirklich freudig zu sein, und die sind nicht freudig, weil sie nicht dankbar sind. Das ist der einzige Grund: die wollen etwas Anderes oder mehr vom selben. Aber wenn wir uns freuen an dem Geschenk dieses Augenblickes …»
1.3. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift des Vortrags:
(08:45) «Aber die ganz entscheidende Einsicht ist, dass uns in jedem Augenblick etwas geschenkt wird, was wir uns unter keinen Umständen selber erwerben, kaufen, eintauschen oder sonst irgendwie verdienen können: Und das ist das JETZT: dieser gegebene Augenblick mit allen den Gelegenheiten, die er uns bietet. Das ist das Entscheidende.»
2. Im Buch Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015): ‹Zeit für Dankbarkeit ‒ oder: Warum jeder Augenblick ein Geschenk ist›, 160f.:
«Dankbarkeit fängt immer dann an, wenn zwei Dinge zusammenkommen: Wir müssen etwas empfangen, was uns wertvoll ist. Und es muss uns als freies Geschenk gegeben werden. Wenn diese beiden Bedingungen zusammenkommen, dann steigt die Dankbarkeit spontan im Herzen jedes Menschen auf.
Der entscheidende Schritt von dieser Erfahrung auf ein dankbares Leben hin besteht darin, dass man sich bewusst wird, dass das wertvollste von allen möglichen Geschenken der gegebene Augenblick ist.
Würde uns dieser Augenblick nicht geschenkt, dann wäre auch sonst nichts da. Das Jetzt ist das größte Geschenk. Das Jetzt ist reines Geschenk.
Mit allem Geld und Gold der Welt kann man sich keinen einzigen Augenblick erkaufen.
Das sehen wir, wenn der Tod vor der Tür steht. Darum ist es hilfreich, uns den Tod allezeit vor Augen zu halten, wie es der heilige Benedikt anrät.
Das führt zu der Dankbarkeit, aus der die Lebensfreude aufblüht.
Jetzt, in diesem Augenblick, und jetzt, im nächsten Augenblick, fällt mir das größte Geschenk in den Schoß, eben das Jetzt mit all den Gelegenheiten, die es mir gibt.»
3. Weitere Links zu Dankbarkeit und dankbar leben:
Ein Leben für die Dankbarkeit (2023)
Dankbarkeit: eine spirituelle Praxis, die reich macht (2023)
Dankbarkeit als Lebenskunst (2023)
Wach – bewusst – achtsam (2001); siehe auch Die drei Schritte der Dankbarkeit (2020)
Dankbarkeit ‒ persönliche Gedanken von David Steindl-Rast (2018); siehe auch Stop ‒ Look ‒ Go
Dankbarkeit ist der Spitzenkandidat (2018)
Dankbarkeit als revolutionäre Kraft (2018)
DAS ABC-Spiel der Dankbarkeit (2016)
Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014)
Glück aus Dankbarkeit (2013)
Ein Versprechen dankbar zu leben (2008): Gebet
Üben dankbar zu leben (2008)
Geber allen guten Gaben (2007): ein Tischgebet
Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002): Diese fünf Schritte sind klein, aber wirkungsvoll
Für all die kleinen (und grossen) Dinge im Leben danken (2002)]
________________________
[1] Musik der Stille (2023), 50
[2] Musik der Stille (2023), 52f.
[4] Video Fragen zu gesundem Leben, die uns alle angehen (2011): Vortrag von Bruder David bei der Einherz-Gemeinschaft für Medizin mit Liebe
[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[6] Ebd.
[7] Wege zum Glücklichkwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der großen Universitätsaula, Salzburg
[8] Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011) und Dankbarkeit ‒ Alles ist Gelegenheit (2013): Interviews von Rudolf Walter mit Bruder David für das Buch Einfach leben ‒ wie geht das?, 193 [siehe den Auszug]; sowie im Buch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Vorbereitung auf den letzten Augenblick›, 37 [siehe den Auszug]
[9] Musik der Stille (2023), 49
[10] Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014): Vorwort von Bruder David: ‹Dankbar leben›, 9f.
[11] An welchen Gott können wir noch glauben? (2008)
[12] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Gelegenheit›, 172f. [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Gelegenheit›, 173f.]
[13] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Sinn›, 183 [bzw. Fülle und Nichts (2015): ‹Sinn›, 184]
[14] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Die Dankbarkeit der fünf Sinne›, 53
[15] Ebd. 82-84
[16] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 47 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 45]
[17] Spiritualität und Verantwortung (2009): Interview von Christa Spannbauer mit Bruder David
[18] Musik der Stille (2023), 52f.
[19] Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Mit dem Herzen horchen›, 16f.
[20] Ebd. ‹Eine tiefe Verbeugung›, 138
[21] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 150 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 150f.]
Augenblicke wach im Jetzt
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. (1. Februar)[1]
Wenn du morgens den Bus nimmst oder dich ins Auto setzt, während es noch dunkel ist, dann beginn gar nicht erst damit, dir Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Achte nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit steigt: «Mir wird ein neuer Tag gegeben. (…) Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Zeit, sich zu erheben und zu leuchten.» (2. Februar)[2]
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt. (6. Februar)[3]
Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten. (9. Februar)[4]
Unser wahres Glück, unser unverlierbares Glück besteht darin, im gegebenen Augenblick völlig da zu sein. «Zum Augenblicke möcht ich sagen, verweile doch, du bist so schön», so hat Goethe das im Faust formuliert, weil eben wahres Glück nur da ist, wenn wir im Augenblick sind. (13. Februar)[5]
Wenn wir nach innen schauen, sehen wir: Das Glück ist nicht irgendwo vor uns, es ist schon da. Dem Glück nachjagen, das ist so wie wenn jemand seinem eigenen Schatten nachjagen wollte. Im Augenblick, wo wir stehen bleiben, bleibt auch der Schatten stehen. Die Freude ist unser eigentliches Wesen. Sie ist immer da, nur wir sind nicht da. (14. Februar)[6]
Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die der Faulheit entspringt. (17. Februar)[7]
Die meisten von uns leben sehr hastige, sehr unruhige und volle Tagesläufe. Wir müssen in diese Tagesläufe irgendwo kleine Augenblicke des Innehaltens einfügen. (10. Juli)[8]
Was in jedem Augenblick von uns verlangt wird, ist doch ganz einfach. Wir lernen es schon als Kinder beim Überqueren der Straße:
Nur wer still hält, sieht, was zu tun ist ‒ hier und jetzt ‒ und nur wer klar sieht, kann hilfreich handeln. (24. Februar)[9]
In Augenblicken glühendster Lebendigkeit wird uns bewusst, dass wir inmitten allen Wandels etwas in uns kennen, das Bestand hat: Wir haben Anteil am Sein. In solchen Augenblicken wird uns klar, dass unser eigenes Sein am Einen, Schönen, Guten und Wahren Anteil hat und daher unzerstörbar ist, so wie diese höchsten Werte es sind. (10. März)[10]
Wenn wir uns bewusst sind, auf wie viele unzählige Arten und Weisen wir im Leben gesegnet sind, dann sind wir wie ein Vermögender, der großzügig ist, ohne Angst zu haben, dass ihm die Mittel je ausgehen werden.
Wenn wir, wenn auch nur einige Augenblicke lang, immer wieder üben, auf unseren Atem zu achten, dann können wir bewusst erleben: Jeder Atemzug fließt als Segen in uns hinein; jeder Atemzug fließt als ein Weitergeben dieses Segens wieder hinaus. (15. August)[11]
Einfach einige Augenblicke lang innehalten und sich der Macht der Liebe öffnen, die das Universum in Gang hält. Ihr Wesen ist still sein und segnen, innehalten und danken. Halte also ein und segne. Halte ein und danke. (11. April)[12]
Wahre Freude und Selbstvergessenheit gehen Hand in Hand. Das Glück kommt daher, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen, dass wir uns auf das uns in jedem Augenblick neu geschenkte Leben verlassen. Wir verlassen uns, da wir nicht völlig auf uns selber eingestellt sind, auf das Leben, auf die anderen, auf die Güte, nicht nur Gottes, sondern des Göttlichen, das uns durch alles zukommt. Wir verlassen uns auf das Leben. (5. Oktober)[13]
Die Quelle des Lebens ist letztlich das, was Menschen, die das Wort «Gott» richtig verwenden «Gott» nennen. Also das ES, das alles gibt, ist das unergründliche Geheimnis, aus dem jeden Augenblick Alles hervorkommt. (30. Juli)[14]
Das «Gekreuzigt» im Credo heißt, dass es nichts im Leben oder im Tod geben kann, in das wir nicht mit Gottvertrauen hineingehen können, kein Unrecht, kein Leid, keine Katastrophen, in denen wir Gott nicht finden können. Im Augenblick seiner äußersten augenscheinlichen Abwesenheit ist Gott gegenwärtig. (18. April)[15]
In Augenblicken, in denen uns unsere tiefste Zugehörigkeit ‒ und somit GOTT ‒ bewusst wird, quillt gläubiges Vertrauen ganz spontan auf. Abraham Maslow spricht da von Gipfelerlebnissen. (21. Juni)[16]
Gelegenheit macht kreativ. Und zwar kreativ in Beziehung. Das ist so ungeheuer wichtig, weil wir hinhorchen auf das Gegebene oder auf den Menschen, der uns da gegenüber steht ‒ jetzt, als gegeben in diesem Augenblick. Und dann werden wir kreativ in unseren Beziehungen zu den anderen Menschen. (14. September)[17]
Je älter man wird, umso mehr wird einem bewusst, wie vergänglich alles ist. Und wenn wir die Vergänglichkeit von jedem Augenblick ‒ von all dem, was uns in einem Augenblick geschenkt wird ‒ wahrnehmen, dann wird es umso wertvoller. (10. April)[18]
Wir beten: Jetzt und in der Stunde unseres Todes. T.S. Eliot, der große englische Dichter, sagt: Die Stunde des Todes ist jeder Augenblick.[19] Denn in jedem Augenblick kommt die Zeit zu Ende und das Jetzt bleibt. Wenn wir also im Jetzt dankbar leben, dann gibt uns das eine ungeheure Freiheit. (8. April)[20]
Wir befürchten, dass der Tod uns wie ein Dieb in der Nacht überfällt, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten zu leben. Diese Furcht ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. (2. November)[21]
Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon im Jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. (11. November)[22]
[Obige Texte sind dem Buch Einfach leben ‒ dankbar leben: 365 Inspirationen (2014) entnommen, siehe die Quellenangaben in Anm. 1-22]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(48:06) Schlusswort von P. Nathanael: Er dankt Bruder David und schließt mit den Zeilen des Gedichtes von Andreas Gryphius ‹Betrachtung der Zeit›:
‹Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Wenn wir das nicht jetzt erleben, kommt es auch in Zukunft nicht! Nur im Augenblick gelingt das Leben.›
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Viertes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(02:05) Sei allem Abschied voran (Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) – Der Augenblick:
(14:37) Bruder David: «‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug›:
Das Glas klingt und zerbricht.
In diesem Augenblick klingen und zu diesem Augenblick sterben, damit wir frei sind und lebendig sind für den nächsten Augenblick.»
(21:00) Teilnehmer: «Wer das Geheimnis des Augenblickes kennt, kennt das ganze Geheimnis des Lebens.»
Bruder David: «Weil das Leben aus Augenblicken besteht.»
(22:24) Bruder David: «Wir kommen mit dem Leben nicht aus, wenn wir nicht das Leben Augenblick zu Augenblick nehmen. Wenn wir immer die ganze Last der Vergangenheit und die die ganze Unsicherheit der Zukunft mittragen müssen.»
(22:59) Bruder David: «‹Zu diesen ‒ Vergangenheit und Zukunft ‒ ‹unsäglichen Summen zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl›: das ist der Augenblick.»
(24:05) Teilnehmer: «Ich habe das einmal erlebt, dass in einem Augenblick, vielleicht in zwei Sekunden, das ganze Leben abgelaufen ist in einer Gefahrensituation. Das ist für mich dieses intensive Erleben dieses Augenblickes, in dem dieser Lebensfilm abläuft.»
Bruder David: «… im Augenblick eben alles schon enthalten ist, zugleich da ist. Im Jetzt. Weil das Entscheidende an jedem Augenblick das Jetzt ist, das Überzeitlichkeit innerhalb der Zeit ist. Und wenn die Zeit dann wegfällt, bleibt nur dieses Überzeitliche für uns. Und so kann man vielleicht irgendwie auch dem näherkommen, dass es für uns möglich ist, in einem Augenblick so viel zu erleben.»]
____________________
[1] Musik der Stille (2023), 72
[2] Musik der Stille (2023), 62; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Lächelnd den Tag aufhellen›, 47
[3] Musik der Stille (2023), 24
[4] Musik der Stille (2023), 19f.
[5] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[6] Ebd.
[7] Musik der Stille (2023), 102
[8] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[9] Sommergrüsse (2012)
[11] Musik der Stille (2023), 83; siehe auch Einladung zur Dankbarkeit (2018): ‹Unerschöpfliche Mittel›, 82
[12] Musik der Stille (2023), 89
[13] Alte Botschaft in eine neue Zeit (1991): Interview von Lorenz Marti mit Bruder David für Radio DRS
[14] Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Vortrag:
(13:39) Nachdenken über den Satz ‹ES gibt mich›.
Siehe auch: Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Vortrag und wortgetreue Mitschrift in den folgenden 8 Audios:
‹Was fördert gesundes spirituelles Wachstum›; siehe auch die (Mitschrift)
[17] Wege zum Glücklichwerden (2012): Vortrag von Bruder David in der Großen Universitätshalle, Salzburg
[18] Ebd.
[19] T. S. Eliot sagt in den Four Quartets: The Dry Salvages, III; siehe auch Doppelbereich Ich-Selbst:
‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.› ‒ ‹And the time of death ist every moment.›
[20] Siehe Anm. 17
[21] Musik der Stille (2023), 108f.
Autorität ‒ Autoritäten
Text, Audio, Video und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB
In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig, jedoch muss man den Begriff der Autorität richtig verstehen, denn heutzutage wird er gewöhnlich falsch verstanden.
Sogar wenn man nach dem Wörterbuch greift und dieses Wort nachschlägt, findet man gewöhnlich als Hauptsinn von «Autorität» angegeben, bei ihr handle es sich um eine Art von «Befehlshoheit»
Aber das ist nicht der ursprüngliche Sinn von Autorität, sondern der lautet:
«feste Grundlage für das Erkennen und Handeln.»
Wir verwenden ihn auch in diesem Sinn. Wenn wir zum Beispiel etwas über unseren Gesundheitszustand erfahren wollen, suchen wir als Autorität dafür einen Arzt auf.
Oder wenn wir etwas erforschen, greifen wir nach einem Buch als Autorität.
Das heißt, wir suchen darin nach einer festen Grundlage für unser Erkennen und Handeln.
Von daher lässt sich dann verstehen, wie wir «Befehlshoheit» erlangen, und das besonders dann, wenn man das auf den kleineren soziologischen Maßstab einer kleinen Gemeinschaft reduziert, also eine Familie, ein Stamm oder ein Dorf. Darin kann es einen Menschen geben, der sich immer wieder als feste Grundlage für das Erkennen und Handeln erweist.
So geht man dann etwa zu einer bestimmten alten Frau, wenn man wissen will, wie man seine Wunden heilen kann ‒ oder wenn man wissen will, ob man einen Krieg gegen ein anderes Dorf führen soll ‒, und sie gibt einem immer die richtige Antwort.
Das heißt also, weil sie eine feste Grundlage für das Erkennen und Handeln darstellt, verleiht man ihr den Rang einer Autorität und gibt ihr Befehlshoheit.
So ist Autorität entstanden, und alle unsere Autoritäten beruhen auf einer derartigen Entstehungsweise.
Aber von da an, wo jemand Autorität verliehen wird, lässt die oder der Betreffende normalerweise nicht mehr so leicht von dieser Macht ab, selbst wenn sie oder er keineswegs weiterhin eine Grundlage von Erkennen und Handeln ist. Auf diese Weise bekommen wir autoritäre Autoritäten.
Die wirkliche, echte Autorität ist so stark, dass sie oder er es sich leisten kann, uns aufzubauen.
Tatsächlich besteht darin der einzige angemessene Gebrauch der Autorität: die der Autorität Unterstehenden aufzubauen.
Autoritäre Autoritäten entbehren dieser Grundlage, und deshalb müssen sie alle anderen klein halten, um sich selbst hochzuhalten, und das ist das Kriterium, anhand dessen man sie unterscheiden kann.
Das ist der Lackmustest für die Unterscheidung von autoritärer Autorität und echter Autorität:
Wenn sie dich aufbaut, ist sie echt; wenn sie dich klein hält, ist sie autoritär. So einfach ist das.
Wenn man gründlich auf das zurückblickt, was Jesus in Bewegung gesetzt hat und was sich immer noch auf unsere Welt auswirkt, stellt man fest, dass es sich dabei um eine Autoritätskrise handelt.
Er war die Art von Prophet, der nicht gesagt hat: «Ich spreche zu euch im Namen der höchsten Autorität, und so komme ich also mit Autorität zu euch.», sondern er berief sich immer auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Zuhörer, und auf diese Weise baute er sie auf.
Deswegen sagten die Leute:
«Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten.»
Genau das brachte ihn in Schwierigkeiten. Sowohl die religiösen als auch die politischen Autoritäten mussten energisch gegen ihn vorgehen, denn jeder, der die Leute auf ihre eigenen Füße stellt, ist für diese Autoritätspersonen gefährlich.
Schließlich schafften sie ihn aus dem Weg.
Aber diese Art von Geist ließ sich nicht töten, weil das der unübertreffliche Geist ist, und er ist heute noch am Wirken.
[Auf dem Weg der Stille (2016), 74-76]
[Ergänzend:
1. Tao der Hoffnung (1994)
Vortrag und Diskussion bei der existential-psychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte und in Königsfeld im Schwarzwald (DE).
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald) Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben
(22:49) Jesus befragt die Autorität und verändert das Autoritäts- und Gottesverständnis seiner Zeit völlig: Anders als ein Prophet oder Charismatiker verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer – Die Pointe der Gleichnisse Jesu – Deine Sünden sind dir vergeben – Dein Glaube hat dich geheilt – Steh auf! (Apg 3,1-10) / (29:00) Konflikte mit den autoritären Autoritäten und das Versagen der von Jesus Ermächtigten: Wer hat dir diese Vollmacht gegeben? (Joh 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66) – Die Fußwaschung passend zu: Auf den eigenen Füßen stehen.
2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (16.11.2019)
Vortrag von Bruder David und Gesprächsrunde (Mitschrift des Vortrages) anlässlich des Forums «Aus Dankbarkeit kraftvoll führen» im Europakloster Gut Aich, Winkl (AT).
(50:35) Frage einer Frau, zusammengefasst von Robert:
«Die Kontrolle abzugeben ist oft so schwer. Ist Kontrolle abzugeben das gleiche wie Macht abzugeben? Wenn ich ins Vertrauen gehe, gebe ich dann automatisch Macht und Kontrolle ab?»
Bruder David: «… Das ist nur eine teilweise Antwort: Man kann sich fragen: Wie soll ich Macht gebrauchen? ‒ Wie soll ich Macht gebrauchen? Da müssen wir uns zuerst einmal bewusstwerden, dass jede und jeder von uns so viel mehr Macht hat als wir überhaupt wissen. Wir wissen vielleicht einiges, aber wir haben noch viel mehr Macht: Wir haben Macht über Menschen, von denen wir gar nicht wissen, dass die zu uns schauen und sich an uns ausrichten usw..
Und wie sollen wir diese Macht verwenden?
Meine Antwort ist: Es gibt nur eine legitime ‒ echte, vom Leben gestattete Weise, Macht zu verwenden, und das ist: Andere zu ermächtigen.
Alles andere: Überwältigung von anderen … Aber das ist eine große Aufgabe. Besonders für Unternehmer und so: Andere zu ermächtigen.»
3. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017):
Bruder David: «Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet.
Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln.
Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie.
Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden.
Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.»
4. Wie das Autoritätsbewusstsein von frühester Kindheit an von Krise zu Krise heranreift bis zum prophetischen Gehorsam des reifen Erwachsenen.]
Berufung
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 27:53-30:18) «Für mich gilt immer noch, was auch für mich als junger Mensch und sicher auch für dich gilt: Wenn wir uns fragen, was sollen wir jetzt weiter machen, kommt immer zuerst die Frage:
Was würde mich wirklich freuen? Das ist das Wichtigste. Das mache ich immer noch. Was soll ich morgen machen? ‒
Was würde mich wirklich freuen?
Aber es ist halt schon mehr Gewohnheit geworden, ich brauche das nicht ausdrücklich zu fragen.
Das zweite ist:
Kann ich es?
Wir wünschen uns manchmal etwas, möchten etwas machen, das wir gar nicht können. Fallschirmspringen oder sonst irgendetwas.
Und die dritte Frage, und die ist die Wichtigste, ist:
Wozu bietet mir jetzt das Leben Gelegenheit,
auf das hinzugehen, was mich am meisten freut?
Und dieses Hinhören, dieses Hinhorchen ist ganz etwas Wichtiges.
Ich habe einmal eine Geschichte gelesen ‒ wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden ‒, dass jemand gesagt hat: ‹Also, was ich mir am meisten wünschen würde, ist, am Meer zu sitzen, zu lesen und sonst nicht viel zu tun zu haben.›
Die Frage ist: Was bietet mir jetzt das Leben als nächste Gelegenheit, dorthin zu kommen? Nachdem er die Annoncen für Berufe in Zeitungen gelesen hat, ist er dann Leuchtturmwächter geworden.»
Olivia: «Ein kreativer Umgang mit den Wünschen.»
Bruder David: «Es sind die kleinen Dinge, die man beachten muss, so kleine Schritte auf das hin, was einen am meisten freut.»[1]
Junge Menschen zur Zeit ihrer Berufswahl fragen mich oft:
«Wie kann ich der Welt am besten dienen?»
Ihr hohes Streben macht mir Freude und ich möchte eine Antwort geben, die ihnen wirklich bei ihrer Entscheidung hilft. Da kann ich nichts Besseres tun, als eine Antwort zu wiederholen, die nicht von mir stammt. Als ein Student Howard Thurman (1899-1981) die dringende Frage stellte: «Was kann ich nur tun, um der Welt zu helfen?» Da antwortete dieser weise Meister: «Tu’, was dir am meisten Freude macht. Die Welt braucht nichts dringender als Menschen, die alles, was sie tun, mit Freude tun.»
Der große Interpret des Heldenmythos, Joseph Campbell (1904-1987), gibt auf seine Weise den gleichen Rat, wenn er sagt:
«Follow your bliss!»
was so viel bedeutet wie «Lass’ dich von deiner Begeisterung leiten.»
Dabei ist freilich Begeisterung mehr als Nervenkitzel. Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht. Unser echtes Begehren sitzt tiefer als unsre Begierden.
Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig ‒ in uns und um uns herum.
Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen. Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören ‒ die Stimme unsres tiefsten Begehrens. Sie wird immer wieder übertönt vom lauten Schreien unsrer Begierden, verstummt aber doch nie ganz.
Begierden kommen und gehen. Um das bleibende Begehren unsres Herzens kennenzulernen, können wir uns also fragen: Wonach würde ich immer noch begehren, wenn all meine Begierden gestillt wären?
Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert. Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen.
Nur was uns zum Äußersten bereit macht, ist unsre wahre Begeisterung; von ihr dürfen wir uns leiten lassen.
Die zweite Frage, die uns helfen kann, unsre Berufung zu erkennen, betrifft unsre Begabung.
Was hat das Leben mir gegeben, um es zielstrebig zu nutzen?
So nüchtern wie möglich sollten wir das erwägen. Es kann ja vorkommen, dass wir einem bewunderten Vorbild nachstreben, das ganz anders begabt ist als wir selber. Auf unsre eigene Begabung aber kommt es an; auch sie ist einzigartig. Es fällt uns vielleicht schwer, an unsre Einzigartigkeit zu glauben. Aber selbst unsre Fingerabdrücke haben nicht ihresgleichen unter all den Milliarden von Mitmenschen, wie viel mehr muss das gelten für das vielfältige Gemisch all dessen, was unsre Begabung ausmacht.
Dazu gehören auch Antrieb, Ausdauer und alles, was wir benötigen, um unsre Talente durch Übung zu verbessern. Ja, sogar unsre Mängel sind ein wichtiger Teil unsrer Begabung. Sie können zum Ansporn werden, sie auszugleichen oder zu überwinden, und diese Bemühung entwickelt in uns eine moralische Kraft, die andren fehlt, weil sie sich nie so anstrengen mussten.
Auch Körperbehinderungen können auf ähnliche Weise zum Ansporn werden, gehören also auch zu dem, womit wir vom Leben beschenkt ‒ begabt ‒ wurden. Wäre Helen Keller (1880-1968) nicht blind und taub gewesen, sie wäre wohl nie die große Schriftstellerin, Aktivistin und von Millionen dankbar bewunderte Ratgeberin geworden.
Ganz gleich wie begabt du bist, es wird Mühe und Ausdauer kosten, aus deinen Talenten etwas zu machen. Mit Fleiß und Geduld kannst du auch gering erscheinende Talente zum Blühen bringen, und sie werden eine reiche Ernte tragen ‒ für dich und für die ganze Welt. Im großen Chor ist jede Stimme unentbehrlich; im großen Tanz ist jede Tänzerin, jeder Tänzer unersetzlich.
Auf unsre dritte Frage können wir erst antworten, wenn wir die beiden ersten beantwortet haben. Wir ahnen dann zumindest die Richtung unsres bleibenden Begehrens, in die unsre tiefste Begeisterung uns führen will. Und wir kennen unsre Stärken und Schwächen, die uns auf dem Weg dahin helfen oder hindern können.
Das sind Voraussetzungen, um weiter zu fragen:
Welche Gelegenheiten bietet mir das Leben,
meinem Ziel näher zu kommen?
In groben Umrissen werden wir diese Gelegenheiten vielleicht voraussehen können, während wir uns in Stille Zeit nehmen zu planen und Überblick über unsre Lage zu gewinnen. Wichtiger aber wird es sein, diese Frage immer wieder neu zu stellen. Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an.
Da heißt es, unser Begehren und unsre Begabung im Auge zu behalten. Nur im Hinblick auf sie werden wir Gelegenheiten erspähen, die wir sonst vielleicht übersehen hätten, jetzt aber unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen.
Alles kommt darauf an, auch unsre kleinsten Entscheidungen von unsrer großen Ausrichtung bestimmen zu lassen. Der Weg zum Ziel besteht ja wie bei einer Wanderung aus vielen kleinen Schritten.
Für die allgemeine Richtung dürfen wir die Kompasslesung nicht vergessen, unser nächster Schritt aber muss dem Terrain an genau dieser Stelle angepasst sein. Was das Leben uns bringt, entspricht dem Terrain ‒ jeden Augenblick ein wenig verändert. Das fordert Achtsamkeit.
Mit Hilfe dieser drei Fragen eine Berufslaufbahn wählen zu können, ist freilich nur einem kleinen Prozentsatz junger Menschen geschenkt. Während diese sich oft überwältigt fühlen von der Überfülle der ihnen gebotenen Auswahl, haben weltweit die meisten überhaupt keine Wahl und müssen froh sein, wenn sie irgendeine Arbeit zum Lebensunterhalt finden. Wir müssen alles daransetzen, eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu ändern, die auf diese Weise gegen die Menschenwürde verstößt.
Und was können wir jungen Menschen sagen, die gar keine Chance der Berufswahl haben?
Wenn wir ihre Lage ernst nehmen, dann zeigt sich: Das Entscheidende an unsrer Berufung sind nicht die äußeren Umstände, sondern unsre innere Haltung.
Unsre eigentliche Berufung ist nicht, was wir tun. Darüber können wir nur in begrenztem Ausmaß entscheiden. Aber wie wir es tun, das steht uns frei. Nicht auf unsren Platz im Kreis der Tanzenden kommt es an, sondern darauf, wie wir tanzen ‒ auf Achtsamkeit und Respekt für alle andren, besonders für die neben uns Tanzenden.
Fernstenliebe ist so viel bequemer als Nächstenliebe. Sie verlangt ja nichts Konkretes von uns. Nur durch unsre Nächsten, unsre Nachbarn im Tanzkreis, die wir an den Händen fassen, sind wir mit allen andren verbunden.[2]
Dein Leben ist untrennbar verbunden mit dem Leben aller andren ‒ dem ganzen Universum. Das allumfassende Leben wird dir schon zeigen, was du mit deinem Anteil am Ganzen tun sollst. Darauf darfst du dich vertrauensvoll verlassen.[3]
Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.
Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die strahlend und als ob sie Alles wüsste
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.
Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.
Gott, du bist groß.[4]
Sagen wir es noch einmal, denn es verdient oft wiederholt zu werden: Wir dürfen dem Leben vertrauen, dürfen uns dem Geheimnis, das uns darin «entgegenwartet»[5], anvertrauen.
Die Antwort auf jede Berufung wird einem Dreischritt folgen: still werden, sonst können wir nicht horchen; hinhorchen, sonst können wir nicht hören, wozu das Leben uns ruft; und antworten auf den gehörten Ruf ‒ innehalten, innewerden und tun. Das gilt für Berufung im Großen, will aber Augenblick für Augenblick im Kleinen geübt werden. Wir nennen diese Übung: Stop ‒ Look ‒ Go.[6]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 6]
[Ergänzend:
1. Weitere Auszüge aus ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern›!› im Buch Orientierung finden (2021), 90f., in Berufung ‒ Folge deinem Stern (2022); 100f. und 95f., in Treue; 97, in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.1.; 99-101, in Dem Leben vertrauen
2. Fünf Schritte, wie du zu deiner Berufung findest (2015)
3. Audios zu ‹Berufung ‒ dem Leben antworten›
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
‹Drei Grundfragen … und Gespräch:
(45:00) Wissen und Weisheit ‒ Intuition, ein inneres Sehen ‒ Weise Menschen sind Herzmenschen / (52:29) Freiheit als Antwort auf die Frage, die das Leben mir in diesem Augenblick stellt / (58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen / (01:12:35) Das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung in der Erziehung von Kindern
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater ‒ Unsere Rollen sind uns weit mehr aufgegeben als wir meinen ‒ Mir ist eine Rolle aufgegeben: Wie kann ich sie gut spielen? ‒ Freiheit ist ein Wesenszug von allem, was es gibt / (42:00) Wir sind zu einem gewissen Grad frei, uns dem Leben hinzugeben oder uns gegen das Leben zu sträuben: Immer wieder ins Jetzt kommen und das Leben durch uns fließen lassen. Im Jetzt sein heißt, sich der Frage, der Aufgabe stellen, die das Leben uns jetzt stellt: ‹Es gibt nichts Gutes, außer man tut es› / (45:19) ‹To live in tune with the world› ‒ ‹Alles ist Schwingung, alles ist Klang›: Im Einklang mit dem Leben tanzen ‒ tanzend arbeiten]
________________
[1] Interview mit Bruder David im Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024)
[2] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 91-95
[3] Ebd. 100
[4] R. M. Rilke, Das Stunden-Buch, in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 73f.
[5] Sinne und Kind werden, Anm. 7:
Das Wort ‹entgegenwarten› stammt von Rilke: ‹Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten.› (R. M. Rilke, Das Florenzer Tagebuch)
[6] Orientierung finden (2021): ‹Berufung ‒ ‹Folge deinem Stern!›, 100f.
Besinnung
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Mittags einen Augenblick lang zur Besinnung innezuhalten ist ein spontanes Bedürfnis des menschlichen Bewusstseins. Da erinnere ich mich an die Weihe von Tetsugen Glassman Sensei zum Abt des Riverside Zendo in New York. Es war eine großartige Feier; aus dem ganzen Land waren Zenlehrer zusammengekommen, um diesen Anlass zu würdigen, und der Raum war voll von Kerzen und Weihrauch, weißen Chrysanthemen und schwarz-goldenen Brokatgewändern. Mitten in den Feierlichkeiten ertönte plötzlich das Piepsen einer Armbanduhr. Alle sahen sich verstohlen um, um festzustellen, welchem Pechvogel das passiert sein mochte, denn eigentlich sollte man im Zendo überhaupt keine Armbanduhr tragen. Zum allseitigen Erstaunen unterbrach der neue Abt selbst die Zeremonie und sagte: «Das war meine Armbanduhr, und es war kein Versehen. Ich habe ein Gelübde abgelegt, am Mittag innezuhalten, ganz gleich womit ich auch beschäftigt sein möge, um Gedanken des Friedens in die Welt zu senden.» Dann lud er alle Anwesenden ein, dies mit ihm gemeinsam zu tun.
Dieser Zwischenfall erinnerte mich daran, dass die Angelusglocken eigentlich ursprünglich dazu vorgesehen waren, zum Gebet für den Frieden einzuladen. lm Kloster waren es die Glocken, die zur Sext riefen, aber sie luden auch alle Dorfbewohner ein, für den Frieden zu beten. Wo immer sich Menschen aufhielten, in den Feldern oder bei ihrer Arbeit, in ihren Geschäften oder zu Hause, wenn sie die Glocken zum Angelus hörten, unterbrachen sie ihre Arbeit und beteten. Das war auch bei den Morgen- und Abendglocken der Fall, aber die Mittagsglocken waren eine spezielle Einladung, für den Frieden zu beten und sich zu verpflichten, andere liebevoll zu behandeln. Ich habe diese Geschichte der Abteinsetzung oft erzählt und immer festgestellt, dass viele gerne mithelfen wollen, diesen Brauch wieder aufleben zu lassen. Schon jetzt beten Menschen auf der ganzen Welt zur Mittagszeit für den Frieden, wie wir es im Kloster seit Jahrhunderten getan haben. Wie schön wäre es, wenn mittags im Radio und Fernsehen Glocken und Geläute von Heiligtümern zu hören wären, die allerorts den Frieden verkünden. [ST 22f., Quelle: MS 5) 95f.]
Buddhismus
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Ich hatte bemerkt, dass für meine buddhistischen Lehrer Schweigen die Zentralstellung einnahm, die der des Wortes in den Amen-Traditionen entsprach.
Nirgends wird das offensichtlicher als in der berühmten wortlosen Predigt des Buddha. Wie kann jemand ohne Worte predigen?
Der Buddha hielt einfach eine Blume hoch. Nur ein einziger seiner Jünger verstand, heißt es. Wie konnte er aber ohne Worte beweisen, dass er verstand? (Und wenn er redet, hat er ja das Wesentliche nicht verstanden.) Er lächelte, wird uns berichtet. Der Buddha lächelte zurück, und in diesem gemeinsamen Schweigen wird die Tradition Buddhas weitergegeben an seinen ersten Nachfolger, an Mahakashypa, den Mönch der verständnisvoll schweigend gelächelt hatte.
Seither, sagt man, wird die buddhistische Tradition schweigend weitergegeben. Oder genauer gesagt, was weitergegeben wird ‒ die Tradition selbst ‒, ist Schweigen.
Das erklärt, was ich mit Eido Shimano Roshi erlebte. Wenn ich meinte, einen Punkt des Zen Buddhismus verstanden zu haben und ihn so genau wie möglich formulierte, um ihn danach zu fragen, lachte er aus vollem Hals und sagte: «Absolut richtig ‒ aber wie schade, dass du es in Worte fassen musst».
Und wenn er selber sich in unseren Gesprächen manchmal vergaß und begann, einen Punkt zu erläutern, erwischte er sich früher oder später dabei und lachte: «Ich mache schon wieder viele Worte. Jetzt bin ich schon ein halber Christ». [CG 1-2) 235f.]
Mir scheint, man könnte die buddhistische Metaphysik die fehlende Theologie Gottes nennen, die Theologie der Stille. Darin, wie die Buddhisten mit der Stille umgehen und sich innerhalb des Wortes auf die Stille konzentrieren, liegt etwas außerordentlich Wertvolles. Das Wort ist Stille, die zu Wort gekommen ist. Wenn man vergisst, dass das wahre Wort aus der Sille kommt und uns in die Stille zurückführt, wird das Gespräch zu einer Plauderei und ‒ allgemeiner betrachtet ‒ wird das Leben oberflächlich. Darum erscheint mir das buddhistische Augenmerk auf dem Schweigen innerhalb des Wortes außerordentlich wertvoll. Der Buddhismus enträtselt die Stille um die Stille. [ST 24, Quelle: SW 65f.]
[Ergänzend:
1. BUDDHISMUS, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 131f.:
«Von den unzähligen Aspekten der vielen Formen des Buddhismus steht für uns in diesem Buch vor allem einer im Mittelpunkt: das Schweigen.
Schweigen ist von Anfang an so grundlegend für den Buddhismus wie das Wort für die Amen-Traditionen [Judentum, Christentum, Islam] und das Verstehen-durch-Tun für den Hinduismus.
Das gilt nicht nur vom ‹vornehmen Schweigen› des Buddha, von seiner Weigerung, auf große spekulative Fragen zu antworten, die sich nicht direkt auf die zentrale Praxis beziehen. Dazu gehören sogar die Fragen nach Gott und nach dem Jenseits.
Schweigen hat vor allem eine positive Bedeutung, so wenn die große Predigt des Buddha, der Bergpredigt vergleichbar, wortlos ist. Er hält nur schweigend eine Blume hoch. Nur einer unter allen Anwesenden verstand diese berühmte ‹Blumenpredigt› und bewies, dass er verstanden hatte, indem er schweigend lächelte. In diesem Augenblick, so heißt es, ging die Tradition von Buddha auf seine lächelnden Nachfolger über.
Das Schweigen ist die Tradition. Die Amen-Traditionen vertrauen auf Gottes Wort; der Buddhismus lässt sich hinunter in das Schweigen, aus dem das Wort aufsteigt.»
2. «Wohin geht der Mensch?» (2022): Im überarbeiteten und ins Deutsche übersetzten Vorwort der Neuausgabe dieses Buches von Hugo M. Enomiya Lassalle, das Bruder David 1988 erstmals für die englische Ausgabe des Buches verfasste, schreibt er:
«Christen erfassen die Letzte Wirklichkeit in theistischen, Buddhisten in nichttheistischen Begriffen; für Zen spielt diese Unterscheidung keine Rolle. Was zählt, ist, dass im Herzen des Buddhismus als auch des Christentums die Erfahrung steht. Und diese Erfahrung ist, im Vollsinn, mystisch.»
3. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview von Marietta Schürholz mit Bruder David:
«Sie stehen gleichsam für die Verbindung von unterschiedlichen religiösen Traditionen, sind Benediktiner Mönch und haben sich zugleich intensiv mit dem Zen Buddhismus beschäftigt. Was hat die Begegnung mit dem Buddhismus für Sie bedeutet?»
«Eine ziemlich ähnliche Frage habe ich einmal Thomas Merton gestellt: ‹Glaubst Du, dass Du über das Christentum sagen könntest, was Du sagst, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre?›
Und Merton hat geantwortet: ‹Ich glaube, dass ich das Christentum nicht so verstehen könnte, wie ich es verstehe, wenn es nicht im Licht des Buddhismus wäre.›
Merton ging es nicht um theologische Aspekte. Für ihn war die Einsicht zentral, dass es auf eine persönliche Beziehung zu ‹den letzten Dingen› ankommt. Es kommt nicht auf eine Lehre an, auf etwas, das man glaubt oder nicht glaubt. Es kommt nicht auf äußere Formen an. Es kommt eine persönliche Beziehung zum Grund an.
Das ist zugleich sehr buddhistisch und auch sehr christlich, urchristlich.
Alan Watts, der den Buddhismus in Amerika bekannt machte, sah die Tatsache, dass sich das Christentum und der Buddhismus getroffen haben, als die wichtigste historische Entwicklung des 20igsten Jahrhunderts an.
Ich sehe das genauso. Diese Begegnung ist ein ganz wichtiger Auslöser für einen Bewusstseinssprung, den wir machen müssen.»
4. Audio TAO der Hoffnung (1994):
Vortrag:
(24:30) Im echten Schweigen kommt das Schweigen zu Wort: Unterschied von Gespräch und Wortwechsel / (26:56) Der Tanz, die Rundbewegung vom Wort ins Schweigen und vom Schweigen ins Wort: Das Verstehen – Verstehen und Tun gehören engstens zusammen / (29:11) Wort – Schweigen – Verstehen in den Primärreligionen und die unterschiedliche Betonung in den westlichen und östlichen Religionen / (31:06) Die Blumenpredigt des Buddha – Zerreisset die Bücher – Wie schade, dass du es sagen musst]
Christuswirklichkeit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
In den persönlichen Erwägungen zum Glauben an «Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn» in seinem Buch Credo bezieht sich Bruder David auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889) in der Übertragung von Andreas Koziol.
Gerard Manley Hopkins (*28. Juli 1844 in Stratford bei London; † 8. Juni 1889 in Dublin) war ein britischer Lyriker und Jesuit, dessen Gedichte vor allem wegen der Lebendigkeit ihres Ausdrucks bewundert werden.[1]
In diesem Gedicht prägt der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sein Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede angezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton.[2]
«Wie Eis-Vögel entbrennen, Libellen-Flug sich anfacht;
Wie ein vom Brunnenrand gestürzter Stein erklingt;
Wie jede Saite, die man anschlägt, ihre Sage singt;
Wie jeder Glocke Zunge deren Erz bekanntmacht;
Tut jedes Ding, das sterblich, dieses eine einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst ‒ ‹ich selbst ward› spricht es vor sich hin;
Ruft: ‹Bin, was ich hier tu, und hierzu hergebracht›.Ich sage mehr: dem Menschen ist Recht verbürgt,
Der Huld erhält: hält Huld sein Tun und Lassen;
Er führt vor Gott das auf, was Gott in ihm bewirkt ‒
Christus ‒ Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
Den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.»«As kingfishers catch fire, dragonflies dráw fláme;
As tumbled over rim in roundy wells
Stones ring; like each tucked string tells, each hung bell's
Bow swung finds tongue to fling out broad its name;
Each mortal thing does one thing and the same:
Deals out that being indoors each one dwells;
Selves ‒ goes itself; myself it speaks and spells,
Crying Whát I do is me: for that I came.I say móre: the just man justices;
Kéeps gráce: thát keeps all his goings graces;
Acts in God's eye what in God's eye he is ‒
Chríst ‒ for Christ plays in ten thousand places,
Lovely in limbs, and lovely in eyes not his
To the Father through the features of men‘s faces.»(Eis-Vogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins, 1844-1889)[3]
Die ersten drei Wörter ‒ «I c h sage mehr» ‒ sind der Wendepunkt dieses Sonetts. Sie fassen alles zusammen, was seine ersten acht Zeilen über das Selbst sagten, und weisen auf das Wesentliche der abschließenden Zeilen hin:
Wo bisher Selbst im Mittelpunkt stand, tritt nun Recht an seine Stelle ‒ nicht aber in dem Sinne, den das Gerichtswesen dem Recht gibt, sondern in dem viel tiefer liegenden Sinn einer inneren Ausrichtung auf Gerechtigkeit.
Recht will hier nicht statisch, sondern dynamisch verstanden werden. Darum prägt der Dichter auch hier ein neues Wort ‒ «justicing» ‒, das zu «selbsten» die gesellschaftspolitische Parallele darstellt und soviel wie «Gerechtigkeit schaffen» bedeutet.
Um das Bewirken echter Gemeinschaft von innen her geht es hier. In gerechter Gemeinschaft besteht das «Mehr», das ich als Mensch sagen kann. Dadurch reicht mein Selbst über das aller anderen Daseinsstufen hinaus.
Jedes sterbliche Ding tut
… dieses einfach:
Es weist das Wesen, welches in ihm Wohnung nimmt
Als Selbst. …
«Ich aber» ‒ als Mensch ‒ «sage mehr: wer gerecht ist, wirkt Gerechtigkeit»,
wie eine wörtliche Wiedergabe der englischen Vorlage lautet.
Sam Keen, ein vielgelesener nordamerikanischer Autor, der sich vorbildlich für eine friedliche, gerechte Gesellschaft einsetzt, sagt mit Nachdruck:
«Ob es uns lieb ist oder nicht, wir gehören alle zu einer Gerechtigkeitsgemeinschaft im Werden.»
Klingt das nicht fast wie ein Kommentar zu Hopkins’ «Ich sage mehr»?
«Selbsten» zeitigt klare Selbst-Aussage jedes Einzelnen. Aber erst wenn wir die uns allen gemeinsame Christuswirklichkeit als unser eigentliches Selbst erkennen, entsteht Gerechtigkeitsgemeinschaft.
Als Glied dieser Gemeinschaft wird ein lebendiges Wesen mehr sagen als: «Ich selbst ward». Was hier ward, ist, «was Gott in ihm bewirkt ‒ Christus» ‒ der kosmische Christus, die innerste Wirklichkeit von allem, was es gibt.
Wo der Dichter hier «Christus» sagt, könnte er unmöglich Jesus sagen. Selbst «Jesus Christus» würde nicht passen.
Es geht um die Christus-Wirklichkeit, an der jedes Selbst Anteil hat, und die darum als innerstes Aufbaugesetz wirkt für die ganze Gemeinschaft des Seins.
In Jesus, wie ‒ potentiell in jedem Menschen, hat Offenheit für das Christus-Selbst sein Ich unendlich erweitert. Das Selbst Jesu Christi fand Ausdruck in seinem Leben und Sterben für eine alles-einschließende Gerechtigkeitsgemeinschaft.[4]
Im Innersten weiß ich ‒ und das Leben zeigt es mir jeden Augenblick neu: Das Geheimnis «will etwas» ‒ es hat eine «Neigung».
«Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er neigt sich Richtung Gerechtigkeit»,
sagte Martin Luther King, der bewundernswerte Blutzeuge für diese Gerechtigkeit. Meine tiefste Beziehung zum Geheimnis sagt mir, dass ich in dieses moralische Universum hineingestellt bin, um meinen Beitrag zu leisten ‒ um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Dynamik des Seins zielt auf Gerechtigkeit ab. Diese Gerechtigkeit in unsren Beziehungen zur Mitwelt und zur Umwelt zu verwirklichen, das ist eine außerordentlich schwierige Herausforderung für uns Menschen. Sie erfordert, dass wir uns immer wieder von neuem am Leben in der Komplexität seiner Einzelheiten ausrichten. Bei dieser Aufgabe ist es hilfreich, wenigstens eine klare Orientierung zu haben ‒ Gerechtigkeit als das Ziel zu erkennen und zu wissen, dass das Geheimnis, das uns zuinnerst miteinander verbindet, uns dieses Ziel setzt. Inwiefern wir dieses Ziel erreichen, ist weniger wichtig, als dass wir mit brennendem Verlangen ununterbrochen danach streben.» [5]
Wie kannst Du, als Leser, das Sonett von G. M. Hopkins verbinden mit Deinem Ich-Bewusstsein, Deinem Selbst-Bewusstsein und Deinem Bewusstsein vom «Christus» in Dir selbst?
«Dem Menschen ist Recht verbürgt», sagt der Dichter. Was bedeutet für Dich persönlich diese tiefste innere Ausgerichtetheit des menschlichen Herzens auf Gerechtigkeit?
Wie siehst Du in diesem Licht das Recht aller auf Würdigung ihrer Person und Gleichberechtigung in der menschlichen Gesellschaft?
Wie setzt sich das um in Dein politisches Handeln? (Nicht handeln bedeutet hier auch handeln, denn es stützt den Status Quo.)
Für Jesus Christus war dies so wichtig, dass er schließlich für seinen gewaltfreien politischen Einsatz mit seinem Leben bezahlen musste.
Auf diese Art sagte Jesus «mehr» und führte vor Gott auf der Bühne dieser Welt das auf, was Gott in ihm bewirkte (und in uns allen bewirken will) ‒ «Christus».[6]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-6)
[Ergänzend:
1. Christus verschmilzt mit ‹Sophia›, der göttlichen Weisheit:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74f.:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Mit dem Bild, dass Christus ‹spielt›, greift Hopkins eine Vorstellung auf, die schon im Neuen Testament anklingt, wo Paulus und besonders Johannes Christus und S o p h i a , die personifizierte göttliche Weisheit, ineinander verschmelzen. Sie greifen da auf eine der entzückendsten Bibelstellen zurück, in der Gottes Weisheit von sich spricht:
‹Die Ewige› schuf mich zu Beginn ihrer Wege,
als Erstes all ihrer Werke von jeher.
Gewoben wurde ich in der Vorzeit;
zu Urbeginn, vor dem Anfang der Welt.
Bevor es das Urmeer gab, wurde ich geboren.
Bevor die Quellen waren, von Wasser schwer.
Bevor die Berge verankert wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.
Noch hatte sie weder Erde noch Felder erschaffen
oder den ersten Staub des Festlands.
Als sie den Himmel ausspannte, war ich dabei,
als sie den Erdkreis auf dem Urmeer absteckte,
als sie die Wolken oben befestigte,
als die Quellen des Urmeers kräftig waren,
als sie das Meer begrenzte, damit das Wasser ihren Befehl nicht überträte,
als sie die Fundamente der Erde einsenkte:
Da war ich der Liebling an ihrer Seite.
Die Freude war ich Tag für Tag und spielte die ganze Zeit vor ihr.
Ich spielte auf ihrer Erde und hatte meine Freude an den Menschen.»
(Buch der Sprüche 8,22-31, Bibel in gerechter Sprache, 2006)[7]
Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Audio Spiritualität und Ökologie; siehe auch im Buch Erkenntnis (2023): Kapitel vier: Natur und Seele, 82-106, das auf dieser Gesprächsreihe basiert:
«Gott ist Weisheit. Weisheit ist Gott. Das eröffnet uns völlig neue Perspektiven. Wir können uns fragen, wohin es uns führt, wenn wir sie im Kosmos entdecken und betrachten, die heilige Weisheit namens sophia.
Für den heiligen Johannes war logos die richtige Übersetzung von sophia. Er bezieht sich dabei mehr auf die Weisheit Gottes im Alten Testament als auf Platons Logos-Philosophie beziehungsweise die griechische Philosophie im Allgemeinen, für die nur das Erklärbare Teil des Wissens sein kann.»
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(35:01) Zwei Blickrichtungen auf Jesus Christus: Er ist einer von uns, die Pointe seiner Gleichnisse, kein Prophet im eigentlichen Sinn und die spätere Deutung in der Logos-Sophia-Theologie (Joh 1)
(38:49) Jesus: Ganz der Vater (Joh 1,18; 10,30) ‒ ‹Die Weisheit hat ihr Haus gebaut› (Spr 8) ‒ ‹Und all denen, die an seinen Namen glauben, gab er Kraft, das zu werden, was er ist› (Joh 1,12)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)
2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 75f. und 71:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Hopkins bereichert den Sinngehalt dieser Bilder noch, indem er betont, dass Christus/Sophia lieblich sei an Aug und Gliedern, die aber ‹nicht seine eigenen› seien ‒ der englische Text sagt ausdrücklich: ‹not his own› ‒ sondern dass diese Augen zu Gesichtern gehören, ‹die ihn menschlich fassen›, wie es in Koziols Übersetzung heißt. So wird Christus sichtbar ‹in Tausenden von Straßen›. Wo immer es Frauen, Männer und Kinder gibt, spielt der eine Christus in allen und jedem, als ob es nur einen einzigen Schauspieler gäbe, der so viele verschiedene Rollen spielt.»
«Gott liebt jeden Menschen so, als ob es nur diesen einen Menschen gäbe. Darin besteht das Herzstück der Lehre Jesu, und dazu bekennen wir uns in gläubigem Vertrauen, wenn wir Jesus Christus Gottes eingeborenen Sohn nennen. Er ist Repräsentant der ganzen Menschheit. Wer auf Gottes väterliche Liebe vertraut, glaubt an sich selbst als ‹einzig geliebtes› Gotteskind.
Aber ist das Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus nicht doch einmalig? Sicher. Aber das gilt für jeden Menschen. Die Beziehung jedes Menschen zu Gott ist einmalig und unauswechselbar, eine immer neue Abwandlung der Christuswirklichkeit, ähnlich wie sich auch Stern von Stern an Glanz unterscheidet. ‹Allen, die ihn aufnahmen› ‒ d.h. allen, die aus der Christuswirklichkeit in ihrem Herzen leben, ob sie Jesus kennen oder nicht ‒ ‹gab er Vollmacht Gottes Kinder zu werden› (Joh 1,12). Oder wie es im ersten Johannesbrief heißt: ‹Sehet, welch eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes genannt werden ‒ und sind› (1 Joh 3,1).»
Gesprächsreihe mit Pater Johannes Pausch (2011)
Demut ‒ der Weg zum Gipfel
Fragerunde:
(01:22:09) In, durch und mit dem Selbst und dieses Selbst nennen wir als Christen ‹Christus›: Und dieses Selbst war auch in Jesus, geht aber über Jesus hinaus und verwirklicht sich auch in uns. Und das war schon dem Paulus ganz klar: Denn er hat nicht nur gesagt: Christus lebt in mir (Gal 2,20) ‒ er hat nicht gesagt: Jesus lebt in mir: Christus lebt in Jesus, Christus lebt in mir, Christus lebt in uns allen ‒, er hat auch gesagt: Wir müssen in unseren Leiden vollenden, was noch am Leiden Christi unvollendet ist (Kol 1,24). Also die Christuswirklichkeit verwirklicht sich in uns allen. Und so beten wir auch ‹In Christus, durch Ihn und mit Ihm›. Das kann alles missverstanden werden, aber so würde ich es verstehen.
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Kath. Akademie Bayern, Kardinal Wendel Haus, München (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(20:55) Christus in uns ‒ Panentheismus
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen: das Christus-Selbst
Spiritualität im Alltag in Dienten (1994)
Vortrag:
(18:52) Das Wesentliche am Christentum ausdrücken mit Mythos, Ethos und Ritus / (20:05) Das Reich Gottes: Wir sind alle eine große Familie im Gotteshaushalt, der vom göttlichen Geist belebt ist, dem Hausfrieden Gottes / (21:52) Das Gebot der Gottesliebe und ‹liebe deinen Nächsten als dich selbst› ‒ ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20) / (24:08) Die Feier der Tischgemeinschaft: Die ganze Welt ist eine Tischgemeinschaft, Gott Gastgeber und Speise zugleich, wir ernähren einander, das ist schon in der Natur vorgegeben
TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(06:38) Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir (Gal 2,20) – Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-16) – Die panentheistische Sicht im Vergleich zum Pantheismus: Wer bin ich denn, dass ich es Gott verweigern sollte, dass Gott ich sein will?
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: Audio 1.2.
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(50:22) Gerade Johannes sagt an der zentralen Stelle im Prolog: ‹Und allen jenen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden› (Joh 1,12), das heißt, genau das zu werden, was er nach dem Johannesevangelium ist: Sohn Gottes.
3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Wo der Originaltext sagt, er spiele v o r dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› ‒ sagt Koziol hier, er spiele d e n Vater, dadurch wie ‹er lebt und stirbt›. Auch das ist theologisch haltbar. In Jesus Christus manifestiert sich ja der un-manifeste Gott, den wir ‹Vater› nennen. Darum sagt Jesus bei Johannes: ‹Philipp, wer mich sieht, der sieht den Vater› (Joh 14,9).»
Religionen ‒ drei Innenwelten:
«Es sei an das erinnert, was hier schon über das Verstehen gesagt wurde: Es ist der Prozess, in dessen Verlauf das Schweigen ins Wort findet und das Wort ins Schweigen heimfindet.
Das liefert uns den Schlüssel zur zentralen Intuition des Hinduismus: Atman ist Brahman ‒ der manifeste Gott (das Wort) ist der nichtmanifeste Gott (das Schweigen) ‒ und Brahman ist Atman ‒ das göttliche nicht Manifeste (das Schweigen) ist das manifeste Göttliche (das Wort).»
An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Wir finden uns in der Unruhe unseres Herzens von einem unauslotbaren Geheimnis umgeben. Wir wissen nicht, woher wir letztlich kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen, wir sind rundum von Geheimnis umgeben. Und je tiefer wir versuchen, dieses Geheimnis zu erfahren, umso mehr kommen wir in Geheimnisse hinein. Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist NICHTS. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.
Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das NICHTS, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar. Dieses MEHR und immer MEHR, das das Göttliche bedeutet, ist in uns selbst.
Das ist die manifestierte Wirklichkeit, wie die Hindus das nennen, im Gegensatz zu der unmanifestierten. Und beide sind unauslotbar, beide Begegnungen mit dem Göttlichen.»
Jesus als Wort Gottes (Salzburger Hochschulwochen 1972), 50f.:
«‹Gott spricht›, dieses ganz prägnante Wort, ist der Schlüssel, der uns das Verständnis aufschließt für die ganze biblische Tradition. ‹Ich habe das Schweigen gehört›, dieses Paradox kann uns als Schlüssel dienen für das Verständnis buddhistischen Sinnerlebens. Ähnlich können wir als Schlüssel (freilich nur als Schlüssel) die immer wiederholte, zentrale Feststellung des Hinduismus betrachten: ‹Atman ist Brahman, und Brahman ist Atman›; oder, wie man sagen könnte: Gott, der sich offenbart, bleibt der verborgene Gott, und Gott als der Verborgene ist wahrlich offenbar; oder: Das Wort ist Schweigen, das zu Wort gekommen ist, und das Schweigen ist Wort, das im Schweigen aufgehoben ist. Indem Gott seine Verborgenheit offenbart, verbirgt er sich in seiner Offenbarung. Das einzusehen heißt verstehen.»
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast im Kardinal König Haus, Wien (AT)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(09:29) ‹Verstehen› im Hinduismus mit Blick auf ‹Ich und der Vater sind eins› (Joh 10,30) und einfache Übung mit einer Blume
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(10:46) Begegnung mit Gott, dem Mehr und immer mehr (Dorothee Sölle)[8] in drei Grunderlebnissen: Die Begegnung mit dem unergründlichen Urgrund von allem ‒ mit dem Unmanifesten, wie die Hindus das nennen ‒, mit der unbegreiflichen Fülle allen Seins ‒ dem manifesten Universum ‒, und mit der Dynamik des unerschöpflichen Lebens, der Lebendigkeit, die das ganze durchpulst: in diesen drei Bereichen, die im Christentum in der Trinitätslehre sich ausdrücken, da tritt diese Gottesbeziehung ein, wird uns ermöglicht: Wenn wir uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Beziehung handelt, um eine dynamische Auseinandersetzung mit diesen Bereichen, nicht um ‹jemanden›, dann wird uns unsere Beziehung zu dem Göttlichen und zu Gott, viel leichter:
Bruder David im buddhistischen Bergkloster Tassajara, siehe im Buch Ich bin durch dich so ich (2016), 94f.:
«Immer wieder steigt in diesen Sommerwochen die Frage in mir auf, warum ich mich als Mönch hier so zu Hause fühle. Ja, der Tagesablauf ist sehr ähnlich wie auf Mount Saviour, aber statt des Chorgebetes sitzen wir auf unseren Kissen im Meditationsraum und versenken uns in was wir Christen das Gebet der Stille nennen. Wir lassen uns in das abgründige Schweigen des Großen Geheimnisses hinunter. Schweigen verbindet: Sehr schnell sind wir hier zu einer echten Gemeinschaft geworden. So wie auf Mount Saviour unser Chorgebet die gemeinschaftsbildende Mitte ist, so ist es hier die schweigende Meditation. Dort rühmt in uns ‒ christlich ausgedrückt ‒ der Heilige Geist durch das ewige Wort den Vater, hier dagegen kehrt das Wort ins Schweigen zurück, also Christus zum Vater. Hier wie dort führt uns die innere Bewegung hinein in ein und dasselbe unergründliche Geheimnis. Ein begriffliches Brückenbauen wird mich noch jahrelange Gedankenarbeit kosten, aber jetzt schon erlebe ich diese Gemeinsamkeit und das fasziniert mich. Was Thich Nhat Hanh in Vietnam erlebte, wird mir in Tassajara bewusst: dass wir durch unser Mönchsein zutiefst verbunden sind ‒ über alle äußeren Unterschiede hinweg. Und diese Gemeinsamkeit ist ein tragender Grund ‒ überzeugender als alle scheinbaren Widersprüche.»
Die Weisheit, die alle verbindet (2010):
(04:29) ‹Wir können uns im Schweigen in den Abgrund Gottes hinunterlassen ohne Ende, nie wird ein Echo zurückkommen› (T. S. Lewis) ‒ jede Tradition kennt das Selbst, das uns alle verbindet, die göttliche Wirklichkeit tief in uns: das Christus-Selbst, die Buddha-Natur, Purusha, I’itoi
4. Christus als Choryphaeos, als Anführer des Reigentanzes:
Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 74, 76:
«... Christus spielt an tausenden von Straßen,
An Aug und Gliedern lieblich, er lebt und stirbt
den Vater durch Gesichter, die ihn menschlich fassen.
Der Originaltext sagt, er spiele v o r dem Vater ‒ ‹to the Father›, eigentlich ‹auf den Vater zu› …
Der kosmische Christus spielt und tanzt i n und d u r c h uns vor dem Vater. Dieses Bild sollten wir tief in uns aufnehmen und mit geschlossenen Augen auf uns einwirken lassen. Was es uns sagen will, ist klar: Der Glaube an Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn schließt niemanden aus, sondern bezieht uns in diese einzigartige Liebe des Vaters zu seinen Kindern ein.
Auf dem Weg der Stille (2023), 20f., siehe den Text von Eve Landis übersetzt in Den großen Tanz beten (1998), siehe auch Dreifaltigkeit: Ergänzend: 2.4.:
«Während einer Predigt unseres Dominikaner-Studentenpfarrers Father Diego hob ich einmal geradezu ab. Mich erfasste ekstatisch die Wahrnehmung, dass wir Gott als den Dreieinen genau deshalb erkennen können, weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Heiligem Geist mit hineingezogen werden. Für Studenten in Wien ist es nicht albern, von Gott zu sagen, dass er tanze. Tanzen ist etwas Ernsthaftes ‒ natürlich nichts Todernstes, aber etwas Lebenswichtiges. Viel später lernte ich den Hymnus über Christus als ‹Lord of the Dance› ‒ ‹Tanzmeister› ‒ kennen, der auf eine alte Shaker-Melodie gesungen wurde.[9]
Ich erfuhr auch, dass der heilige Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert die Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander als eine Art Kreistanz beschrieben hatte: Der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns im Heiligen Geist zusammen mit der ganzen Schöpfung zum Vater zurück.
Wir können von diesem Großen Tanz auch mit den Begriffen Wort, Schweigen und Handeln sprechen: Der Logos, das Wort Gottes, kommt aus dem unergründlichen Schweigen Gottes hervor und kehrt wieder zu Gott zurück, schwer beladen mit der Ernte des zum liebevollen Handeln inspirierenden Geistes. Diese trinitarische Sicht hilft mir auf immer neue Weisen die ‹Kommunikation mit Gott› zu verstehen, die wir als Beten bezeichnen ‒ nicht als eine Art Ferngespräch bis zum Himmel, sondern als das Geschenk, dank der Teilhabe an Gottes Leben immer mehr von Leben erfüllt und lebendiger zu werden.»
Credo (2015): ‹Amen›, 237f.; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.3. und Dreifaltigkeit:
«Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:
Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.
Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.
Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.
Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und ‹Ringa ringa reia› singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:
Der Sohn ‒ Christus als ‹Choryphaeos›, als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.
Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.»
An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen. Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück. Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2
Nachmittag:
(57:38) Der Reigentanz der Trinität und Christus, der Logos: das WORT ist der Choryphaeos, der Anführer im Tanz
Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(51:31) Der Reigentanz der Trinität gespiegelt in den Weltreligionen]
________________________
[1] Gerard Manley Hopkins (Wikipedia)
[2] Siehe Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 66; im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 44, übersetzt Bruder David:
«Jedes vergänglich’ Ding tut eins nur und dasselbe:
stellt, was zutiefst ihm innewohnt, zur Schau:
es selbstet ‒ nennt sich, drückt sich selber aus,
es ruft, ich bin ich selbst: Nur dazu bin ich da.»
«Auf unsre Frage ‹Was?› ruft uns jedes Ding sozusagen seinen einzigartigen Namen zu und wartet nicht darauf, dass wir ihm einen geben. ‹Es selbstet.› Hopkins musste ein neues Wort prägen, um dies auszudrücken. Die Dinge ‹buchstabieren› ihr Selbst, wie er sagt, sie rufen es uns zu mit ihrem ganzen Sein, aber wir können das Wort, das jedes Ding im Innersten ist, nicht begreifen. Es entzieht sich dem Zugriff jeglichen Begriffes. Nur wenn wir uns davon ergreifen lassen, können wir es verstehen. So führt uns also auch die Frage ‹Was?› tief ins Geheimnis.»
Siehe auch Geheimnis: Erg. 3.1. und Anm. 12.
[3] Credo (2015): ‹… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn›, 76f.
[4] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 67-69
[5] Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 48f.
[6] Credo (2015): ‹Und an Jesus Christus›, 69
[7] Im Buch Credo ist der Text aus der Lutherbibel 1554 abgedruckt
[8] Siehe auch die Audios Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
[9] Anmerkung von Bernard Schellenberger: Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.
Common Sense
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Ein alter englischer Spruch lautet: «Common sense is anything but common» ‒ «Common Sense ist alles andere als üblich.»
Darin steckt viel Wahres. Nach Belegen müssen wir nicht lange suchen: Vieles von dem, was in unserer Welt gesagt und getan wird, beruht ganz gewiss nicht auf Common Sense. Dessen werden wir uns in aller Klarheit bewusst, wenn wir den Verstand einsetzen, über den wir selbst verfügen. Wir haben ihn sehr wohl, nur halten wir uns nicht an ihn.
Eine schlichte Redewendung zeigt, dass wir um dieses Spannungsverhältnis wissen. Da schüttelt ein Freund uns an den Schultern und ruft uns verzweifelt zu: «Um Himmels willen, besinn dich doch endlich auf deinen gesunden Menschenverstand», deinen Common Sense!
Das impliziert doch, dass wir durchaus den Common Sense hätten, den wir brauchen, wir müssten ihn nur wirklich einsetzen. Nicht an Common Sense fehlt es, sondern an der Bereitschaft, ihn entsprechend zu leben. Warum ist das so? Worin besteht unser Problem?
Wenn wir sagen, wir müssten bloß unseren gesunden Menschenverstand benutzen, und das in dem Sinn meinen, wie wir einen Schraubenschlüssel handhaben, um ein undichtes Wasserrohr zu reparieren, sind wir auf dem Holzweg.
Wirklich Common Sense einzusetzen bedeutet viel mehr: Es bedeutet, aus ihm heraus zu leben, ihn zu atmen, so wie wir die Luft atmen, an der alle Lebewesen Anteil haben.
Seinen gesunden Menschenverstand anzuwenden heißt, gemäß etwas Verstandenem zu leben.
«Verstehen» ist eine lntensivform von «Stehen».
Um etwa den Wald zu verstehen, müssen wir tief in ihm stehen, lange und still. Oder um den Fluss zu verstehen, müssen wir in ihn eintauchen, uns in ihm versenken ‒ so wie in Musik oder in ein Buch, das wir verstehen wollen. Um einen Berg zu verstehen, genügt es nicht, seinen Namen zu kennen oder vom Tal aus hinaufzuschauen, sondern wir müssen ihn besteigen, müssen auf dem Gipfel stehen. Und so müssen wir auch mit beiden Füßen in der Welt stehen, bevor wir sie verstehen können als das Haus, das Heim, zu dem sie uns wird, wenn wir unseren Hausverstand, unseren gesunden Menschenverstand, unseren Common Sense anwenden.
Unsere Vernunft vernimmt nur den Auftrag; unser Verstand führt den Auftrag aus.
Gesund kann unser Menschenverstand nur sein, wenn er sich nicht allein im Hirn befindet, sondern von Herzen kommt ‒ vom Herzen als dem innersten Lebensbereich, in dem wir mit allem Leben auf der Welt zutiefst eins sind.
Bevor wir Common Sense - Gedanken haben können, müssen wir also ein Gespür für das entwickeln, was common, was uns allen gemeinsam ist. Wie sollten wir denn erwarten können, dass Common Sense in unsere Köpfe einzieht, wenn wir unsere Herzen noch gar nicht weit aufgetan, noch nicht tief durchgeatmet und noch kein Gefühl dafür bekommen haben, was uns allen gemeinsam, was uns allen common ist?
Um uns die Gemeinsamkeit allen Lebens deutlich vor Augen zu führen, brauchen wir uns bloß an einen Feldrain oder einen Waldrand zu setzen. Unser Blick fällt auf Wiesen, Sträucher und Bäume.
Je genauer wir aber hinschauen, desto mehr entdecken wir.
Die Wiese besteht aus Gräsern und unzähligen Kräutern und Blumen: Da wachsen Wegerauten, Löwenzahn, Hahnenfuß, Wiesenschaumkraut und Thymian; dazwischen hat sich Moos angesiedelt, in dem Ameisen umherkrabbeln. In einer Astgabel der Haselstaude spannt eine Spinne ihr Netz. Ein Rotkehlchen hüpft von Zweig zu Zweig. Käfer klettern über grobe von Flechten bedeckte Steine. Alle diese Pflanzen und Tiere stehen in engster Wechselbeziehung zueinander und zu ihrer Umwelt, zu Erde und Sonnenlicht, Tau, Regen und Wind.
Das Ganze funktioniert aber nicht nur mechanisch, sondern wird von einem gegenseitigen Einvernehmen gesteuert, zu dem jedes Lebewesen seinen Teil beiträgt ‒ und das Ganze ist doch mehr als die Summe aller Teile. Die Wiese am Waldrand ist ein einziger großer summender Haushalt und er wird zusammengehalten und gelenkt von einem einzigen vibrierenden Common Sense.
Doch machen wir uns nichts vor. Die Harmonie, wie wir sie in der Natur vorfinden, unterscheidet sich von unserem romantischen Wunschdenken. Der Löwe ruht keineswegs friedlich neben dem Lamm ‒ und auch nicht das Rotkehlchen neben dem Regenwurm oder die Katze neben dem Rotkehlchen. Unser Begriff «Nahrungskette» ist allzu steril-distanziert; er lässt uns die gnadenlose Tatsache vergessen, dass Lebewesen davon leben, einander zu töten und gegenseitig aufzufressen.
Die Natur lebt nach dem großen Gesetz vom Fressen und Gefressenwerden.
Warum aber das Ganze nicht als einziges großes Mahl betrachten ‒ sogar als Hochzeitsmahl?
Die Geschöpfe feiern auf Kosten anderer, mit ihresgleichen sind sie in Intimität verbunden. Jede einzelne Blume auf der Wiese signalisiert in strahlender Unschuld ihre nackte Geschlechtlichkeit ‒ bevor sie von einer Kuh gefressen wird. Das Gesumme und Gebrumme auf der Wiese ist Hochzeitsmusik. Jedes Lebewesen ist eingestimmt auf die Harmonie dieses grausam-freudigen Tanzes aller mit allen.
Alle ‒ außer uns Menschen. Wir sind bei diesem Tanz die einzigen Ungeschickten, die einzigen, die aus Takt und Rahmen fallen.
In unserer Einzigartigkeit liegt unsere Größe, aber auch die Gefahr für uns. Wir neigen dazu, die Tatsache, dass wir anders sind, mit der Illusion zu verwechseln, dass wir außerhalb oder über dem anderen stehen. Plötzlich hören wir dann nicht länger den großen Rhythmus des Ganzen und geraten im kosmischen Tanz aus dem Takt.
Einfache Menschen haben es leichter. Dabei heißt «einfach» nicht: einfältig oder ungebildet. Der Dalai Lama etwa zeigt das Beispiel echter Einfachheit, die sehr wohl mit höchster Bildung vereinbar ist. Nicht hohe Intelligenz steht der Einfachheit im Weg, sondern der Umstand, sich selbst zu wichtig zu nehmen ‒ mit all seinen negativen Konsequenzen.
Je weniger wir uns selbst wichtig nehmen, desto einfacher werden wir. Wir lassen dann die engen Grenzen unseres kleinen Ichs hinter uns und betreten die weiten, offenen Räume unseres wahren Selbst.
Einfachheit dieser Art schenkt uns innere Weite und ein immer tieferes Bewusstsein dessen, dass wir mit allem Lebendigen eins sind. Wer sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt, atmet freier und gewinnt erst von da aus in der Einschätzung anderer wirklich an Gewicht. Menschen, die so leben, spürt man es an, dass sie sich im Universum zu Hause fühlen, und dann fühlt man sich auch bei ihnen zu Hause.
Sie sprechen so, dass auch der einfachste Mensch sie verstehen kann, denn sie sprechen mit dem gesunden Menschenverstand, mit dem Common Sense. Ein Schweizer Sprichwort sagt es ausdrücklich: «Me cha mit em Veh rede, we mer Mänscheverstand het.» ‒ «Man kann mit dem Vieh reden, wenn man Menschenverstand hat.»
Menschen zu begegnen, die dank ihres Common Sense diese Sprache fließend sprechen, ist eine Gnade.
Ein solcher Mensch ist mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben: unsere bucklige Nachbarin, Frau Schliffsteiner. Sie konnte wirklich mit dem Rindvieh reden, aber auch mit Katzen und Hunden, mit ihren Ziegen, mit Spatzen, Tauben und Krähen, mit den Kröten im Garten und den Topfpflanzen auf ihrem Fensterbrett. Vor allem aber konnte sie mit allen Arten von Menschen reden: von Kurtl, dem gutmütigen Dorftrottel, bis zum Herrn Oberlehrer unserer zweiklassigen Volksschule, und der war wirklich jemand (er konnte sogar Klavier spielen).
In aller Einfachheit begegnete sie jedem als einem Mitglied ihrer großen Familie, zu der ganz selbstverständlich auch Tiere und Pflanzen gehörten. Sie schien deren Geheimnisse zu kennen. Sie wusste über Kräuter Bescheid, aus denen sich Tee gegen dieses oder jenes Leiden bereiten ließ, und über die Blätter, die zur Heilung halfen, wenn wir Buben uns wieder einmal in den Finger geschnitten hatten. Früher hätte man sie wohl der Hexerei verdächtigt, sie war aber jedenfalls eine gute Hexe, eine weise Frau.
Ihre Nachbarn tranken gern Kaffee mit ihr und erzählten ihr stundenlang von allem, was ihnen auf dem Herzen lag. Nachher fühlten sie sich immer erleichtert. Eines steht jedenfalls fest: Niemand kam um ihres Kaffees willen, denn der war ein jämmerliches Gebräu aus allerhand Zusätzen und den wenigen Kaffeebohnen, die sie sich leisten konnte.
Was sie ihren Gästen gab, war ein Gefühl des Daheimseins. Bei ihr konnte man die heilsame Luft des Common Sense atmen. Das ist es ja, was wir zur Heilung von Leib, Seele und Geist brauchen. Ein indisches Sprichwort drückt es so aus: «Ein Viertel Medizin und drei Viertel Common Sense.»
Common Sense wirkt heilend, weil er mehr ist als eine bestimmte Art des Denkens; er ist eine bestimmte Art, zu leben, zu handeln und alles so zu tun, wie es seinem eigentlichen Sinn entspricht, und es spontan zu tun, selbstvergessen, mühelos.
Manchmal erleben wir das, wenn wir etwa beim Skifahren, beim Tanzen oder sogar beim Tippen auf dem Computer den Punkt erreichen, ab dem wir «in Schwung» kommen: Dann geht alles plötzlich wie von selbst; alles fließt mit Leichtigkeit, ereignet sich im richtigen Augenblick und ganz so, wie es sein soll.
Wir müssen uns nur vorstellen, wie es wäre, wenn wir auf diese Weise in diesem Fluss bleiben und uns selbst dabei spontan selbst ganz vergessen könnten.
Würde nicht die Kraft und Leichtigkeit dieses Fließens:
unseren Geist sprühen lassen,
unserer Seele Frieden bringen,
unserem Verstand Wachheit
und unserem Leib Heilung?
Das gelingt wohl nur wenigen über einen längeren Zeitraum, aber für uns alle ist das erstrebenswert.
Eine einzige Lebensspanne wird kaum ausreichen, um sich ganz auf die Harmonie des Universums einstimmen zu können.
Aber bereits das Bewusstsein eines ersten Mitschwingens mit der Musik des Universums können wir so erleben, dass es uns vorkommt wie das Erwachen aus tiefem Schlaf und Traum.
Davon sprach bereits zu Beginn der griechischen Philosophie Heraklit:
«Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, von den Schlafenden aber wendet sich jeder seiner eigenen zu.»
Die Bantu in Afrika drücken es in einem Sprichwort noch kräftiger aus:
«Es gibt vierzig Arten des Verrücktseins, aber nur eine Art von gesundem Menschenverstand.»
Heraklit klagte:
«Obwohl der Logos allen gemeinsam ist, leben die meisten so, als besäße jeder eine Privatintelligenz für sich.»
Und er fügte hinzu:
«Wir sollten uns leiten lassen von dem, was allen gemeinsam ist.»
Dieses Leitprinzip, diese innere Weisung, «die alle Menschen der Welt zum Einklang der Herzen führt», nannte Laotse «Dao» (ältere Schreibweise: Tao).
Dieser uns allen gemeinsame Sinn und Instinkt für das Richtige und für das kosmisch wie individuell Sinnvolle findet besonders treffend Ausdruck in dem englischen Begriff Common Sense. [Common sense (2014): «Was ist Common Sense?», 21-29]
[Ergänzend:
1. Hausverstand, Liebe, Zugehörigkeit
2. Common sense (2014): Vorbemerkung des Übersetzers, 7-8:
«In diesem Buch lotet David Steindl-Rast die spirituellen Tiefen des englischen Begriffs ‹Common Sense› aus:
Dabei spielt er mit Gedankenverknüpfungen und paradoxen Redewendungen.
‹Common Sense› heißt korrekt ins Deutsche übersetzt ‹gesunder Menschenverstand›, allgemeiner auch ‹Gemeinsinn›. Beide Begriffe taugen jedoch nicht für die Entdeckung in diesem Buch.
Common Sense lässt sich überhaupt nicht angemessen ins Deutsche übersetzen, ohne dass Bedeutungsnuancen auf der Strecke bleiben.
Beispielsweise verliert Sir John Templetons Spruch ‹Common sense is not common› seinen Witz, wenn er mit ‹Gesunder Menschenverstand ist nicht allgemein verbreitet› übersetzt wird.
lm Begriff Common Sense schwingen unterschiedliche Bedeutungen mit: allgemein richtiges, gesundes Empfinden, stärker noch: Sinn für das Ganze, Gespür für die Verbundenheit mit allem, von allen als wahr und richtig Erkanntes, Sinn für die Vernetzung und Gemeinschaft des gesamten Kosmos, alle und alles verbindender tiefster inspirierender Sinn.
Dieser Aspekt des ‹Common›, des Gemeinsamen, des Verbundenen und Verbindenden, der Vernetzung des gesamten Universums, ist ein zentrales Thema heutiger Spiritualität und genau davon handelt dieses Buch.
Der deutsche Begriff ‹gesunder Menschenverstand› drückt diese Bedeutung nicht aus, jedenfalls nicht vordergründig.
Genau besehen geht es natürlich auch beim gesunden Menschenverstand um mehr als den bloßen Verstand: Es geht um den Menschenverstand, und zwar den gesunden, und dieser nährt sich letztlich aus dem, womit wir Menschen uns als verbunden erleben: aus dem Gespür für das Ganze und für die eine, gemeinsame Wahrheit der Dinge und des Lebens.
Die deutschen Übersetzungen ‹Gemeinsinn› oder ‹Gemeinsamkeit› können ebenfalls nicht angemessen wiedergeben, was mit ‹Common Sense› gemeint ist.
‹Gemeinsinn› lässt zu vordergründig an soziales und politisches Engagement, Ehrenamt und Sorge umeinander denken, während ‹Common Sense› das Gespür und die Inspiration meint, die dazu führen.
Ähnlich vordergründig bleibt ‹Gemeinsamkeit›.
Daher wird es das Beste sein, den Begriff ‹Common Sense› in der deutschen Ausgabe dieses Buches als eine originelle Perle der englischen Sprache beizubehalten. Er macht uns reicher; jede Übersetzung ließe uns ärmer bleiben.
Bernardin Schellenberger»
3. Unsere Zukunft: Das Reich des Kindes (1987):
«Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben. So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.»
4.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen / (16:37) Ordnung als Zustand, in dem jedes Ding dem andern den ihm angemessenen Platz zugesteht ‒ Das Hochzeitsfest in der Natur
4.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(4. Juni 2011) Vertiefungsseminar:
(14:48) Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XI und XX): Das Hochzeitsmahl in der Natur: wenn Tiere einander fressen und Gründe für eine vegetarische Lebensweise]
dankbar leben
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Dankbarkeit beginnt im Bereich der Sinne, mit jener staunenden Freude, die sich am Sinnlichen ganz von selbst entzündet. Wer das bezweifelt, braucht nur ein Fußbad zu nehmen. Da wird Dankbarkeit ganz spontan lebendig. Wenn Herz und Mund es nicht tun, so fangen wenigstens die Zehen an, auf ihre Art dankbar zu singen. [AH 1-2) 85; 3-5) 82]
Auf meinen Reisen merke ich, wie leicht es ist, die Aufmerksamkeit zu verlieren. Die Übersättigung unserer Sinne führt dazu, dass unsere Wachsamkeit eingeschläfert wird. Eine Flut von Sinneseindrücken neigt dazu, unser Herz von der konzentrierten Achtsamkeit abzulenken. Das schenkt mir eine neue Wertschätzung der Eremitage und ein neues Verständnis dafür, worum es in der Einsamkeit geht. Der Eremit ‒ der Eremit in jedem von uns ‒ läuft nicht vor der Welt davon, sondern sucht nach dem stillen Punkt im Inneren, worin man den Herzschlag der Welt vernehmen kann. Wir alle ‒ jede und jeder in anderem Maß ‒ bedürfen des Alleinseins, weil wir uns unbedingt in die Achtsamkeit einüben müssen. Wie soll das praktisch aussehen?
Gibt es für die Kultivierung der Achtsamkeit eine Methode?
Ja, dafür gibt es sogar viele Methoden. Diejenige, die ich gewählt habe, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit kann man praktizieren, kultivieren, lernen.
Je stärker unsere Dankbarkeit wächst, desto stärker wird auch unsere Achtsamkeit.
Ehe ich morgens die Augen aufschlage, mache ich mir bewusst, dass ich Augen habe, jedoch Millionen meiner Brüder und Schwestern blind sind, und zwar die Mehrzahl von ihnen aufgrund von Bedingungen, die sich verbessern ließen, wenn nur unsere Menschheitsfamilie zu Verstand kommen und ihre Ressourcen vernünftig und gerecht einsetzen würde. Wenn ich mit diesen Gedanken die Augen aufschlage, sind die Chancen groß, dass ich für das Geschenk, sehen zu können, dankbarer bin und aufmerksamer für die Bedürfnisse derer, denen dieses Geschenk fehlt. Bevor ich abends das Licht ausschalte, vermerke ich in meinem Taschenkalender immer eine Sache, für die ich noch nie dankbar war. Das übe ich schon jahrelang, und der Vorrat an Themen kommt mir immer noch unerschöpflich vor.
Die Dankbarkeit bringt Freude in mein Leben.
Wie könnte ich mich über etwas freuen, das ich für selbstverständlich halte? Seit ich damit aufgehört habe, etwas als «selbstverständlich» anzusehen, kommen die Überraschungen, die ich finde, an kein Ende.
Eine dankbare Einstellung ist etwas Kreatives, denn letztlich ist die Gelegenheit dazu das Geschenk, das in jedem uns geschenkten Augenblick steckt. Das bedeutet meistens, dass sich uns Gelegenheiten bieten, etwas mit Freude zu sehen, zu hören, zu riechen, zu tasten und zu schmecken.
Habe ich mir aber erst einmal angewöhnt, immer neue Gelegenheiten dafür zu finden, so werde ich recht kreativ darin, diese sogar in unangenehmen Situationen zu entdecken.
Doch das Wichtigste daran ist: Dankbarkeit verstärkt diesen Sinn für das Dazugehören, von dem ich ganz zu Anfang gesprochen habe.
Es gibt kein engeres Band als dasjenige, das die Dankbarkeit feiert, nämlich das Band zwischen Geber und Danksagendem.
Alles ist Gabe, ist Geschenk.
Ein dankbares Leben ist eine Feier des allumfassenden Gebens-und-Nehmens des Lebens, ein grenzenloses «Ja» zum Dazugehören. [Auf dem Weg der Stille (2016), 88-90]
Alles ist unentgeltlich, alles ein Geschenk. Der Grad, in dem wir für diese Wahrheit aufgewacht sind, ist das Maß unserer Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist das Maß unserer Lebendigkeit. [FN 1) 15; 2-5) 15; 6) 18]
Bei den meisten Menschen quietschen die glorreichen Pfortenflügel der Wahrnehmung in rostigen Angeln. Ungemein viel Lebensglanz wird recht fruchtlos für uns vergeudet, weil wir mit gedrosselten Sinnen halb blind und halb taub herumtappen und vor lauter Gewohnheit ganz benommen sind. Wie ungeheuer viel Freude verpassen wir, wie viele Überraschungen bemerken wir gar nicht! Das ist, als wären unter jedem Busch Ostereier versteckt, aber wir sind zu faul, um sie zu beachten.
Doch das muss nicht so sein. Genau wie eine sich ausbreitende Krankheit können wir auch unsere fortschreitende Benommenheit beheben, ja können diesen Prozess sogar umkehren und die Heilung einleiten.
Wir können vorsätzlich täglich auf einen bestimmten Duft achten, auf einen Klang, den wir bislang noch nie genossen hatten, auf eine Farbe oder Form, eine Struktur oder einen Geschmack, die wir noch nie beachtet hatten. Versuchen Sie nur eine Woche lang, jeden Tag je ein anderes Ihrer Sinnesorgane bewusst einzusetzen, etwa am Montag das Riechen, am Dienstag das Schmecken und so weiter.
Die Freude fängt jenseits des Glücklichseins an. Freude ist das Glück, das nicht von dem abhängt, was gerade geschieht. Sie entspringt der Dankbarkeit.
Wenn wir anfangen, alles für selbstverständlich zu halten, verfallen wir in Langeweile. Aber alles in uns sehnt sich danach «Leben zu haben, und es in Fülle zu haben» (Joh 10,10).
Der Schlüssel zum Leben in Fülle ist die Dankbarkeit.
Machen Sie den folgenden Versuch: Halten Sie inne und denken Sie nach, bevor Sie morgens die Augen aufschlagen. Denken Sie daran, dass es auf dieser Welt Millionen von blinden Menschen gibt. Wenn Sie Ihre Augen etwas länger geschlossen halten und noch etwas weiterdösen, werden Sie sie dann sogar noch dankbarer aufschlagen. Sobald wir einmal unser Augenlicht nicht mehr für selbstverständlich halten, geht uns auf, was für ein Geschenk unsere Augen sind, und dass wir sie bislang noch gar nicht als solches wahrgenommen hatten.
Ein Geschenk als solches zu erkennen, ist der erste Schritt zur Dankbarkeit. Da die Dankbarkeit der Schlüssel zur Freude ist, halten wir diesen Schlüssel zur Freude in unseren Händen, also zu dem, was wir uns am meisten wünschen. [Auf dem Weg der Stille (2016), 97-99]
[Ergänzend:
Dankbarkeit mit ergänzenden Hinweisen zu Videos, Audios, Interviews und weiteren Texten]
Dankbarkeit
Text, Videos, Audios, Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Was verstehen wir eigentlich unter Dankbarkeit?
Tägliche Erfahrung zeigt uns, dass das Gefühl der Dankbarkeit spontan in uns aufsteigt, wenn wir etwas Wünschenswertes als reines Geschenk erhalten.
Diese beiden Elemente müssen zusammenkommen: Was wir empfangen, muss uns wünschenswert, also wertvoll erscheinen, und zugleich unverdient.
Je mehr wir das Geschenk schätzen und je klarer uns bewusst ist, dass wir keinen Anspruch darauf haben, desto größere Dankbarkeit löst es aus.
Wir gehen oft wie Schlafwandler durch unsre Tage, nehmen, was das Schicksal uns schenkt, als gegeben hin, solange es uns angenehm ist, oder meinen gar, ein Anrecht darauf zu haben, und beklagen uns über alles Unangenehme und Schwierige.
Wenn wir aber aus diesem stumpfen Dahindösen aufwachen, wird uns bewusst, dass das Leben selbst das wertvollste Geschenk ist, ein Geschenk, das uns völlig unverdient täglich neu und verschwenderisch zuteilwird.
Dieses Aufwachen löst eine Dankbarkeit aus, die unsre Lebenshaltung von Grund auf verändern kann. Dann wird Dankbarkeit weit mehr als ein gelegentliches Gefühl. Sie kann zu unsrer Grundhaltung werden, so dass wir das ganze Leben dankbar feiern. In diese Richtung, das spüren wir jetzt, führt der Weg zu erfülltem Leben. Von nun an kennen wir unser Ziel: dankbar leben.
Aber schauen wir dabei nicht durch eine rosarote Brille? Können wir wirklich dankbar sein für alles, was uns das Schicksal schenkt?
Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Es gibt vieles, wofür niemand dankbar sein kann. Das bezieht sich aber nur auf die Verpackung. Das Geschenk selbst ‒ ganz gleich, wie die Verpackung aussieht ‒ ist immer die wertvolle Gelegenheit, die das Leben uns dadurch bietet.
Beide Arten von Geschenken ‒ solche, für deren Verpackung wir dankbar sein können, aber auch solche, bei denen das nicht möglich ist ‒ enthalten das eigentliche Geschenk: Gelegenheit.
Meist ist dies die Gelegenheit, uns einfach dran zu freuen.
Das merken wir aber erst, wenn wir anfangen, Dankbarkeit zu üben.
Dabei wird uns nach und nach bewusst, welch kostbare Geschenke wir bisher unbeachtet als selbstverständlich hingenommen haben.
Jetzt erwachen unsre Sinne und bemerken mit Staunen und Freude die unzähligen Gelegenheiten, aus Freudenquellen zu trinken: Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, betasten ‒ Gelegenheiten, uns zu freuen, auf die wir bisher kaum geachtet haben. Unsre Sinne erwachen. Wir entdecken zunehmend mehr von der Fülle unsrer Lebendigkeit.
Selbst wenn uns etwas zustößt, wofür wir nicht dankbar sein können ‒ etwa Mobbing, Betrug oder Untreue im Privatleben, oder im öffentlichen Leben Gewalttätigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung ‒ auch in dieser «Verpackung» bietet uns das Leben zugleich das Geschenk der Gelegenheit.
Es kann die Gelegenheit sein, innerlich zu wachsen, Geduld und Mitgefühl zu lernen, zu vergeben, aber auch zu protestieren, sich zu verteidigen, Unterschriftslisten zu unterzeichnen, bei Demonstrationen mitzumachen ‒ friedlich, aber entschlossen und tatkräftig.
Für all diese Gelegenheiten können wir in der Tat dankbar sein. Freilich kann es anfangs schwierig sein, die Gelegenheit überhaupt zu bemerken, und selbst wenn uns das gelingt, kann es uns immer noch schwerfallen, uns dankbar zu erweisen, indem wir diese Gelegenheit auch nutzen.
Aber selbst wenn wir uns dankbar erweisen für die Gelegenheit, können wir uns dabei wirklich dankbar fühlen?
Können wir Freude empfinden, mitten in einer schlimmen Lage?
Ja, das können wir!
Freude ist mehr als Glück. Freude ist das Glück, das nicht davon abhängt, ob uns etwas glückt oder nicht. Freude ist die Art von Glück, nach der sich unser Herz sehnt: dauerhaftes Glück.
Gesundheit kann zu Krankheit werden, Wohlstand zu Elend, Glück zu Unglück.
Aber mitten in diesem Auf und Ab erfüllt Dankbarkeit unser Herz mit einer stetigen, stillen Freude.
Wir können nicht darüber glücklich sein, dass wir an einer schweren Krankheit leiden. Aber wir können auch diesem Unglück kreativ begegnen: Wir können darin überraschende Gelegenheiten entdecken und sie nutzen. Das wird uns, trotz allem, eine tiefe Freudigkeit schenken.
Jede Gelegenheit, für die wir dankbar sind, löst Freude in uns aus, selbst mitten im Unglück.
Durch eine außerordentlich schwere Krebserkrankung kam eine junge Frau in Verbindung mit einer Organisation, die solchen schwerkranken Menschen hilft, sich auf gesunde Ernährung umzustellen, gesundes Atmen, Meditieren, Spielen und Tanzen zu erlernen und ihre schiefgelaufenen Beziehungen zu heilen und in vielen andren Bereichen ihr Leben in Ordnung zu bringen.
Zuerst skeptisch sagte die Frau nach einigen Wochen, sie sei jeden Tag voll Dankbarkeit, dass die Krankheit ihr die Gelegenheit geschenkt habe, eine ganz neue Lebendigkeit zu entdecken.
Wir meinen, dass Glück uns dankbar macht. Aber schauen wir doch genauer hin.
Es ist umgekehrt: Dankbarkeit macht uns glücklich - mit dem bleibenden Glück, das wir Freude nennen.
Wir alle kennen wohl Menschen, die reichlich besitzen, was glücklich machen könnte, und die dennoch keineswegs glücklich sind.
Andre dagegen strahlen mitten in den schwierigsten Lebenslagen Freude aus. Warum? Weil sie mitten im Unglück Gelegenheiten dankbar nutzen, während die andren ihr Glück als selbstverständlich betrachten, noch weitere Ansprüche ans Leben stellen und immer unzufrieden bleiben.
Dass wir mit Recht Ansprüche ans Leben stellen können, ist eine weit verbreitete Täuschung und führt zwangsläufig zu Enttäuschung.
Genau das Gegenteil von Anspruchsverhalten ist dankbares ‒ und dadurch erfülltes ‒ Leben. Zu erfülltem Leben gehört freilich auch, dass wir Menschenrechte und -pflichten in der Gesellschaft klar ins Auge fassen und uns für ihre Verwirklichung einsetzen.
Es kommt oft vor, dass Touristen aus wirtschaftlich privilegierten Ländern die strahlende Freude der Menschen in Ländern, wo es selbst am Nötigsten mangelt, einfach nicht fassen können. Diese Freude hat einen Grund. Hast du jemals beachtet, wie die Freude der Dankbarkeit in deinem eigenen Herzen entsteht?
Zuerst fühlst du, wie die Wertschätzung für das Geschenk ‒ auch wenn es nur das Gänseblümchen ist, das ein Kind dir entgegenhält ‒ in dir aufsteigt und in aller Stille dein Inneres füllt ‒ füllt bis zum Überfließen.
Das ist der entscheidende Augenblick ‒ ähnlich dem Augenblick, in dem das Wasser, das lautlos in einem Brunnbecken aufsteigt, plötzlich den Rand übersteigt, laut plätschernd, sprudelnd und im Sonnenlicht glitzernd.
In einer wohlhabenden Gesellschaft kommen Gefühle dieses herrlichen Überströmens nie zustande.
Gerade im Augenblick, wenn Wertschätzung in Freude übergehen will, meldet sich laut die Reklame. Sie brüllt uns in die Ohren, dass es ja ein neueres, größeres, besseres Modell gibt, das wir unbedingt haben sollten. Genau dann also, gerade im springenden Augenblick, machen wir das Becken größer ‒ und wieder größer, so dass es nie zur Freude des Überfließens kommt.
Anspruchslose Menschen haben sehr kleine Becken; ein Tropfen reicht aus, um es freudig plätschernd überlaufen zu lassen. Und dann strahlen sie. Weshalb sollte diese Freude nicht auch uns zuteilwerden?
Der Armut müssen wir ein Ende machen ‒ und so rasch wie möglich. Aber die Kunst einfachen Lebens können wir erlernen. Es ist die Kunst, sich an Qualität statt Quantität zu freuen.
Diese Freude kann uns niemand nehmen. Aber auch geben kann sie uns niemand. Sie entspringt der Dankbarkeit.
Nun müssen wir aber zugeben, dass unsre Gesellschaft alles andre ist als dankbar.
Wir werden immer anspruchsvoller und nehmen als gegeben hin, was unsren Großeltern noch als ganz unglaublicher Luxus erschienen wäre.
Der Volkswirtschaftler Mario Quintana zeigt auf, dass die Wirtschaft ihre Aufgabe völlig umgekehrt hat. Statt den Bedarf zu decken, bemüht sie sich, ihn zu wecken. Von Werbung aufgestachelt, wollen wir mehr und mehr und nehmen es zunehmend einfach als gegeben hin, ohne uns wirklich daran zu freuen.
Nur Dankbarkeit löst Freude aus.
Wir verschlafen unsre Freuden. Wer wach ist, erkennt in allem, was es gibt, letztlich ein Geschenk des großen Geheimnisses, das alles gibt. Dankbarkeit dem großen DU gegenüber gab dem Leben in allen traditionellen Kulturen Sinn und Mitte.
[Orientierung finden (2021): Dankbarkeit ‒ ein Weg zur Fülle, 116-121
[Ergänzend:
1. Videose:
1.1. Persönliche Botschaft von Bruder David im Video-interview (Transkription) (2017) mit Ramon Pachernegg ab (12:09):
«Aber letztlich ist es doch die Aufgabe jedes Menschen, dankbar zu leben. Und das heißt, im Jetzt zu leben, und das heißt, sein Selbst zu finden.»
1.2. Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (Mitschrift) (2019):
(19:57) die Methode Stop ‒ Look ‒ Go und (38:10) Furcht ist das Gegenteil von dem dankbaren Leben
2. Audios:
2.1. Im Vortrag Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (Mitschrift) (2014) klärt Bruder David die Begriffe Achtsamkeit ‒ Spiritualität ‒ Dankbarkeit ‒ dankbar leben im Unterschied zu gelegentlicher Dankbarkeit. Im Gespräch (48:36) fasst er im Zusammenhang mit Mitgefühl und Meditation noch einmal zusammen, was mit Dankbarkeit und dankbar leben gemeint ist. Siehe auch Einleitung auf Dankbar leben.org
2.2 Der Vortrag von Bruder David in der Hochgratklinik in Stiefenhofen, Allgäu (DE) Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (Mitschrift) (2011):
(21:56) Einführung in die spirituelle Praxis «dankbar leben» mit Fragen: Wann und wie sind wir dankbar? Wie können wir dankbar leben in Situationen, für die wir nicht dankbar sein können? / (28:23) Wie Dankbarkeit uns schöpferisch macht ‒ Das Leben feiern / (30:12) Der wissenschaftliche Beitrag von Robert Emmons / (31:24) Wie dankbar leben uns genügsam macht
«Dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.»
3. Interviews und weitere Texte:
Im Interview Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020) von Evelin Gander spricht Bruder David wie im Achtsamkeitstraining oft unabsichtlich eine gute Portion Selbstsucht mitspielt:
«Deswegen kann es dabei nicht klappen, denn Leben braucht Vernetzung gegenseitiger Beziehungen, um aufzublühen. In diesem Zusammenhang muss ich auf Dankbarkeit zurückkommen. Da steht das Geben-und-Nehmen im Mittelpunkt, also eine Beziehung. Dankbare Menschen haben gelernt, darauf zu achten, was das Leben jeden Augenblick schenkt und was es erwartet. Es schenkt uns eine Gelegenheit und erwartet, dass wir etwas aus ihr machen. Dadurch nehmen wir an einem weiten Netzwerk lebendiger Beziehungen teil. Kein Wunder, dass Menschen, die Dankbarkeit üben, eine Steigerung ihrer Lebendigkeit spüren.»
«Dabei ist das Training in Dankbarkeit einfach und kostenlos. Ein merklicher Erfolg stellt sich viel früher ein als bei anderen Arten von Training. Sie müssen, zum Beispiel, nur einige Zeit lang jeden Abend drei Erlebnisse niederschreiben, die Sie am vergangenen Tag hatten und für die Sie dankbar sind, und schon steigt ihr allgemeines Wohlbefinden. Oder Sie planen jeden Morgen im Voraus, am kommenden Tag jemandem eine kleine Freundlichkeit zu erweisen, für die Sie selber dankbar wären. Sie müssen es genau planen und dann freilich auch tun. Ob die so Beschenkten sich dankbar zeigen, ist unwichtig. Ihre eigene Lebensfreude wird wachsen.»
Dankbarkeit ist kein Gefühl (2014):
«Zeiten, die uns physisch, emotional und spirituell herausfordern, können es uns fast unmöglich machen, uns dankbar zu fühlen. Doch wir können uns entscheiden, dankbar zu leben, mit Mut offen zu sein für das Leben in seiner ganzen Fülle. Indem wir die Dankbarkeit leben, die wir nicht spüren, beginnen wir die Dankbarkeit zu spüren, die wir leben. Dies ist kein schnelles und einfaches Rezept, aber Sie werden sehen, es wirkt.»
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude (2014): Interview von Andrea Huttegger mit Bruder David:
«Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude, die nicht davon abhängt, was uns zustößt. Menschen, die Freude ausstrahlen, haben nicht unbedingt viel Glück. Jedoch sind sie dankbar. Umgekehrt gibt es Leute, die scheinbar alles haben, um glücklich zu sein. Sie sind es aber nicht, weil sie nicht dankbar sind.»
«Halten Sie einmal inne, um sich bewusst zu werden, wie erstaunlich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Es gibt mich! Darüber zu Staunen, ist der Schlüssel zur Dankbarkeit.»
Glück aus Dankbarkeit (2013):
«Ich habe auch nicht gesagt, dass wir für Alles dankbar sein können. Ich habe gesagt, wir können in jedem gegebenen Moment dankbar sein für die Gelegenheit. Und sogar, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das furchtbar schwierig ist, können wir uns dieser Situation gewachsen zeigen und auf die Gelegenheit reagieren, die uns gegeben ist.»
Dankbarkeit: Alles ist Gelegenheit: Das von Rudolf Walter redigierte Interview mit Bruder David zeigt den Weg auf von gelegentlich geübter Dankbarkeit zur Haltung dankbaren Lebens im Zusammenhang mit dem Kreislauf göttlichen Lebens. Der Beitrag erschien im Buch Einfach leben − wie geht das? Das Buch der Antworten (2013)
Das Wir wächst aus der Dankbarkeit (2013): Interview von Christoph Quarch mit Bruder David
Begegnungen ‒ Dankbarkeit (2011): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David
Wach ‒ bewusst ‒ achtsam (2011): Wach auf! ‒ sich der Gelegenheit bewusstwerden ‒ achtsam antworten und: Anhalten ‒ Schauen ‒ Gehen
Spiritualität und Verantwortung (2009): Christa Spannbauer im Gespräch mit Bruder David:
«Du lehrst und lebst die Dankbarkeit als spirituellen Weg. Kannst du die Grundzüge dieser spirituellen Praxis erläutern?»
An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Dankbarkeit: Das war hier im Westen die Spiritualität, die unsere Vorfahren geübt haben, bevor sie überhaupt noch das Wort Spiritualität gekannt haben. Sie waren dankbare Menschen und durch ihre Dankbarkeit haben sie Freude gefunden. Und diese Dankbarkeit taucht uns ein in dieses Geheimnis der Trinität. Denn es setzt den Geber aller Gaben voraus, diesen Urquell, aus dem alles hervorquillt, das Nichts, das alles gibt. Es setzt voraus, uns selbst als Gabe zu empfangen: Wir haben uns nicht gekauft, wir sind uns gegeben, wir finden uns als gegeben vor, wir finden die Welt als gegeben vor. Jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick, alles ist Gabe. Und wir sind ‒ weil wir in einer gegebenen Welt leben ‒ aufgefordert, dankbar zu sein und durch Danksagung alles zurückfließen zu lassen zum Ursprung. Und dadurch sind wir völlig eingebettet in das Wort, das aus dem Schweigen kommt und durch Verstehen, im dankbaren Verstehen zurückfließt zu seiner Quelle.»
Begegnung mit Bruder David Steindl-Rast: Christa Spannbauer und Bruder David 2007 im Stift Melk (siehe den letzten Abschnitt des Interviews)
Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster (2003), 183f.:
«Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.»
Ein neuer Grund für Dankbarkeit, der Beitrag von Bruder David im Buch Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002)
Dankbar leben in drei Schritten (1991): Vertraue dem Leben ‒ Sei offen für Überraschung ‒ Ja zum Zusammengehören]
Dankbarkeit und Opferritus: Eine tiefe Verbeugung
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
«Ich werde oft gefragt, wie ein Buddhist die Frage: ‹Existiert Gott›? beantwortet.
Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte. Plötzlich dachte ich: ‹Oh, die Luft existiert wirklich!› Wir wissen, dass die Luft da ist, aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht, sind wir uns ihrer nicht bewusst. Vom Wind umweht, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie wirklich da ist.
Genauso ist es mit der Sonne. Plötzlich nahm ich die Sonne wahr, die durch die kahlen Bäume schien. Ihre Wärme, ihre Helligkeit ‒ alles vollkommen frei, vollkommen gratis. Wir können sie einfach genießen. Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände gegeneinander und machte ‹gassho›. Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das. Einfach nur das.»[1]
Wären wir in der Lage, diese elementare Dankbarkeit ständig zu empfinden, dann bräuchten wir nicht darüber zu sprechen, und viele der Widersprüche, die unsere Welt zerreißen, wären sofort aufgehoben. In unserer derzeitigen Situation mag es jedoch angebracht sein, davon zu sprechen. Es könnte uns zumindest helfen, die Erfahrung zu erkennen, wenn sie uns geschenkt wird, und uns den Mut geben, uns in die Tiefe der Dankbarkeit hinabsinken zu lassen.
Zunächst einmal sollten wir uns fragen: Was geschieht, wenn wir uns spontan dankbar fühlen? (Natürlich geht es uns hier um das konkrete Phänomen, nicht um irgendeine abstrakte Idee.) Zum einen spüren wir Freude. Freude liegt der Dankbarkeit zweifellos zugrunde. Aber es ist eine ganz besondere Freude ‒ eine Freude, die uns von einem anderen Menschen geschenkt wird. Meine Freude wird um etwas wesentliches erweitert, wenn ich spüre, dass jemand anders, ein anderer Mensch, sie mir schenkt.
Ich kann mich selbst mit einem köstlichen Mahl verwöhnen, aber meine Freude wird in diesem Fall eine ganz andere sein, als wenn jemand anders mich verwöhnt hätte (und sei es auch mit einem weniger exquisiten Essen). Ich kann mir selbst etwas gönnen, aber keine geistige Verrenkung wird mich in die Lage versetzen, mir selbst dankbar zu sein; hierin liegt der Unterschied zwischen der Freude, aus der Dankbarkeit entspringt, und jeder anderen Art von Freude.
Dankbarkeit bezieht sich auf eine andere Person. Wir können nicht im selben Sinne Dingen oder unpersönlichen Mächten, wie dem Leben oder der Natur, dankbar sein, es sei denn, wir empfinden sie auf irgendeine unklare Weise als menschlich, vielleicht als übermenschlich.
Kann sich Dankbarkeit nicht auf eine Person richten, schwindet sie. Woran liegt das? Dankbarkeit impliziert, dass mir die Gabe, die ich empfange, aus freien Stücken geschenkt wird, und jemand, der mir einen Gefallen tun kann, ist, per definitionem, eine Person.
Aber auch wenn mir jemand anders eine Freude bereitet, empfinde ich nur dann Dankbarkeit, wenn er es absichtlich getan hat. In dieser Hinsicht sind die meisten Menschen sehr empfindlich. Wenn wir in der Cafeteria ein ungewöhnlich großes Stück Kuchen erhalten, zögern wir wahrscheinlich einen Augenblick, und erst wenn wir die Möglichkeit ausgeschlossen haben, dass es eben ab jetzt größere Stücke gibt oder dass es sich um ein Versehen handeln könnte, interpretieren wir es als persönlichen Gefallen, der uns ein Lächeln für den Angestellten hinter der Theke wert ist.
In manchen Fällen lässt sich nur schwer entscheiden, ob uns eine Gefälligkeit auch wirklich persönlich zugedacht war, aber unsere Dankbarkeit hängt von dieser Interpretation ab. Zumindest muss die Gefälligkeit einer Gruppe gelten, mit der ich mich persönlich identifiziere. (Trägt man ein Mönchsgewand, dann geschieht es nicht selten, dass man ein größeres Stück Kuchen bekommt oder mit einer anderen unerwarteten Freundlichkeit bedacht wird ‒ noch dazu von Menschen, die einem völlig fremd sind und die man auch nie wiedersehen wird. Hier ist man in seiner Eigenschaft als Mönch persönlich gemeint.) Völlig anders ist es in der peinlichen Lage, in der jemand uns zulächelt ‒ oder wir meinen so ‒ um dann festzustellen, dass das Lächeln jemandem gilt, der hinter uns steht.
Wozu diese kleine Phänomenologie der Dankbarkeit? Soviel ist sicher: Dankbarkeit beruht auf der Einsicht, dass mir etwas Gutes widerfahren ist, das von einem anderen Menschen ausging, dass es mir aus freien Stücken geschenkt wurde und als Gefälligkeit gedacht war. In dem Augenblick, wo ich dies erkenne, empfinde ich spontan Dankbarkeit: «Je suis reconaissant» ‒ Ich erkenne, ich anerkenne, ich bin dankbar; im Französischen umfasst dieser eine Ausdruck alle drei Bedeutungen. Ich erkenne die besondere Qualität dieser Freude der Dankbarkeit: es ist eine Freude, die mir aus freien Stücken als Gefälligkeit zugedacht wurde. Indem ich ein Geschenk, das mir nur ein anderer aus freien Stücken geben kann, aus freien Stücken akzeptiere, erkenne ich meine Abhängigkeit an.
Ich bin dankbar und erlaube meinen Gefühlen, die Freude, die mir geschenkt wurde, voll auszukosten und zum Ausdruck zu bringen. So fließt die Freude ‒ durch die Dankbarkeit, die ich ausdrücke ‒ zu ihrer Quelle zurück. Aufrichtige Dankbarkeit nimmt den ganzen Menschen in Anspruch: Der Verstand erkennt das Geschenk als Geschenk; der Wille erkennt Abhängigkeit an; die Gefühle schwingen mit der Freude dieses Erlebnisses mit.
Der Intellekt erkennt: Ja, diese Freude ist wirklich ein Geschenk; der Wille erkennt an: Ja, es ist gut, meine Abhängigkeit zu akzeptieren; die Gefühle schwingen in Dankbarkeit mit und preisen die Schönheit dieses Erlebnisses. So findet das dankbare Herz, das im Wahren, Guten und Schönen die Fülle des Seins erfährt, durch Dankbarkeit seine Erfüllung. Deshalb ist ein Mensch, der nicht von Herzen dankbar sein kann, ein so beklagenswertes Geschöpf. Fehlende Dankbarkeit weist immer auf eine Störung im Bereich des Intellekts, des Willens oder der Gefühle hin, welche eine Integration der Persönlichkeit verhindert.
So mag etwa der Verstand auf Misstrauen bestehen und nicht erlauben, dass eine Gefälligkeit als solche erkannt wird. Selbstlosigkeit lässt sich nicht beweisen. Wenn ich auch über die Motive eines anderen nachgrüble, so muss an einem gewissen Punkt der Verstand doch dem Vertrauen Platz machen. Dankbarkeit ist eine Geste, die nicht vom Verstand allein, sondern vom ganzen Herzen ausgeht. Vielleicht weigert sich auch mein stolzer Wille, meine Abhängigkeit von einem anderen Menschen anzuerkennen. Das lähmt mein Herz, noch bevor es sich zum Dank erheben kann.
Schließlich mögen auch die Narben verletzter Gefühle eine volle emotionale Antwort verhindern. Mein Verlangen nach reiner Selbstlosigkeit mag so tief und meine bisherigen Erfahrungen so schlecht sein, dass ich verzweifle. Wer bin ich denn auch schon? Weshalb sollte irgendjemand selbstlose Liebe an mich verschwenden? Bin ich es wert? ‒ Nein. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, meine Unwürdigkeit zu erkennen und mich doch hoffnungsvoll der Liebe zu öffnen ‒, das ist der Ursprung aller menschlichen Ganzheit und Heiligkeit, der Kern der verbindenden Geste des Dankens. Die innere Geste der Dankbarkeit kann sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn sie auch Ausdruck findet.
Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.
Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker. Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude. Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?
Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt. Ein Übergang hat stattgefunden. Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit: Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst. Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?
Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit? Ja, Dankbarkeit ist die die große Geste des Übergangs.
Und diese große Geste des Übergangs eint uns. Sie eint uns als menschliche Wesen, denn wir erkennen, dass wir in diesem ganzen vergänglichen Universum die Einzigen sind, die um ihre Vergänglichkeit wissen. Darin liegt ja unsere menschliche Würde. Darin liegt zugleich unsere menschliche Aufgabe. Sie besteht darin, den Sinn dieses Übergangs auszuloten. Unser ganzes Leben ist ja Übergang. Sein Sinn will durch die Geste des Dankens gefeiert sein.
Diese Geste des Übergangs eint uns tief in unserm Innern, wo Menschsein religiös sein bedeutet. Dankbarkeit ist im wesentlichen Selbstannahme in jener Abhängigkeit, die befreit. Die Abhängigkeit, die befreit, ist jedoch nichts anderes als jene Religiosität, die allen Religionen zugrunde liegt. Ja, sie liegt sogar jener tief religiösen (wenn auch irrigen) Ablehnung aller Religionen zugrunde.
Wenn wir uns die großen Übergangsriten ansehen, die Teil des ältesten religiösen Erbes der Menschheit sind, dann wird uns die religiöse Bedeutung der Dankbarkeit klar. Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaft haben diesen «rites de passage», Riten, die Geburt und Tod und andere wichtige Übergänge im menschlichen Leben feiern, in den letzten Jahren große Bedeutung beigemessen. Im Mittelpunkt dieser Riten steht immer ein Opfer, was insofern verständlich ist, als das Opfer an sich typisch für alle Übergangsriten ist.
Wir können die verschiedenen Formen des Opferritus auf ihre gemeinsamen Grundzüge hin untersuchen. Da finden wir dann, dass zwischen der Struktur der Dankbarkeit als einer Geste des menschlichen Herzens und der inneren Struktur des Opferns eine erstaunlich große Ähnlichkeit besteht. In beiden Fällen findet ein Übergang statt. In beiden Fällen geht die Geste vom freudigen Erkennen eines empfangenen Geschenks aus, gipfelt in der Anerkennung der Abhängigkeit des Empfängers vom Geber und findet ihre Vollendung im äußerlichen Ausdruck des Dankes. Geber und Empfänger werden dadurch vereint, sei es in Form des traditionellen Händedrucks oder in Form einer Opfer-Mahlzeit.
Denken wir nur an Formen des Erstlingsopfers. Fast sicher gehören die ältesten Opferriten hierher. Selbst in seiner einfachsten und primitivsten Form hat der Ritus eindeutig die beschriebene Struktur.
Da wären etwa die Chenchu, ein Stamm, der in Südindien lebt und zu den ältesten Kulturen nicht nur Indiens, sondern der ganzen Welt zählt. Was geschieht, wenn ein Chenchu von einer Sammel-Expedition im Dschungel zurückkehrt? Er wirft eine Handvoll der gefundenen Nahrung in den Busch zurück und begleitet diese Opfergeste mit einem Gebet zur Gottheit, die als Herrin des Dschungels und all seiner Früchte verehrt wird. «Unsere Mutter», sagt er, «durch deine Güte haben wir gefunden. Ohne dich empfangen wir nichts. Dafür danken wir dir.»
Unter den primitiven Völkern sind Tausende ähnlicher Riten beobachtet worden, aber das ebengenannte Beispiel (es wurde von Christoph von Fürer-Haimendorf (1909-1995), der unter den Chenchu Feldforschung betrieben hat, aufgezeichnet) zeichnet sich durch seine besonders klare Struktur aus. Jeder Satz des einfachen Gebets, das die Gabe begleitet, entspricht einer der drei Phasen der Dankbarkeit. «Unsere Mutter, durch deine Güte haben wir gefunden»: Das entspricht dem Erkennen der Gabe als Gabe. «Ohne dich empfangen wir nichts»: Das bringt die Abhängigkeit zum Ausdruck. «Dafür danken wir dir» ist der Ausdruck der Dankbarkeit, der die ursprüngliche Freude über das erhaltene Geschenk auf ein höheres Niveau hebt.
Was das Gebet unter drei Gesichtspunkten ausdrückt, vermittelt der Ritus in einer einzigen Geste: Der Jäger, der einen Teil seiner Beute der Gottheit opfert, drückt damit aus, dass er das Geschenk zu schätzen weiß und dass er durch das symbolische Teilen des Geschenks gewissermaßen einen Bund mit dem Geber eingeht.
Die Ähnlichkeit zwischen gesellschaftlichen Dankesbezeugungen und religiösen Opferhandlungen springt ins Auge. Wir dürfen aber nicht dem Irrtum verfallen, es handle sich bei den Opfergaben der Chenchu und ähnlichen Beispielen lediglich um die Übertragung gesellschaftlicher Konventionen auf die religiöse Ebene. Zwischen den beiden Phänomenen besteht keine einfache Abhängigkeit. Beide entspringen in der Tiefe des Herzens, dehnen sich jedoch in unterschiedliche Richtungen aus.
Das religiöse Bewusstsein des Menschen verwirklicht sich in seinen Opferriten, sein Bewusstsein menschlicher Solidarität im Dank, den einer dem anderen ausspricht.
Der Mensch sieht das Leben an uns, sieht, dass es aus einer Quelle zu ihm kommt, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Er sieht das Leben an uns, sieht, dass es gut ist ‒ gut für ihn. Und aus der Sicherheit dieser beiden intellektuellen Einsichten heraus wagt das Herz den Sprung zu einer dritten Einsicht, die über rationale Erwägungen hinausgeht: der Einsicht, dass alles Gute, das mir widerfährt, ein Geschenk aus der Quelle des Lebens ist. Dieser Sprung des Glaubens übertrifft alle Zusammenhänge, die der Verstand herstellt. Er ist ebenso wie das Vertrauen, das man in einen Freund setzt, eine Geste des ganzen Menschen.
In dem Augenblick, wo ich das Leben als ein Geschenk erkenne und mich selbst als den Empfänger dieses Geschenks, wird mir meine Abhängigkeit klar, und ich muss eine Entscheidung treffen: Ebenso wie ich mich im zwischenmenschlichen Bereich weigern kann, Abhängigkeit anzuerkennen, und mich hinter meinem Stolz verbarrikadieren kann, so kann ich auch auf der religiösen Ebene eine Haltung stolzer Unabhängigkeit gegenüber der Quelle des Lebens einnehmen. Und die Versuchung ist groß, die Lächerlichkeit dieser Pose zu übersehen. Abhängigkeit im religiösen Zusammenhang beinhaltet ja mehr als das Geben und Nehmen in der gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen; sie beinhaltet Gehorsam gegenüber der Quelle aller Gaben, die größer ist als ich ‒ eine Tatsache, mit der sich mein kleinlicher Stolz nicht abfinden mag. (Hierin liegt übrigens auch die Ursache für die scheinbare Grausamkeit vieler Opferriten. Wir können auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen. Es sei nur angemerkt, dass blutige Opferriten sinnvoll sein können als Symbol für die Gewalt, die wir uns selbst antun müssen, bevor unser im Eigensinn versklavtes Herz die Freiheit liebenden Gehorsams gewinnen kann.)
Der Mensch, der ein Tier opfert, drückt in diesem Ritual die Bereitschaft aus, selber zu sterben, für alles, was ihn vom Ziel dieses Übergangs trennt. Das Ziel ist die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen. Daher muss zunächst eine Vereinigung göttlichen und menschlichen Willens erreicht werden. Dies geschieht durch Gehorsam. Dabei ist der Tod des Eigensinns nur der negative Aspekt des Gehorsams. Sein positiver Aspekt ist das Erwachen des Menschen zu echter Lebendigkeit und Freude. Der rituellen Tötung folgt die Freude des Opfermahls.
Wenn wir von Gehorsam sprechen, sollten wir der Unterwerfung keine allzu große Bedeutung beimessen. Der positive Aspekt ist viel wichtiger: Aufmerksamkeit für die geheimen Zeichen, die den Weg zur wahren Freude weisen. (Ich nenne sie geheime Zeichen, weil sie ganz persönlicher Natur sind; wir erkennen sie in Augenblicken, in denen wir ganz wir selbst sind.)
«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt», schreibt Rilke in den «Duineser Elegien». Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt. Uns sind nur Ahnungen gegeben, wie jene Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.
In dem Maße, wie wir diese Freiheit verwirkt haben, ist Losgelöstheit vonnöten. Gehorsam ist unsere Wachheit, unsere «disponibilité», unsere Bereitschaft, unserem heimwärts strebenden Herzen in seinem Aufwärtsflug zu folgen. Losgelöstheit befreit die Flügel unseres Herzens. So erst können wir uns aufschwingen zur Dankbarkeit für das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir müssen unsere Hand öffnen und loslassen, was wir festhalten. Dann erst können wir die Geschenke empfangen, die uns jeder neue Augenblick darbietet. Losgelöstheit und Gehorsam sind nur Mittel zum Zweck. Das Ziel ist Freude.
Verstünden wir das moralische Opfer in diesem positiven Sinn, dann könnten wir auch seinen Ausdruck, das rituelle Opfer, verstehen. Weder das eine noch das andere ist so schrecklich, wie es manchmal dargestellt wird. Beide haben die Struktur des Übergangs im Dank. Beide gipfeln in der Freude über die Vereinigung des Menschen mit dem, was ihn transzendiert. Dies findet im Höhepunkt des Opferritus, dem Opfermahl, seinen Ausdruck. Dieses frohe Mahl drückt das Vertrauen aus, dass der Geber aller Gaben unseren menschlichen Dank annimmt. Es ist die Umarmung, die den Schenkenden mit dem Dankenden vereint. (Hier sei noch angemerkt, dass im religiösen Kontext Gott allzeit der Gebende ist, wir Menschen die Danksagenden. Nur in dem weit weniger ursprünglichen Kontext der Magie kann diese Beziehung zu einer Art wirtschaftlicher Transaktion degenerieren oder gar zu dem Bemühen von Menschen, über-menschlichen Mächten etwas zu entlocken. Aber Magie und Ritualismus sind Sackgassen des Herzens; sie betreffen uns hier nicht.)
Worauf es uns ankommt, ist, dass unsere eigene Erfahrung der Dankbarkeit mit einem universellen religiösen Phänomen zusammenhängt: mit dem Opfer, das zum Wesenskern aller Religionen gehört. Haben wir nur einmal diesen Wesenskern erfasst, dann wird uns jede Religion zugänglich. Man kann die gesamte Entwicklung der Religionen als eine Entfaltung der Opfergeste verstehen. Wir selbst vollziehen innerlich diese Geste, sooft Dankbarkeit in unseren Herzen aufsteigt.
So geht etwa die jüdische Religion von der unausgesprochenen Überzeugung aus, dass der Mensch kein Mensch wäre, wenn er kein Opfer darbrächte, und gelangt zu der ausdrücklichen Erkenntnis, dass «nur der, der sich selbst als Opfer darbringt, verdient, Mensch genannt zu werden». (Rabbi Israel aus Rizin; verstorben im Jahre 1850.)
Genau dasselbe finden wir im Hinduismus: Ein früher vedischer Text sieht den Menschen als «das einzige Tier, das es versteht, Opfer zu bringen» (Satapata Brahmanah VII, 5, 2, 23). Die Entwicklung findet ihren Höhepunkt in einer Stelle aus dem Chandogya Upanishad (III, 16, 1), wo es heißt: «Wahrlich, Mensch sein heißt Opfer sein.» Zeigt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass ein Mensch erst in der Opfergeste der Dankbarkeit völlig Mensch wird?
Und selbst zum Verständnis des Gebots der Nächstenliebe (das in der einen oder anderen Form die reife Frucht jeder Religion ist) verschafft Dankbarkeit uns Zugang. Im Vorgehenden hat uns die scheinbare Rohheit der Wurzel, aus der Religion entspringt, abgestoßen. Jetzt stößt uns der scheinbare Widerspruch ab, den ihre reifste Frucht enthält. Kann man denn Liebe gebieten? Kann es denn eine Verpflichtung zur Liebe geben? Liebe ist nicht Liebe, wenn sie nicht frei von Zwängen ist. Unsere Erfahrung mit der Dankbarkeit gibt uns einen Hinweis: Eine Gefälligkeit, die wir einem anderen erweisen, bleibt eine Gefälligkeit, bleibt freiwillige Zuwendung, auch wenn uns unser Herz sagt, dass wir es tun sollten, dass wir großzügig sein sollten, verzeihen sollten. Weshalb? Weil uns eine tiefe Solidarität verbindet, die das Herz spürt. Wir gehören zusammen, weil wir gemeinsam einer Wirklichkeit verpflichtet sind, die über uns hinausreicht.
Jesus sagt dazu: «Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe.» (Mt 5,24).
Dies stimmt völlig überein mit der Tradition der Propheten Israels. Diese bestanden darauf, dass wahres Opfer Danksagung sei, wahrer Opfertod Gehorsam, der wahre Sinn des Opfer-Mahls Barmherzigkeit, «hesed». «Hesed» ist jene Bundesliebe, die uns Menschen miteinander verbindet, in dem sie uns als Gemeinschaft an Gott bindet. Abzulehnen ist nur leerer Ritualismus, nicht das Ritual an sich. Danksagung, Barmherzigkeit, Gehorsam sollen das Ritual nicht ersetzen, sondern ihm seinen vollen Sinn geben. Das ganze Menschenleben soll zu einem heiligen Ritual des Dankes werden, das ganze Universum ein Opfer. Der Prophet Sacharja sagt, dass «in jener Zeit» (der Zeit des Messias) «alles Küchengeschirr in Jerusalem und ganz Judäa» dem Herrn der Heerscharen heilig sein werde, heilig genug, um Opfer darin darzubringen. Das heißt, dass es nichts auf Erden gibt, was der Mensch nicht wie ein Gefäß mit Dank füllen und zu Gott emporheben könnte.
Diese universelle Eucharistie, diese kosmische Feier eines Dankopfers, ist der Kern der christlichen Botschaft. Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist. Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude. In der einen und unteilbaren Gottheit gibt sich der Vater dem Sohn hin; der Sohn gibt sich in Dankbarkeit dem Vater hin; das Geschenk der Liebe, das immerfort zwischen Vater und Sohn ausgetauscht wird, ist der Heilige Geist, selbst göttliche Person, der Geist der Dankbarkeit.
Schöpfung und Erlösung sind lediglich das Überfließen dieser göttlichen «perichorese», dieses innergöttlichen Reigens der Dreifaltigkeit, ein Überfließen in das, was von sich aus Nichts ist.
Gottes Sohn wird, dem Willen des Vaters gehorchend, Menschensohn. Durch sein liebendes Opfer vereint er alle Menschen miteinander und mit Gott. Im Geist der Dankbarkeit führt er sie zurück in die ewige Umarmung Gottes, so dass «Gott alles in allen sei» (1 Kor 15,28). «Alles, was existiert, existiert durch das Opfer» (Satapata Brahmanah XI, 2, 3,6). Der ganze Kosmos wird Augenblick für Augenblick durch das Opfer erneuert, durch Dank zu seiner Quelle zurückgeführt, und als Geschenk in all seiner ursprünglichen Frische neu empfangen. Aber dieses kosmische Opfer ist nur deshalb möglich, weil der eine Gott zugleich Geber, Gabe und Danksagung ist.
Denen unter uns, die durch den Glauben bereits in dieses Geheimnis eingedrungen sind, braucht es nicht erklärt zu werden; den anderen kann es nicht erklärt werden. Aber in dem Maße, wie in unseren Herzen Raum für Dankbarkeit ist, haben wir alle an dieser Wirklichkeit teil, wie auch immer wir sie nennen. Es ist eine Wirklichkeit, die wir nie ganz erfassen werden. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns von ihr ergreifen lassen, dass wir die innere Gebärde von Dankbarkeit und Opfer vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens. Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das». [AH 1-2) 139-155; 3-5) 135-151; SD 39-54]
[Ergänzend: Aufwachsen in Widersprüchen (1989) ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung, «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag und Dialog am 19. Juli 1989, Teil 7: Das Opfer ‒ ein Übergansritual]
[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet.
Danken, preisen, segnen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Das Herz sieht voller Staunen, dass diese gegebene Welt und alles, was wir in ihr finden, letztlich Geschenk ist. Auf diesen Geschenkcharakter aller Dinge antwortet das Herz mit danken, preisen und segnen.
Das menschliche Herz wurde zum allumfassenden Lobpreisen und Rühmen geschaffen.
Solange wir auswählen und zurückweisen und unser Lob von unserer Billigung abhängig machen, kommt unsere Antwort nur aus halbem Herzen.
Unser Herz als ganzes aber ist mit der ganzen Wirklichkeit in Einklang. Und Wirklichkeit verdient unser Lob.
Mit klarem Blick erkennt das Herz den letztendlichen Sinn von allem: Segen.
Und mit klarem Entschluss antwortet das Herz mit dem letztendlichen Lebenszweck:
Danken, preisen, segnen.
«Rühmen, das ists!» ruft Rilke in seinen Sonetten an Orpheus aus.[1]
Und Orpheus, das Urbild des Dichters, der Mensch in seiner göttlichsten Gestalt, wird uns als «ein zum Rühmen Bestellter» gezeigt.
Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor
wie das Erz aus des Steins
Schweigen.
Das Bild lässt an das Erz für Glocken denken. In einem anderen Bild ist sein Herz eine Kelter. Die Zeit des Traubenpressens geht vorüber, der Wein des Rühmens jedoch hält sich. Nicht einmal der Moder in den Grüften der Könige straft seine Rühmungen Lügen. Seine Botschaft bleibt. Noch weit in die Türen der Toten hinein trägt er Opferschalen mit rühmlichen Früchten.
Vom menschlichen Herzen sagt Rilke in seinen Duineser Elegien:
Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch die preisende bleibt.
Danken, segnen und preisen: alle drei gehören zur Dankbarkeit.
Keines dieser Wörter reicht ganz zu.
Loben und preisen mag sich für das Alltagsleben zu formell anhören.
Vielen mag der Klang des Wortes segnen zu sehr nach Weihrauch riechen, um sich damit wohlzufühlen.
Das Danken wiederum lässt eher an eine höfliche Konvention denken, als an die universelle Haltung zum Leben, die wir hier meinen.
Aber jeder einzelne dieser drei Begriffe fügt der Dankbarkeit einen Aspekt hinzu, den die anderen zwei nicht betonen.
Das Preisen betont die Antwort auf einen Wert.
Das Segnen hat einen religiösen Unterton.
Das Danken weist auf die persönliche Verpflichtung.
Nur zusammengenommen machen diese drei aus Dankbarkeit uneingeschränkte Dankbarkeit.
Und plötzlich ist alles ganz einfach. Wir können all die großen, sperrigen Worte vergessen.
Dankbarkeit sagt alles.
Und Dankbarkeit ist etwas, das wir alle aus Erfahrung kennen.
Kann spirituelles Leben wirklich so einfach sein?
Ja, was wir insgeheim erhofften, stellt sich als wahr heraus: es ist alles ganz einfach.
Es ist eigentlich gerade diese Einfachheit, die uns so schwierig erscheint.
Aber warum vergessen wir nicht all die Komplikationen, die wir selbst auf unserem Weg auftürmen?
Was Erfüllung bringt, ist Dankbarkeit, die einfache Antwort des Herzens auf dieses uns gegebene Leben in all seiner Fülle.
[FN 1) 68, 71-73.; 2-5) 71, 74f.; 6) 72, 75-77]
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[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung mit Bruder David in Flüeli-Ranft / CH: Die den Kurs begleitenden Gedichte (2014), 4
Dankesspirale
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Der Ausdruck des Dankes ist ein wesentlicher Bestandteil der Dankbarkeit, er ist ebenso wichtig wie das Erkennen des Geschenks als solches und die Anerkennung meiner Abhängigkeit. Man denke nur an die Hilflosigkeit, die wir empfinden, wenn wir ein anonymes Geschenk erhalten und folglich nicht wissen, wem wir dafür danken sollen. Erst wenn unser Dank zum Ausdruck gekommen ist und akzeptiert wurde, ist der Kreis des Gebens und Dankens geschlossen und ein Austausch zwischen Geber und Empfänger hergestellt.
Allerdings ist das Bild vom geschlossenen Kreis nicht besonders gut gewählt. Austausch ist wohl eher mit einer Spirale zu vergleichen, in der der Geber den Dank entgegennimmt und so selbst zum Empfänger wird. So wird die Freude des Gebens und Empfangens immer stärker.
Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm eine Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter, ihrerseits hochbeglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es.
Das ist sie, die Spirale der Freude.
Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug?
Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, größer als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?
Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Vielmehr sind wir zu etwas völlig Neuem gelangt.
Ein Übergang hat stattgefunden.
Ein Übergang von der Vielheit zur Einheit:
Zu Anfang waren es Geber, Geschenk und Empfänger; daraus wird die Umarmung, die Danksagung und entgegengenommenen Dank umfasst.
Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden?
Bedeutet Dankbarkeit nicht einen Übergang vom Misstrauen zum Vertrauen, von stolzer Isolation zu demütigem Geben und Nehmen, von der Versklavung in falscher Unabhängigkeit zur Selbst-Annahme in der befreienden Abhängigkeit?
Ja, Dankbarkeit ist die große Geste des Übergangs.
«Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt»,
schreibt Rilke in den «Duineser Elegien».
Unser Übergang ist nicht durch den Instinkt vorbestimmt.
Uns sind nur Ahnungen gegeben wie jede Regung der Dankbarkeit in unserem Herzen, und die Freiheit, diesen Ahnungen zu folgen.
Und selbst den Nicht-Christen unter uns erlaubt die Erfahrung der Dankbarkeit zumindest eine gewisse Annäherung an die christliche Überzeugung, dass die Dankesspirale das dynamische Muster jeglicher Realität ist.
Innerhalb der absoluten Einheit des dreieinigen Gottes ist Raum für einen ewigen Austausch von Geben und Danken, für eine Spirale der Freude.
Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens.
Denn «… nur darauf kommt es an: dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das, einfach nur das».[1]
[AH 1-2) 144f., 150, 154f.; 3-5) 140f., 146, 149-151; SD 44f., 49, 52-54]
[Auszug aus: Dankbarkeit und Opferritus]
[Ergänzend:
2. Audio-Vortrag Fülle und Nichts:
(01:47) ‚Wir sind nicht wie die Zugvögel verständigt‘ (Rilke, Die vierte Elegie) – horchen, gehorchen, Gehorsam als Methode und Ziel)]
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[1] Aus einer Ansprache des Rev. Eido Tai Shimano, eines japanischen Zen-Meisters, der bei der Gesellschaft für Zen-Studien in New York unterrichtet
Depression
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Was mir (ein bisschen) hilft, wenn mich Depression überkommt:
An meinem üblichen Ablaufplan festhalten.
Spaziergänge machen (auch wenn ich mich nicht danach fühle).
Nicht Gefühle von Dankbarkeit erzwingen (das würde nicht funktionieren).
Mich daran erinnern, dass «auch das vorbeigehen wird».
Mich selbst freundlich behandeln, so wie ich es mit einem leidenden Freund tun würde.
Etwas für jemand anderen tun ‒ egal wie wenig das sein mag (bereits ein Lächeln oder ein freundlicher Gruß wird helfen, die Gefängnisgitter der Depression zu lockern).
Es ist die Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, wofür man dankbar sein kann. Ich leide sehr unter Depressionen, also weiß ich, wie es sich anfühlt, nicht für Depressionen dankbar sein zu können. Du kannst kaum etwas tun, aber wenn du spirituell geübt bist, kannst du wenigstens denken, dass dies eine Gelegenheit ist, um Geduld zu lernen. Du vertraust darauf, dass auch dieses vorübergehen wird. [ST 29, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
Dichtung, Bilder, Sprache
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Wenn ich in allem, was meine Sinne empfangen,
das ‹Darüber-Hinaus› mit aufnehme,
wird das mir Geschenkte so dicht,
dass nur Dichtung diese Fülle aussprechen kann.
Es wird zu schwer; nur dichterische Sprache
kann so Gewichtiges tragen und vermitteln.
Heute will ich ein Gedicht,
das mich zu vollem Leben und Erleben ermutigt hat,
wiederfinden und mir Zeit nehmen,
es in Ruhe zu lesen.
Ich will mit der Dichterbegabung,
die uns allen ins Herz gelegt ist,
bei allem, was ich erlebe, für Dich,
Du ‹Darüber-Hinaus›,
wach sein. Amen.»[1]
Auch wenn das Wort «Dichtung» von einer anderen sprachlichen Wurzel abstammt als «dicht» im Sinne von «gedrängt» und «fest gefügt», so gibt doch Dichtung der Sprache eine Dichte, die von keiner andren Sprachform erreicht wird. Wir können bei diesem Bild bleiben und sagen, dass die feste Fügung dichterischer Sprache ihr eine sonst nicht erreichbare Tragkraft gibt. Wer Schwerwiegendes aussprechen will, greift zur Dichtung, von verliebten jungen Menschen bis hin zu Staatsoberhäuptern bei feierlichen Anlässen.
Auch wir müssen in diesem Buch immer wieder Dichtung heranziehen, wo wir Wesentliches von solcher Gewichtigkeit vermitteln wollen, dass Prosa unter ihr zusammenbrechen müsste. Nur dem staunenden Herzen zeigt sich das Wesentliche:
«Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»
Das lernt «der kleine Prinz» vom Fuchs in dem bekannten Buch von Antoine de Saint Exupéry (1900-1944).
Dichtung ist die Sprache des Staunens, die Sprache des Herzens.[2]
«Staunen, Du staunenswürdiges Geheimnis,
ist meine Grundhaltung vor Dir ‒
ein Staunen, das nichts als gegeben hinnimmt
und in allem letztlich Dich betrifft, Dich erkennt.
Alles Gegebene hat ja in Dir seinen geheimnisvollen Grund.
Und das ist auch der Grund meiner Freude.
‹Staunen nur kann ich und staunend mich freu’n›:[3]
über die Bäume, die bläuliche Ferne, die Blumenwiese
und alles, was mich selber betrifft.
Alles ist ja Dein erstaunliches Geschenk.
Lass nicht zu, dass ich dieses Erstauntsein verlerne.
Lass es immer tiefer werden, immer aufmerksamer,
dieses freudige Staunen,
Du meine staunenswerte Freude. Amen.»[4]
Die Freude an Bildern und Namen für Gott kann unser Innenleben ungemein bereichern ‒ die islamische Mystik beweist dies. Aber das Sich-Festklammern an solchen Bildern und Namen bleibt eine ständige Gefahr.
Wie Liebende, die immer neue Namen füreinander erfinden, dürfen wir unsre Gottesbeziehung in zahllosen Gottesnamen feiern, solange wir sie «leicht nehmen».
Aber festes Anklammern an Vorstellungen bedroht unsre persönliche Beziehung zu Gott, die nur gedeihen kann, wenn wir zulassen, dass das Unvorstellbare uns immer wieder neu und anders ergreift. Darüber hinaus führt die zu starke Betonung von Namen und Bildern Gottes schnell zu Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, weil wir zu leicht vergessen, dass sie alle auf ein und dieselbe mächtige vereinigende Lebenskraft hinweisen.
In der christlichen Bibel (Apg 17,28) heißt es, dass wir in Gott «leben und weben und sind» ‒ nicht nur wie Fische im Wasser, sondern wie Tropfen im Meer. Und doch lösen wir uns nicht auf in diesem «Meer» wie in einem unpersönlichen Etwas. Wir sind eins damit und stehen doch gleichzeitig in einer persönlichen Beziehung dazu ‒ als zu dem großen Du unsres kleinen Ich.[5]
Bruder David: «In Gott s i n d wir, weil das Mysterium alles Seiende durchwaltet – uns selbst sowie die Welt um uns und in uns. In Gott w e b e n wir, wie Luther so schön übersetzt, denn mit allem was wir tun, weben wir mit am Teppich des Lebens, in dem alles mit allem verwoben ist – und letztlich mit Gott als seinem innersten Mysterium.
Niemand kann herausfallen aus diesem i n G o t t S e i n . Diese unverlierbare Geborgenheit schenkt mir tiefes Lebensvertrauen. Aber diese Bibelstelle gilt für alle Menschen. Paulus spricht ja hier zu Leuten, die von der christlichen Lehre nie gehört haben. Er sagt:
‹wie auch einige eurer Dichter gesagt haben.›
Er stützt sich nicht auf Philosophen und Theologen, sondern auf Dichter.
Nur Dichter finden Bilder und Worte, die uns gemeinsam ergreifen. Das aber brauchen wir heute dringend:
Gemeinschaftssinn durch Ergriffenheit vom einen Gott,
in dem wir leben und weben und sind.»[6]
«Worte, die aus der Stille kommen, reden ‒
von was immer sie auch sonst noch reden mögen ‒
von Dir, Du großes Geheimnis.
Sie weisen auf Unaussprechliches hin.
Sie offenbaren ein flüchtiges Glänzen von einem Ganzen,
das dunkel im Schweigen ruht.
Mach mich hellhörig für das Unsägliche,
das in allem Ausgesagten mitschwingt ‒
für den unfasslichen Überfluss.Zugleich aber möchte ich auch auf die Fasslichkeit achten,
die Worte uns zeigen, indem sie Fließendes einfassen,
bevor es wieder überfließt.
Dankbar für alles in ihren Schalen erfasste,
will ich Worte achtsam hören und sorgfältig nutzen ‒
achtsam, gewissenhaft und dankbar für diesen Schatz,
unseren Wortschatz.
Danach nimm mich wieder auf in Deiner Stille. Amen.»[7]
Das Wort Orientierung kommt wie «Orient» aus dem Lateinischen, wo «oriens» auf den «Sonnenaufgang», den «Osten» hinweist. Wenn wir wissen, wo die Sonne aufgeht, können wir alle andren Himmelsrichtungen bestimmen und uns auf unser Ziel ausrichten.
Manche Wörter können uns auf ähnliche Weise den Weg weisen. Sie strahlen auf wie Leuchtturmlichter und leiten uns verlässlich durch stürmische See. Solche leuchtenden Wörter können zu Schlüsselwörtern werden, die uns neue Erkenntnisse eröffnen. Wir müssen nur «der Sprache nachdenken» lernen, wie man einem Pfad durch Wiesen nachgeht und sich dabei Blume um Blume an neuen Entdeckungen freut.
«Der Sprache nachdenken» ist ein Ausdruck, den der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) geprägt hat.[8]
Ich habe schon vor langer Zeit die Freude entdeckt, die diesem Nachdenken entspringt. Es lehrt uns, den Einsichten große Aufmerksamkeit zu schenken, die unsre Vorfahren als Spuren ihres Denkens in der Sprache zurückgelassen und uns so vererbt haben. So wie wir versuchten ja auch sie, sich in der Welt und im Leben zurechtzufinden. Auch sie suchten nach verlässlichen Koordinaten für innere Ausrichtung und spirituelle Orientierung.
Deshalb steckt in der Sprache, die sie uns hinterlassen haben, ein Schatz an wegweisender Weisheit. Und weil Dichtung die Sprache um ein Vielfaches verdichtet, enthüllen oft Gedichte diesen Schatz in seiner reinsten und strahlendsten Erscheinungsform.[9]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4-7, 9]
[Ergänzend:
1. Clown fragt Mönch (2024): Interview von Reinhard Horstkotte mit Bruder David:
«Was haben Mönche und Clowns gemeinsam?»
«Sowohl der Clown wie der Mönch sind Außenseiter der Gesellschaft. Sowohl für den Clown wie für den Mönch ist Achtsamkeit oder spielerische Wachsamkeit im Hier und Jetzt zentral.
Beide folgen einem inneren Ruf und sind bereit, auf ihrem ungewöhnlichen Weg Entbehrungen freudig in Kauf zu nehmen.
Beide spielen gern – der Clown beim Mitspielen in der Show, der Mönch beim heiligen Spiel der Liturgie. Und sie nehmen ihr Spielen so ernst wie wahres Spielen das verdient – nicht todernst, sondern viel ernster: mit dem Ernst des lebendigsten Lebens, das über sich selber lachen kann.»
2. Worum sich letztlich alles dreht (2021): Interview geführt vom Tyrolia-Verlag mit Bruder David:
«Sie benennen in Ihrem Buch Orientierung finden (2021) fast 100 Schlüsselworte für Ihr Leben – gibt es auch ein besonderes Schlüsselerlebnis oder eine Schlüsselbegegnung für Sie?»
«Martin Heidegger hat mir so ein Schlüsselerlebnis geschenkt, für das ich zutiefst dankbar bin. Er spricht davon, dass wir ‹der Sprache nachdenken› können, wie man etwa einem Feldweg nachgeht. Das hat mich zutiefst berührt, als ich es zum ersten Mal las. Es hat mir bewusst gemacht, dass das Denken unsrer Vorfahren unsre Sprache geformt hat und dass wir uns unbewusst in diesen Denkbahnen bewegen – dass wir dies aber auch mit großem Gewinn bewusst tun können.
Heidegger hat mir durch diese Einsicht einen Schlüssel in die Hand gegeben, der mir in unsrer Muttersprache Tür um Tür aufgeschlossen und immer neue Einsichten geschenkt hat. Auch an andren Sprachen durfte ich dies erfahren, besonders im Englischen, wo ich mich ja ebenso zuhause fühle wie im Deutschen. ‹Der Sprache nachdenken› wurde zur Grundhaltung meines Denkens und hat auch mein neues Buch Orientierung finden, entscheidend beeinflusst.»
3. Religionen ‒ drei Ausdrucksformen: Ergänzend: 3.1.: zwei Abschnitte im Buch Orientierung finden (2021), 66f.:
«Erinnern wir uns an einen Augenblick höchster Lebendigkeit. … Nun haben wir aber etwas erlebt, was sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wie sollen wir also darüber sprechen? Wie können wir uns selbst klarmachen, was wir erlebt haben, und die Freude daran mit anderen teilen? Dichtung ist der Ausweg, den Menschen in dieser Lage immer wieder finden. Nur Dichtung kann Ahnungen ausdrücken, die nur wie ein Duft an den Worten hängen.»
4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 18f.:
«Die Glaubenssätze sind uns schon von Kindheit an als sehr vertrauenswürdig und fest vorgestellt worden, und jetzt klammern wir uns an sie. Und in dem Augenblick sind wir wieder auf dem Holzweg.
Denn an den Glaubenssätzen ist nichts falsch, die sind schon Ausdruck ‒ wenn man tiefer wird, geduldig nachforscht ‒ sind die immer radikaler Ausdruck aufs Leben.
Aber alles ist falsch mit sich an sie anklammern.
Wir müssen auch die Glaubenssätze im Credo z.B. leicht halten. Fest, aber leicht: So wie man mit einer Feder schreibt: Wenn man sie zu leicht hält, kann man nicht schreiben, aber wenn man sie zu fest hält, kann man auch nicht schreiben. Fest und leicht. So müssen wir die Glaubenssätze halten.»
5. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren ‒ Vortrag und Dialog:
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos
Der Vortrag in Teil 1 erschien ebenfalls unter dem Titel Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-71; Bruder David in diesem Vortrag S. 62, wie auch in Heldenmythos, Opfer, Dankbarkeit:
«Mythos in diesem Sinn ist keineswegs etwas Unwahres. Oft verwenden wir das Wort falsch und sagen: Das ist ja gar nicht wahr, das ist nur ein Mythos. Wenn es wirklich Mythos ist im vollen Sinn des Wortes, dann ist es nicht nur wahr, sondern überwahr; dann ist es Ausdruck dessen, was sich in logischer Sprache nicht mehr fassen lässt.»
6. Wie Bruder David Dichtung in seinen Vorträgen einbezieht:
6.1. Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017); siehe auch Transkription:
(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden. Die Zeilen lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›[10]
Ich glaube, das ist eine der schönsten Strophen, die ich in der deutschen Sprache überhaupt kenne, schon der Musik nach, und ich habe öfters vor einem Publikum, das nicht Deutsch versteht als Beispiel, wie schön die deutsche Sprache sein kann, gerade diese vier Zeilen zitiert. Das ist fast reine Musik. Und ich möchte jetzt diesen Beginn des Gedichtes weiter ausdeuten, wie Rilke das selber tut im Rest seines Sonettes. Und dann werde ich es am Ende noch einmal lesen.»
6.2. Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010): Audio und Mitschrift des Vortrags in Freiburg i. Br. (DE):
(33:11) Ein zweiter Punkt, was wir haben müssen, um diese gläubige Verbundenheit zu finden und zu pflegen, ist
ein Verständnis für Dichtung.
Das wird Sie vielleicht überraschen, aber es ist ungeheuer wichtig, denn die wichtigsten Texte aller religiösen Traditionen sind in dichterischer Sprache ausgedrückt, auch unsere eigenen als Christen. Und wir sind uns oft dessen gar nicht bewusst. Und darum fallen wir oft in die Falle und nehmen sie wörtlich. Das wäre so, wie wenn wir ein ganz tiefes Erlebnis haben, dass sich nur in dichterischer Sprache ausdrücken kann, und es dann wörtlich nehmen. Und wenn wir ganz tiefe ‒ nicht nur religiöse ‒, sondern auch tiefe emotionale Erlebnisse haben, drücken wir sie immer ganz spontan dichterisch aus. Jeder Liebende wird sagen: ‹Ich schenke dir mein Herz›. Das hat nichts mit Herzchirurgie zu tun, und das wissen wir, das ist uns völlig offensichtlich. Aber wenn wir zu religiösen Texten kommen, die so etwas ähnliches sagen, dann nehmen wir sie plötzlich wörtlich.
Es ist uns gar nicht bewusst, zum Beispiel im christlichen Bereich: Ich nehme das nur als ein Beispiel hier, weil ich annehmen kann, dass doch die meisten von uns entweder Christen sind oder vertraut sind mit diesen Texten; und es hat wenig damit zu tun: Die Kritiker der Religionen sind ebenso oft Opfer des Wörtlichnehmens von dichterischen Texten wie die Gläubigen selbst.
Christen ist es sehr selten bewusst, dass Vater ‒ das Wort für Gott als Vater ‒ ein dichterisches Wort ist. Das heißt nicht, dass es weniger wahr ist. Es heißt nur, dass es viel mehr wahr ist als wir es anerkennen können, wenn wir es wörtlich nehmen. Oder, dass der Sohn, unsere Sohnschaft, unsere Gotteskindschaft: dass das dichterische Wörter sind. Ja, dass das Wort Gott selbst, ein ‹Wort› ist, ein mit dichterischen Werten völlig angefülltes Wort, aber ein Wort und nicht jemand. Es ist nicht so etwas wie Tisch oder Hund oder Baum, sondern es ist ein dichterisches Wort, das in eine Richtung weist.»
6.3. Audio 2.1, in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) und Mitschrift:
(00:00) «Wenn man zu einem Vortrag kommt, der den Weg zu ‹Fülle und Nichts› im Titel hat, dann ist es schon klar, dass es hier nicht um eine vorwiegend akademische Abhandlung gehen kann, sondern, dass der Titel selbst schon dichterisch ist. Und für uns ist es nicht so leicht, aus unserem alltäglichen Leben in das Dichterische einzutreten. Manchen fällt es weniger schwer, andern mehr, aber wir alle müssen eine gewisse Bemühung machen, dorthin zu kommen.
Ich würde vorschlagen, dass wir, was ich Ihnen zu sagen habe, mit einem Gedicht verbinden. Und zwar mit einem der Sonette an Orpheus von Rilke, das mir schon lange sehr lieb ist, und das uns wirklich in diese Welt einführt.[11] Und um uns auf das Dichterische einzustimmen, würde ich vorschlagen, dass wir die ersten paar Zeilen dieses Gedichtes anhören, aber noch ohne uns über den Inhalt Gedanken zu machen. Nur reine Musik. Es ist das 13. der Sonette an Orpheus aus dem zweiten Teil: die ersten vier Zeilen gehören zum Schönsten und Musikalischsten in der deutschen Sprache. So könnten wir uns vielleicht zunächst nur die Musik anhören; ich lese sie Ihnen mal vor, aber bitte nur zuhören und nicht … wenn Sie’s können, nicht zu sehr darüber nachdenken. Nur der Klang …
Ich habe das öfters schon Leuten vorgelesen, die gar nicht Deutsch können, und schon der Eingang ist bezaubernd, im wahren Sinn des Wortes bezaubernd, denn wir wollen uns eben bezaubern lassen und durch diesen Zauber hineinführen in eine Welt, in der allein wir eine Sprache sprechen können, die dem gewachsen ist, wovon wir hier sprechen wollen.
Die dichterische Sprache ist tragkräftiger für Wahrheit als irgend eine andere Ausdrucksweise.
Die abstrakte logische Sprache wird zu gebrechlich, lange bevor wir noch das gesagt haben, was wir eigentlich wirklich sagen wollen. Die dichterische Sprache ist tragfähig. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Erfahrung: Wenn wir wirklich von Einsicht und Lebenserfahrung und Liebe überwältigt werden, werden wir plötzlich dichterisch in unserer Ausdrucksweise. Das zeigt uns schon, dass unser gesunder Instinkt uns in diese Richtung weist.
Diese ersten vier Zeilen des Sonettes lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.›
Um noch tiefer einzudringen, schlage ich jetzt vor, wir machen es gemeinsam. Ich lese die erste Zeile, Sie sprechen sie nach. Ich lese die zweite Zeile und Sie sprechen sie nach …»
6.4. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Heldenmythos, Opfer, Dankbarkeit: Ergänzend: 4.3.:
Audio: ‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen]
________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹40 ‒ Dichtung›, 49
[2] DICHTUNG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 132
[3] Johann Philipp Neumann (1774-1849), Liedtext aus dem Gloria in Franz Schuberts ‹Deutscher Messe›
[4] Erwachende Worte (2023): 2 ‒ Staunen, 21
[5] Orientierung finden (2021): Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer mehr›, 56
[6] Meine BESONDERE Bibelstelle ‒ ‹In ihm leben wir› (2023)
[7] Erwachende Worte (2023): 13 ‒ Worte, 43
[8] Martin Heidegger: ‹Unterwegs zur Sprache›, Stuttgart, Klett-Cotta 2022; siehe auch die Transkription des Vortrags Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014), 5, wie auch die Einleitung in allen drei Vorträgen zum Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
[9] Orientierung finden (2021): Der erste Schritt ‒ Orientierung, 15f.
[10] In Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II: 140-148, 150f., den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014, bildete dieses Sonett ‒ wie auch das vorhergehende: ‹Wolle die Wandlung› ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage.
Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe den Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06)
Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Buch Credo (2015) und dem Vortrag Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.
[11] Bruder David spricht vom gleichen Sonett wie in Anm. 10
Doppelbereich Ich-Selbst
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Audio Tag 4 ‒ Nachmittag (21:24)] «Wie können wir leben und sterben lernen? Und da hat Rilke einen Begriff eingeführt, einen bildlichen Begriff: den Doppelbereich.
Das ist für ihn etwas ganz Wichtiges, dieses Wort der Doppelbereich. Das heißt: Zwei Bereiche sind eins, nicht ein Doppelbereich in dem Sinn, dass die nebeneinanderstehen, sondern sie sind eins, und doch zwei.
In einem der Sonette an Orpheus (1. Teil, IX) erwähnt Rilke den Ausdruck ‹Doppelbereich› im Zusammenhang mit ‹rühmen›:
‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.›
Was ist unsere Lebensaufgabe? Die große Aufgabe des Menschen ist für Rilke mit einem Wort: Rühmen. Und mit dem Zitat von Augustinus wird klarer, was damit gemeint ist:
‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus).
Jedes Detail ist nur ein kleiner Teil. Rilke spricht in einem seiner Sonette (2. Teil, XXI) von einem gewobenen Teppich:
‹Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.›
Nur wer rühmen kann ‹auch unter Schatten›, kann das unendliche ‒ nicht das endliche ‒ Lob ahnend erstatten. Und dann kommen Bilder, die einfach heißen: Nur wer den Tod integriert, ‹wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren›:
‹Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
W i s s e d a s B i l d.Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›
Mild im Sinn von ‹compassion› ‒ ‹mifühlen›: Also Weisheit und Mitgefühl bekommen erst Raum, wenn man im Doppelbereich lebt.
Und dieser Doppelbereich ist offensichtlich für Rilke das Leben und das Sterben. Die gehören ebenso zusammen, dass es eins ist. Wer wirklich lebt, lebt voll im jetzigen Augenblick und ist schon gestorben für die Vergangenheit.
Und dieses Einüben Schritt für Schritt: im Augenblick, im Jetzt leben, und so lernen loszulassen, das ist Sterben lernen.
T. S. Eliot sagt in den Four Quartets:
‹Die Zeit des Sterbens ist jeder Augenblick.› ‒ ‹And the time of death ist every moment.›[1]
Dieser Doppelbereich ist nicht einfach Einheit, aber auch nicht Zweiheit[2] ‒ das ist immer die Gefahr, wenn man sagt ‹Doppelbereich›, es sind zwei Seiten einer Münze ‒ viel mehr noch wie zwei Seiten ‒, ganz eng verbunden. Aber man kann sie doch unterscheiden ‒ sie sind untrennbar ‒, aber unterscheidbar.
(26:32) Ich-Selbst ist ebenso ein Doppelbereich, solange wir leben. Und ganz eng verbunden mit dem Doppelaspekt von Leben und Sterben, denn das Selbst lebt, das kann nicht sterben. Es ist nicht in der Zeit.
Und das Sterben kann definiert werden: ‹Wenn meine Zeit um ist›. Das ist eine ganz gute Definition: Ich sterbe, wenn meine Zeit um ist. Meine Zeit beginnt zu einem gewissen Punkt und ist dann zu einem gewissen Punkt um.
Und Zeit und Raum hängen so eng zusammen, dass mein Leib stirbt, wenn meine Zeit um ist, aber was davon gar nicht berührt wird, ist mein Selbst.
Wir vergessen halt das Selbst immer, aber je mehr wir lernen im Ich-Selbst zu leben ‒ und das heißt im Augenblick zu leben: wir brauchen uns gar nicht um das Selbst zu kümmern, wir brauchen gar nicht an das Selbst zu denken, dann leben wir schon im Selbst.
Und je mehr wir lernen, das zu tun, umso mehr wird dann der letzte Augenblick der Augenblick sein, in dem das Ich stirbt, aber das Selbst bleibt: ewig, über der Zeit erhaben.
Es kommt für Rilke noch etwas sehr Wichtiges: Warum denn nicht gleich das Selbst? Warum dieser ganze Umweg über das Ich?
Und da hat er in einem Brief dieses wunderschöne Bild geprägt:
‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.›
Das Sichtbare ist alles, was mit dem Ich zu tun hat in Raum und Zeit, das Unsichtbare ist das Selbst. Und wir sind die Bienen des Unsichtbaren, die Honigbienen und eifrig ‒ ‹éperdument› ‒, er schreibt das in Französisch[3]: ganz hingegeben sammeln wir den Nektar des Sichtbaren ‒ also alles, was wir mit den Sinnen erfassen ‒, in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren.
Das ist unsere Lebensaufgabe. Und das heißt, dass nichts verlorengeht.
Es kann nicht verloren gehen, denn ‹Alles ist immer jetzt› (T. S. Eliot).[4]
Und wenn wir im Jetzt leben, ist es und ist und ist: Es hat Anteil an der Zeit ‒ wir erleben es in der Zeit ‒, aber alles, was ist, ist zugleich in diesem Doppelbereich, zugleich in der Zeit und über die Zeit hinaus, weil ‹Alles ist immer jetzt› ist, alles! Und das ist nicht nur der Mensch, der immer ist.»[5]
«Doppelbereich nennt Rilke die Einheit von Diesseits und Jenseits und sagt:
‹Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten.›[6]
Nur wenn ich mich bewusst in diesem Doppelbereich von Vergänglichem und Bleibendem bewege, kann ich in allem Vergänglichen das Bleibende miterfahren und in allem Bleibenden Dich, Du Ursprung bleibenden Seins.
Erweitere Du die Reichweite meiner Sinne; öffne sie für das Übersinnliche im Sinnlichen. Lass mich ‹die Spiegelung im Teich› als ein Ganzes sehen und dieses Bild niemals vergessen. Lass mich jetzt schon das vertrauliche Nahsein der uns Vorangegangenen erfahren. Und wenn meine Zeit kommt, heimzugehen, dann schenk mir einen sanften Übergang. Amen.»[7]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5 und 7]
[Ergänzend:
1. ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› und unsere Aufgabe: Rühmen, Er-innern, Aufheben
2. Den einen Pol im andern sehen:
Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild
Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»
Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.
Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:
‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›
Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.
Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»]
________________
[1] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, III
[2] A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128: ‹A-Dwaita ist ein zentral wichtiges Wort im Hinduismus und bedeutet wörtlich Nicht-Zweiheit›; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 3.1.
[3] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: ‹Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’dor de l’Invisible.›
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[5] Sinngemäße Wiedergabe des Vortrags von Bruder David in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag: ‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere› (21:24-31:31)
[6] Rilke, aus der Ersten Duineser Elegie
[7] Erwachende Worte (2023): ‹Doppelbereich›, 35
Dreifaltigkeit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Mehr als achttausend Menschen hatten sich in Chicago zusammengefunden, um an dem Parlament der Weltreligionen im August 1993 teilzunehmen. Von der ganzen Welt kamen sie als Abgeordnete einer großen Vielfalt religiöser Traditionen. Mit dem ersten Parlament der Weltreligionen 1893 war Chicago zum Geburtsort des weltweiten interreligiösen Dialogs geworden, der damals etwas Unerhörtes war. Seitdem hatte dieser Austausch nach und nach Schwung gewonnen, aber erst jetzt, hundert Jahre später, war die Zeit reif für ein zweites solches Treffen. Jetzt war dieser historische Augenblick gekommen. Und da war ich nur ganz überwältigt von der Ehre, zu diesem Ereignis beitragen zu dürfen. Spannung lag in der Luft. Die Frage, worüber ich vor einer so achtunggebietenden Zuhörerschaft sprechen sollte, ließ mich in dieser Nacht nicht schlafen.
Zweierlei war mir klar: Was ich sagen würde, musste meine eigene christlich-katholische Tradition getreu darstellen und musste zugleich für die Vertreter anderer Traditionen verständlich sein.
Ich hatte also vom Herzen meiner Tradition zum Herzen aller anderen zu sprechen.
Das Herzstück der christlichen Tradition ist ohne Zweifel die Dreieinigkeit Gottes ‒ Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Wie konnte ich aber hoffen, diese tiefgründigste Lehre der christlichen Tradition den anderen nahezubringen?
War gegenseitiges Verständnis im interreligiösen Dialog überhaupt möglich, wenn es um den kennzeichnenden Glaubensinhalt weit auseinanderliegender Traditionen ging?
Diese Fragen waren entscheidend und sie plagten mich in dieser schlaflosen Nacht.
Zwei Begriffe schoben sich langsam immer mehr in den Vordergrund meines Denkens ‒ Glaube und Lehre.
Glauben haben wir alle, aber unsere Lehren gehen weit auseinander.
Unsere Herzen verstehen die innere Haltung des Sich Verlassens, die glauben heißt, aber unsere Vernunft ringt mit den so unterschiedlichen Lehren, in denen der Glaube sich ausdrückt; sie scheinen unüberbrückbar.
Glaube vereint, Lehren trennen uns.
Es wurde mir klar, dass ich tiefer gehen müsste und fragen: Wie stehen Glaube und Lehre eigentlich zueinander?
In welchem Verhältnis steht mein eigener Glaube zu den Lehren, die ich gläubig bekenne?
Da war die Antwort leicht: Die Lehren sind Ausdruck meines Glaubens. Sobald mir das klar war, hatte ich den Ansatz für gegenseitiges Verständnis:
Ich würde appellieren müssen an den Glauben, der uns eint, trotz der Lehren, die uns trennen.
Was aber ist dieser uns allen gemeinsamer Glaube, bevor er sich in dieser oder jener Lehre ausdrückt? Wie erleben wir ihn?
Hier muss ich meine Leser einladen, diese Frage selber zu beantworten. Wie und in welchem Zusammenhang wird dir dein tiefstes Vertrauen auf die Vertrauenswürdigkeit des Lebens bewusst?
Meine eigene Antwort begann sich abzuzeichnen, als ich die größte Herausforderung an meinen Glauben ins Auge fasste:
Hat überhaupt irgendetwas Sinn?
In meinen dunkelsten Stunden bezweifle ich das. Nur mutiges Vertrauen ‒ und das ist ja die Essenz des Ur-Glaubens ‒ kann universellen Zweifel überwinden.
Der allen Menschen gemeinsame Glaube ist also das tapfere Vertrauen, das wir beweisen durch unsere nie endende Suche nach letztem Sinn.
Sinnsuche ist die Triebkraft, die alle Menschenherzen bewegt. Das haben wir alle gemeinsam.
Sobald mir das bewusst wurde, war mir klar, worüber ich vor dem Parlament der Weltreligionen sprechen müsste: Über unsere Aufgabe, die uns gemeinsame Sinnsuche besser zu verstehen; und es würde meine Aufgabe sein, gemeinsam mit meinen Zuhörern damit zu beginnen.
Jetzt begann sich auch eine klare Struktur für meinen Ansatz herauszukristallisieren.
Sinn hat immer drei Aspekte: Wort , Schweigen und Verstehen.
Wenn eines von den dreien fehlt, fehlt auch Sinn.
Das müsste ich erklären im Hinblick auf die allgemeinmenschliche Erfahrung der Sinnsuche, und zwar unter den drei Gesichtspunkten von Wort, Schweigen und Verstehen.
Dass Wort und Sinn zusammengehören, leuchtet vielleicht am schnellsten ein.
Wenn wir etwas sinnvoll finden, dann sagen wir, dass es uns etwas sagt. Es ist also Wort in der weitesten Bedeutung ‒ nicht ein Wort aus einem Wörterbuch, aber doch Wort, dadurch, dass es Sinn vermittelt.
Jedes Wort aber, das wirklich sinnträchtig ist, kommt aus dem Schweigen ‒ aus dem Herzen der Stille; nur so kann es zur Stille des Herzens sprechen. (Alles andere ist nur Geschwätz.)
Weder Wort noch Schweigen können aber das «Aha!» der Sinnfindung auslösen, wenn Verstehen fehlt.
Verstehen ist ein dynamischer Vorgang.
Wenn wir so tief hinhorchen auf ein Wort, dass es uns in das Schweigen führen kann, aus dem es kommt, dann ereignet sich Verstehen.
Schweigen kommt zu Wort und das Wort kehrt durch Verstehen heim ins Schweigen.
Die Delegierten in Chicago waren eine buntgemischte Schar und boten einen farbenreichen Anblick ‒ von den safranfarbenen Roben der buddhistischen zu den schwarzen Soutanen der orthodoxen Mönche; von den hohen Kopfbedeckungen der ostkirchlichen Archimandriten zu den Gebetskäppchen der Rabbiner, den Turbanen der Derwische und dem Federschmuck der Indianerhäuptlinge.
Während sich meine Augen an dieser großen Vielfalt weideten, wusste ich, dass unter all diesen Hüllen ein und dieselbe Sehnsucht diese Menschen hier zusammengeführt hatte und in ihren Herzen brannte: Sehnsucht nach Sinn.
Wenn jede spirituelle Tradition Ausdruck der unstillbaren Sinnsuche des Menschenherzens ist, dann müssen die drei charakteristischen Aspekte von Sinn ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ jede Religion auf eigene Art kennzeichnen.
Freilich sollten wir Unterschiede in der Betonung des ein oder anderen Aspektes erwarten, und die finden wir auch tatsächlich.
In den uralten ursprünglichen Religionen ‒ z. B. in Australien, Afrika und Amerika ‒ sind die drei noch gleichbetont und eng miteinander verwoben in Mythos, Ritual und Gemeinschaftsleben.
Als aber Hinduismus, Buddhismus und die Amen-Traditionen des Westens aus der gemeinsamen ur-religiösen Matrix herauswuchsen, begann der Nachdruck immer stärker auf einen oder den anderen Bereich zu fallen, obwohl alle drei ‒ Wort, Schweigen und Verstehen ‒ in keiner Tradition ganz verloren gehen können.
Hier beim Parlament der Weltreligionen zeigte sich mir aber etwas Wichtiges:
Spiritualität ist nicht nur ein Suchen nach Sinn, sie ist ebenso Feier von Sinn.
Jeder dieser wundervollen Tage in Chicago brachte neue Feiern und Festlichkeiten, in denen die Schönheit einer Tradition nach der anderen zum Leuchten kam.
Das Bild eines prachtvollen Reigentanzes drängte sich mir dabei auf, und ich entschied mich, es in meiner Ansprache zu verwenden.
Schon im 4. Jahrhundert verwendeten die griechischen Kirchenväter das Bild des Reigens oder Rundtanzes ‒ so wie Kinder ihn tanzen, einander bei den Händen haltend und «Ringa ringa reia» singend ‒, um tiefe theologische Einsichten über Gottes Dreieinigkeit auszusprechen:
Der Sohn ‒ Christus als «Choryphaeos», als Anführer des Tanzes ‒ kommt aus der Verborgenheit des Vaters hervor und kehrt im Schwung des Heiligen Geistes zum Vater zurück.
Wenn mein christlicher Glaube an Gott als dreieinig ‒ nicht eins und nicht drei, sondern eins in drei und drei in eins ‒ wirklich Ausdruck des Ur-Glaubens ist, dann musste selbst eine so spezifische Lehre wie die von Gottes Dreifaltigkeit keimhaft in dem Glauben enthalten sein, den ich mit allen Menschen gemein habe.
Andersgläubige sind eben auch gläubig Sinnsuchende.
Und dieser keimhafte Ansatz liegt tatsächlich in der Bedeutung, die Wort, Schweigen und Verstehen bei der Sinnsuche zukommt.
Aus dieser Sicht ist menschlicher Ur-Glaube zumindest implizit trinitarisch.
Es begann mir zu dämmern, dass die «Offenbarung» der Trinität, die ich immer für ausschließlich christlich gehalten hatte, das Herzstück des Glaubens schlechthin war.
So konnte ich also hoffen, andersgläubige Schwestern und Brüder zu erreichen, wenn ich von dieser Trinität aus meiner christlichen Perspektive sprach.
Das entschied ich mich also zu tun. Ich würde über das menschliche Streben nach Sinn sprechen und das Bild eines festlichen Reigens ausmalen, bei dem die vom Wort Lebenden Hand in Hand mit denen, die ins Schweigen tauchen, und mit denen, die den Pfad des Verstehens gehen, tanzen.
Ein Rundtanz hat etwas Faszinierendes an sich. (Wir müssen da unsere Vorstellungskraft zu Hilfe rufen.)
Solange wir außerhalb des Kreises stehen, wird es uns immer so vorkommen, als ob die uns am nächsten Tanzenden in die eine Richtung gingen, die uns am fernsten aber in die Entgegengesetzte.
Solange wir von außen zuschauen, bleiben wir in dieser Illusion gefangen; wir können es nicht anders sehen, selbst wenn wir wissen, dass es nur eine Illusion ist.
Im Augenblick aber, in dem wir selber in den Kreis eintreten und die Hände unserer Mittänzer halten, ist es klar, dass alle in die gleiche Richtung gehen.
Kaum hatte ich dieses Bild verwendet, konnte ich das «Aha!» der Anwesenden beinahe hören. Jetzt war, was ich zu sagen hatte, angekommen.
Es war einer der großen Augenblicke meines Lebens ‒ ein Höhepunkt, Gipfel-Erlebnis, Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit und weltweiter Gemeinschaft, Vorgeschmack des ewigen Jetzt.
Ich schaute über die Versammlung hin und konnte innerlich aus vielen Herzen ein Amen aufsteigen hören.
Gott ist die Treue im Herzen aller Dinge,[1] unser Glaube ist das Vertrauen darauf, und das Wort, das all das zusammenfasst, ist Amen.
Unser innerstes Wesen (die Christuswirklichkeit in uns) sagt Amen zur Treue (des verborgenen Gottes), und dieses Amen-Sagen ist die Dynamik des Glaubens (Werk des Heiligen Geistes).
So schwingen im Wort Amen selbst Obertöne des Glaubens an den dreieinigen Gott mit, wie auch von der heiligen Silbe Om gesagt wird, dass in ihr Einheit in Dreiheit und Dreiheit in Einheit anklinge.
Was sollten die Tänzer im großen Reigen der Religionen singen? «Amen, Amen und nochmals Amen!»
[Aus dem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 232-235, 237-239]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(27:13) Der Rund- oder Reigentanz der Trinität
1.2. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(42:49) Darbringung, Opfer und der Reigentanz der Trinität: der Reigentanz der Dankbarkeit
Spiritualität und Ökumene:
(01:06:48) Trinitarische Erfahrung: Das Gebet der Stille ‒ ‹Von jedem Worte Gottes leben›: Brot heißt Leben und Stein heißt Tod: Die Versuchung Jesu in der Wüste und im Garten Gethsemane ‒ ‹Contemplatio in actione›: Gott im liebenden Tun erfahren / (01:12:38) Der römische Brunnen (C.F. Meyer)
1.3. Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
Fragerunde nach dem Vortrag in der evangelischen Ludwigskirche in Freiburg (DE):
(13:39) Der dreifaltige Gott – ein Kreislauf von Beziehungen
1.4. Audio-Vortrag Das Gottesbild der modernen Menschen (2009):
(33:17) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens. Unsere Gottesbeziehung im statischen Bild eines mit Wasser gefüllten Gefäßes, eingetaucht ins Meer, und im dynamischen Bild des Reigentanzes der Trinität.
1.5. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Fragen im anschließenden Gespräch an Bruder David in den folgenden 9 Audios:
Kirchliche Lehre über die Dreifaltigkeit
Kirchliche Lehre und Dreifaltigkeit als Archetyp
1.6 Begegnung der Religionen (1993)
Vortrag:
(30:12) Sich der Dreiheit von Wort – Schweigen – Verstehen hingeben ist dreifaltige Gotteserfahrung: Erfahrung des Mysteriums des dreifaltigen Gottes und zugleich Erfahrung jedes Menschen. Bruder David spricht mit Gerhard Tersteegen und C.F. Lewis vom Abgrund Gottes, von Gott, der mir näher ist als ich mir selber bin (hl. Augustinus) und bezieht sich auf den hl. Paulus in 1 Kor 2,10-12, sowie auf den biblischen Schöpfungsbericht: Wir verstehen Gott mit seinem eigenen Selbstverständnis – Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem
(51:31) Der himmlische, überirdische, außerzeitliche Reigentanz der Dreieinigkeit Gottes gespiegelt im Reigentanz der Religionen – Der Blickwinkel der Außenstehenden auf einen Kreistanz im Unterschied zu jenen, die drinnen sind
1.7. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(49:55) «Was könnte sich mehr unterscheiden als Wort, Schweigen und Verständnis, drei Begriffe, für die wir überhaupt keinen Oberbegriff haben. Wir können es kaum ‹drei› nennen, und das ist ja auch sehr passend, denn auch in der Trinität soll man ja eigentlich letztlich nicht von ‹drei› sprechen. Der hl. Augustinus sagt schön: ‹Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon in Häresie gefallen. Zu zählen ist da nichts. Aber es handelt sich um drei Grunderlebnisse.»
2. Texte
2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen, Texte im Buch Orientierung finden (2021): Teil 1 und Teil 2: Das ABC der Schlüsselworte:
Schweigen, Wort und Verstehen durch Tun
2.2. Stille leben, Text aus: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 152-159:
«Uns vom Wort führen lassen, heißt verantwortlich handeln.
Im Alltag bedeutet das, dass alle, die ‹durch den Geist Gottes geführt werden›, mit kindlicher Unbefangenheit in jeder Lage die rechte Antwort finden können in Wort und Tat.
In der weitesten Sicht bedeutet es Teilnahme an dem göttlichen Reigentanz, den die christliche Vorstellungskraft aus Johannes 16,28 herausliest, wo der Logos spricht:
‹Ausgegangen bin ich vom Vater und gekommen bin ich in die Welt; ich verlasse wieder die Welt und gehe zum Vater.›
Aus dem Schweigen kommend, kehrt das Wort durch liebendes Verstehen ins Schweigen zurück.
Mitzutanzen in diesem Reigen ist die höchste Erfüllung dessen, was wir ‹Leben aus der Stille› nennen.
Leben aus der Stille ist nichts anderes als dankbares Leben.
Im trinitarischen Rundtanz dürfen wir den Kreislauf der Dankbarkeit sehen. Wir erleben den Urgrund der Wirklichkeit als den Ursprung all dessen, was «es gibt».
Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, zeigt sich uns immer als Gegebenheit ‒ also als Gabe. Unser eigenes Leben ist uns zugleich gegeben und aufgegeben. Die Aufgabe, die in dieser Gabe liegt, heißt Leben in Dankbarkeit. Und worin besteht das? Einfach darin, dass wir uns dem Leben stellen.» (157f.)
2.3. Dankbarkeit als Schlüsselwort benediktinischer Spiritualität (2019):
«Unser Verständnis benediktinischen Gehorsams in seinem Dreischritt ist also zutiefst trinitarisch:
Durch lnnehalten und Horchen lassen wir uns hinab in das Schweigen des Vaters, aus dem das Wort seinen Ursprung nimmt.
lm lnnewerden und Hören stellen wir uns durch Christus und mit ihm und in ihm dem Willen des Vaters.
Den Anspruch, den wir da hören, verstehen wir aber erst wirklich durch gehorsames Tun im Heiligen Geist.
Sooft wir die Doxologie beten – und immer wieder will sie der heilige Benedikt (aus Ehrfurcht stehend) wiederholt wissen (RB 9,6f) – sooft werden wir an die tiefste Bedeutung gehorsamen Lebens erinnert: Leben im Gehorsam ist Ausdruck unseres Lebens im dreieinigen Gott.
Das drückte die ursprüngliche, weitaus dynamischere Form der Doxologie besser aus, als die heute übliche. Sie lautete:
Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geiste.»
2.4. Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 18-21]:
«Eines der Geschenke, für das ich in meinem Leben sehr dankbar bin ist die Art, wie ich von der Heiligen Dreifaltigkeit erfuhr. Andere erzählten mir, dass sie, als sie erfuhren, dass wir die Dreifaltigkeit nie verstehen könnten, schon früh entschieden hätten: ‹was soll’s!› Wenn man mir von diesem Geheimnis erzählte, war es immer in einem Ton, der mich einlud, dieses Geheimnis zu erkunden – eine Aufgabe nicht nur für ein ganzes Leben, sondern für die Ewigkeit, des Lebens jenseits von Zeit. Mein Gebetsleben war genau diese Entdeckungsfahrt und ist es immer noch. Mittlerweile bereits in den Siebzigern habe ich tatsächlich das Gefühl, noch kaum begonnen zu haben.
In einer Predigt unseres Studentenkaplans, des Dominikaners P. Diego, erlebte ich einen Höhenflug, außer mir durch die Erkenntnis, dass wir Gott als dreifaltig erkennen können, gerade weil wir in den ewigen Tanz von Vater, Sohn und Hl. Geist hineingezogen sind.
Für Wiener Studenten ist es keineswegs frivol, von Gott als tanzend zu sprechen. Tanzen ist etwas Ernsthaftes, natürlich nicht todernst, aber lebens-ernst. Viel später lernte ich den Hymnus der Shaker über Christus als ‹Herr des Tanzes› kennen.[2]
Ich lernte auch, dass weit zurück im 4. Jahrhundert der hl. Gregor von Nyssa vom ‹Kreistanz der Hl. Dreifaltigkeit› gesprochen hatte: der ewige Sohn kommt aus dem Vater hervor und führt uns mit der ganzen Schöpfung im Hl. Geist zum Vater zurück.
Wir können auch von diesem Großen Tanz in den Begriffen Wort, Schweigen und Tun sprechen: der Logos, das Wort Gottes kommt aus Gottes unergründlichem Schweigen hervor und kehrt zu Gott zurück, reich an Ernte im Hl. Geist, der zu liebendem Tun inspiriert.
Mein höchstes Ziel beim Gebet ist es, in diesen Tanz einzugehen durch alles, was ich tu oder denke oder leide oder sage. Nach diesem Ende-ohne-Ende sehne ich mich, wann immer ich bete:
Ehre sei dem Vater,
durch den Sohn,
im Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.»
2.5. Bruder David im Gespräch mit Fritjof Capra in: Wendezeit im Christentum (2015): TEIL 3, 152f. [und 168, siehe auch: TEIL I, 92-95]:
«Warum spricht man von Gott als Dreifaltigkeit?
Jetzt legen Sie den Finger auf die Entscheidende Stelle, wenn Sie sagen, Gott steht nicht zu irgendetwas anderem in Beziehung.
In unserem tiefsten Verhältnis zu Gott steht Gott letztendIich zu Gottes eigenem Selbst in Beziehung.
Dessen werden wir in unseren mystischen Augenblicken gewahr.
Unser wahres Selbst, das Beziehung zu Gott hat, ist einfach Gott-in-uns.
Diese Erfahrung impliziert, dass man von Gott als Dreifaltigkeit sprechen kann: Gott-in-uns, der unser tiefinnerstes Selbst darstellt; Gott als Horizont, zu dem wir letztendlich in Beziehung stehen; und Gott als lebendige Beziehung zwischen diesen beiden Polen unseres eigenen Lebens.
Das sind natürlich nicht drei, sondern ein Gott.
Alles Nachdenken über die Dreifaltigkeit beruht letzten Endes auf mystischer Erfahrung. Weniger begabte Theologen mögen allein mit Worten spielen; die großen Theologen haben jedoch stets gewusst, dass wir an Gottes eigenem Leben teilhaben.
Was wir nicht sagen können, ist, dass wir ein Teil Gottes sind. Denn was wir Gott nennen, ist zu einfach, um Teile zu haben. Deshalb sprechen wir von den vielen Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen nicht als Teilen von Gott, sondern sie sind ebenso viele Worte Gottes. Das meint die Bibel, wenn sie vom ganzen Universum sagt: ‹Gott sprach, und es entstand.›
Tatsächlich ist Gott auch zu einfach, um viele Worte zu sprechen. Es ist vielmehr so, als habe die Liebe, die Gott darstellt, sich von jeher in einem einzigen Wort so vollkommen ausgedrückt, dass man es auf zahllose Weise immer wieder neu aussprechen muss.
In diesem Sinne ist jeder von uns eine neue Art des Aussprechens von Gottes einem Wort. Hier jedoch machen wir die erregende Entdeckung, dass wir nicht nur ausgesprochen, sondern von Gott auch angesprochen werden.
So wird also Shūnyatā, Gott, ‹kein Ding›, das Große Schweigen durch ein Wort ausgedrückt, das so vollkommen ist, dass es alles aussagt und in jeder neuen Bedeutung von Gottes eigenem Selbstverständnis verstanden werden kann ‒ in unserem Innern, wie wir vorhin sagten.
Auf diese Weise sind wir selbst tief in diese Beziehung eingebunden ‒ durch uns Menschen nimmt diese Welt bewusst am dreifaltigen Leben Gottes teil.
Schweigen, Wort und Verstehen sind ‹Personen› des einen Gottes, jedoch eindeutig nicht in dem Sinne, in dem wir normalerweise von Personen sprechen.»
2.6. Interview Gelebte Dankbarkeit (2014) von Ingeborg Szöllösi mit Bruder David:
«Im Buch ‹Wendezeit im Christentum›, das ein Gespräch zwischen Ihnen und Fritjof Capra dokumentiert, beschreiben Sie die christliche Idee der Dreifaltigkeit sehr anschaulich: Gott ist Schweigen, Jesus ist Wort und der Heilige Geist Verstehen – oder wie Sie es vorhin ausdrückten: Fluss …»
«Ja, genau. Und was wir in der christlichen Tradition ‹Vater› nennen, ist die Quelle von allem, was es gibt. Es gibt, heißt: Gott gibt – demnach ist alles, was es gibt, gegeben – ein Geschenk. Wir selbst sind uns in diesem Sinne eine ‹Gegebenheit›: Wir haben uns nicht gemacht oder gekauft oder verdient, wir sind uns ‹gegeben› – daher ist ein Leben in Dankbarkeit ein göttliches Leben, ein Leben, das tagtäglich ‹Göttliches› wirkt und webt.
Und in Dankbarkeit gibt das Gegebene, der Sohn, sich selbst dem Geber, dem Vater.»
«Das, was im Zen als ‹Leere› bezeichnet wird, wäre das dann die Entsprechung von dem Gott, den Sie als das Schweigen begreifen?»
«Ja, das Schweigen oder die Quelle – das ist Gott. Die Quelle ist ‹Nichts› – und diese ‹Gottheit› jenseits des Vaters, von der auch Meister Eckhart und viele andere Mystiker sprechen, dieses Nichts als Fülle zu erfahren, dazu hat mir Zen verholfen.»
«Also muss man selbst seinen eigenen Gottesbegriff loslassen, um ihn mit neuer Kraft zu beleben?!»
«Selbstverständlich. Man erlebt das Durchdrungensein von Gott – und dann spürt man, dass man keinen erstarrten Gottesbegriff braucht. Wenn man an etwas klammert, dann ist man schon jetzt im Leben tot. Man kann dann nicht mehr im Fluss sein.»
2.7. Vortrag: An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«… Die drei großen Traditionen drücken das aus. Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen.
Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht. Wort, Schweigen und Verstehen.
Das Wort, das haben schon die griechischen Väter so gesehen, das Wort kommt aus dem Schweigen und geht durch das Verstehen ins Schweigen zurück.
Sie haben das den großen ‹Reigentanz der Trinität› genannt. Und wir sind in diesem Reigen und können teilnehmen an diesem Tanz. Das Wort ist der Anführer des Tanzes, der Koryphaios in diesem trinitarischen Tanz.»
2.8. Religionen und heiles Gottesbild, Text aus: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis, im Buch: MYSTIK ‒ Spiritulität der Zukunft: Erfahrung des Ewigen (2005), 80-83:
«Die Trinität Gottes ist ja kein christliches Monopol, sondern vielmehr ein Modell, das der Mystik aller Traditionen vertraut ist.»
2.9. Der theologische und religionswissenschaftliche Schlüsseltext von Bruder David zum Thema Dreifaltigkeit (Dreieinigkeit, Trinität) ist sein Beitrag in der Zeitschrift «Christ in der Gegenwart» (CIG) Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Die anfangs gestellte Frage: ‹Was schätze ich am Christentum› spitzt sich also für mich auf folgende zu: Was bewegt mich dazu, mich zur christlichen Lehre von Gottes Dreieinigkeit mit Überzeugung zu bekennen?
Die Kurzantwort lautet: persönliche Erfahrung - eine Erfahrung, die so tief wurzelt, dass sie über individuelles Erleben hinausreicht und Allgemeingültigkeit beansprucht. Meine längere Antwort wird zu zeigen haben, auf welchem Erfahrungswege ich zu dieser Überzeugung gekommen bin, was sie beinhaltet, und was sie für die Zukunft verspricht.»
«In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.»
2.10. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Wir werden uns also bemühen müssen um ein tieferes Verständnis menschlichen Sinnstrebens in dem dreifachen Zusammenhang von Wort, Schweigen und Ergriffenheit[3]. Wir werden dadurch sehen, wie alles das hinzielt auf das innerste Geheimnis des Christentums, nämlich das Geheimnis der Trinität. Und erst von dort, von unserem eigensten Zentralgeheimnis aus können wir hoffen, irgendwie zu verstehen, dass andere Traditionen der Menschheitsgeschichte ebenso sehr im Schweigen das Zentrum ihrer Sinnsuche finden oder in der Ergriffenheit, wie wir es im Wort finden.» (16f)
«Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen.
Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens.
Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz.
Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.» (67)]
____________________
[1] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]
[2] Die Shaker («Schüttler») waren eine im 18. Jahrhundert aus den Quäkern hervorgegangene Freikirche in den USA, in der man ekstatische Schütteltänze pflegte.
[3] Ergriffenheit im Unterschied zum Begreifen ist Verstehen in Ergriffenheit, liebendes Verstehen im Tun: «Was geschieht denn eigentlich, wenn wir verstehen? Wir hören ein Wort, öffnen uns dem Wort, stellen uns diesem Wort; das Wort ergreift uns, ergreift uns bis zur Sprachlosigkeit, wenn es uns wirklich zutiefst ergreift, und führt uns dadurch in das Schweigen. Verstehen ist also ein dynamischer Vorgang, der Wort und Schweigen miteinander verbindet.» (49f.)
Dunkelstunden
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wie können wir über innere Erfahrung von innen her sprechen? Die Antwort lautet: durch Dichtung. Wie die Sufis ‒ Professor Nasr nannte sie «Leute, die durch Andeutung reden»[1] ‒, so müssen wir uns in den Bereich vorwagen, von dem Rilke sagt: Das ist der Bereich der Dichtung.
Die Dichtung verdichtet unser Erlebnis und zerredet es nicht.
Darum möchte ich mit Ihnen ein paar Gedichte lesen. Die meisten sind von Rilke. Oft sind es nur Stellen aus Gedichten, aus Gedichten, die Ihnen wahrscheinlich gut bekannt sind, die Sie vielleicht sogar auswendig können. Anhand dieser Gedichte können wir vielleicht etwas aussprechen, was die Sache nicht zerredet, sondern verdichtet.
Gedichte lassen unser Erleben zu Wort kommen.
Sie brechen das Schweigen nicht, sondern das Schweigen kommt zu Wort im Gedicht.
So möchte ich beginnen mit ein paar Zeilen aus Rilkes Stundenbuch.
Rilke ist Mystiker, obwohl er meistens nicht so verstanden wird, und er sagt:
«DU Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte ‒
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.Ich glaube an Nächte.»
So spricht der Mystiker. Nicht, dass wir Schweigen und Wort, Versenkung und Erhebung, Dunkel und Licht trennen könnten.
Aber wir müssen in der Dunkelheit verwurzelt sein.
Wir müssen in der Tiefe verwurzelt sein.
So sagt Rilke auch:
«Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.»[2]
Die Weite, der Raum, die Leere ‒ diese Wirklichkeit erleben wir in unseren Dunkelstunden, die keineswegs verdunkelt sind, sondern die ein Leuchten hervorrufen, das unser ganzes Leben erhellt.
In unseren Dunkelstunden erfahren wir, dass wir ein zweites, zeitlos breites Leben haben. Aus diesen Stunden erwächst unsere Gotterfahrung. Ich verwende das Wort Gott hier zögernd.
Allzuoft ruft man damit Missverständnisse hervor. Ich möchte es aber erwähnen, damit alle jene, die sich mit dem Wort Gott wohlfühlen, wissen, worum es hier geht. Wir sprechen aber über ein Erlebnis, das auch all denen zugänglich ist, die sich mit dem Wort Gott nicht wohlfühlen. In unseren Dunkelstunden erleben wir das, was jene, die das Wort Gott richtig verwenden, Gott nennen. Unsere Dunkelstunden sind Stunden unserer eigenen mystischen Erfahrung
Ich wende mich hier jetzt an Ihre Erfahrung, an Ihre mystische Erfahrung, und niemand darf sagen, ich bin ja kein Mystiker.
Mystik heißt Erfahrung unserer letztlichen Zugehörigkeit.
Wer aber hat letzte Zugehörigkeit noch nie erfahren?
In Dunkelstunden, in wahren Herzstunden erleben wir diese tiefste Zugehörigkeit.
Und Gott, wenn das Wort richtig verwendet wird, ist der Bezugspunkt, der äußerste Bezugspunkt für unsere Zugehörigkeit.
Selbstverständlich ist das nur der kleinste gemeinsame Nenner. Von hier aus können wir den Gottraum erforschen, so wie man den Weltenraum erforscht. Ja, wir können in vielen verschiedenen Richtungen, von vielen verschiedenen Seiten her alle denselben Raum erforschen. Wir können auch Karten anfertigen aufgrund dieser Gottraum-Erforschungen. Karten sind nicht notwendigerweise ein Hindernis, im Gegenteil, sie sollen uns Hilfe sein auf unserer Gottraumfahrt. Wir dürfen nur die Karte nicht mit dem Abenteuer selbst verwechseln, und diese Gefahr besteht immer.
Darum sagt Rilke:
«Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, dass ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.»[3]
Das ist der Gott, den wir alle gemeinsam haben, von dem wir nicht mehr wissen, als dass tausend Wurzeln aus ihm trinken, aus ihr trinken und dass wir uns aus dieser Wärme heben.
Und damit sind wir schon bei der Arbeit, bei der Verbindung von Arbeit und Schweigen.
Denn die Tiefe, das Schweigen, das Mysterium, der Mythos, das Dunkel muss sich aussprechen in Wort, Logos, Erhebung, Licht, Auge.
Die beiden Bereiche gehören zusammen. Sie zusammenzubringen, das ist unsere eigentliche Arbeit.
Jede andere Arbeit ist unbedeutend, oberflächlich, aber hier ist unsere wahre Arbeit. In der biblischen Sprache heißt sie Schöpfung.
Rilke spricht davon, wenn er zu Gott betet:
«Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, ‒
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
dass du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.»[4]
[Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 290-292, 294]
«Was kann uns trösten?» ‒ in der Dunkelheit der Nacht, im Winter. Was tröstet uns?
Meine Antwort, das können Sie wahrscheinlich schon voraussehen, wenn Sie meine Bücher kennen, ist:
«Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.»
Dankbarkeit ist immer die große Antwort, der große Trost.
Eichendorff betitelte eines seiner Gedichte «Dank».
Es ist ein Lebensabendgedicht. Er schreibt:
«Mein Gott, dir sag ich Dank,
Dass du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang...
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.»
Die Dunkelheit der Nacht versöhnt.
Schon die Musik dieses Gedichtes ist unglaublich schön.
‹Da nun herein die Nacht dunkelt in ernster Pracht.›
In dem Rilke-Gedicht, das ich zu Anfang zum Morgen gelesen habe, heißt es:
«Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste.»[5]
Hier wird es erkannt: Dunkel und ernst kommt die Nacht, sie dunkelt in ernster Pracht.
Ich verstehe das Wort Dunkelheit in bewusstem Kontrast zu ‹Finsternis›.
Die Finsternis droht, die Dunkelheit aber versöhnt.
Die Finsternis ist etwas Bedrohliches, nicht aber die Dunkelheit.
Rilke im Stunden-Buch:
«DU Dunkelheit aus der ich stamme …
Aber die Dunkelheit hält alles an sich …
Ich glaube an Nächte.» ‒
Wenn wir uns auf diese große Nacht verlassen, die alles an sich hält, wenn wir vertrauend uns auf diese Nacht einlassen, dann finden wir darin Trost. Sehr tiefen Trost.
Aber zur Dunkelheit gehört beides: im Jetzt sein … alles umfassend … und still sein. Niemanden ausgrenzen und ganz still werden.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012), 33-36, Und ich mag mich nicht bewahren (Audio-CD) (2012) und Audio-Vortrag: Fragen, die uns bewegen[6] (2005)]
[Ergänzend:
1. Texte
1.1. Impulskontrolle finden (2022), zugleich Auszug aus: Orientierung finden (2021), 96-99:
«‹Ich sprach zu meiner Seele, sei still und warte›, sagt T. S. Eliot. Aber er weiß auch, dass Stille beängstigend werden kann, weil sie uns des Lärms beraubt, mit dem wir uns gern ablenken von der Dunkelheit, die in uns aufsteigt, wenn wir still werden. Fürchte dich nicht, sagt daher der Dichter, du kannst der inneren Stille und Dunkelheit vertrauen. Und er schließt mit den tröstlichen Worten: ‹Die Dunkelheit wird das Licht sein und die Stille das Tanzen.›»
1.2. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 10, 14-22, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 2: DU Dunkelheit, aus der ich stamme
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015):
Schweigen:
(52:10) Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden – DU Dunkelheit, aus der ich stamme – Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (Das Stunden-Buch)
2.2. Vertrauen in das Leben (2014):
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(27:09) Hineinhorchen in DU Dunkelheit, aus der ich stamme (Rilke)
2.3. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge (18.-20.06.1992):
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen:
«Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter!
Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.»]
___________________
[1] Seyyed Hossein Nasr: «Mystik und Rationalität im Islam», in: Geist und Natur (1989), 232
[2] «Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[3] «Ich habe viele Brüder in Sutanen» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[4] «Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz» (Rilke, Das Stunden-Buch)
[5] «Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.»
(Rilke, Das Stunden-Buch)
[6] Fragen, die uns bewegen (2005):
(33:17) In der Lebensneige, in der Dunkelheit der Nacht, im Winter: Was tröstet uns?
Mein Gott, dir sag ich Dank (Eichendorff, Dank) ‒ DU Dunkelheit, aus der ich stamme ‒ Wenn es nur einmal so ganz stille wäre
(Rilke, Das Stundenbuch)]
Ehrfurcht
Text und Interview von Br. David Steindl-Rast OSB
Das Wort weckt in mir eine Assoziation mit Kokosnüssen. Dahinter steht eine Kindheitserinnerung. Eine Kokosnuss war eine Seltenheit in unserem Dorf. Von uns Kindern wurde dieser nasenlose Koboldskopf, der uns aus der Einkaufstasche der Mutter anguckte, fast mit der gleichen Begeisterung begrüßt wie das Murmeltier, von dem wir im Sommer auf der Alm manchmal einen kurzen Blick erhaschen konnten. Eines jedenfalls haben Kokosnüsse den Murmeltieren voraus: Sie gaben Milch. Und nicht wie die Kühe. Kokosnüsse melken hieß, ihnen den Kopf anbohren. Bei diesem Anzapfen erreichte unsere freudige Erregung stets ihren Höhepunkt. Diesmal ‒ an dem Tag, seit dem Ehrfurcht und Kokosnüsse in meiner Erinnerung untrennbar verbunden sind ‒, diesmal überraschte der Jüngste die ganze Familie gerade in dem Augenblick, als wir alle erwarteten, die Kokosmilch herausschießen zu sehen. «Wegschauen!» rief er plötzlich. «Wegschauen! ‒ Niemand darf hinschauen, nur ich.» Ihm zuliebe, der als Einziger von uns drei Brüdern noch nicht zur Schule ging, und weil die Kokosnuss eigentlich ein Geburtstagsgeschenk für ihn war, schauten wir wirklich weg oder taten zumindest so, als ob wir wegschauten. Es wurde ganz still. «Jetzt hab ich etwas gesehen», erklärte er fast feierlich, «was vor mir noch niemand gesehen hat, nur Gott.»
Dieses begeisterte Erschaudern, das wir schon als Kinder ‒ vielleicht besonders als Kinder ‒ erleben, drückt wohl das innerste Wesen der Ehrfurcht aus.
Von da her möchte ich versuchen, drei Fragen zu beantworten: Wo liegt der Ursprung der Ehrfurcht? Was ist ihr Sinn? Und: Wie können wir sie pflegen?
Auf einen zwiefältigen Ursprung der Ehrfurcht weist schon das zusammengesetzte Wort selbst hin. Die Furcht, um die es hier geht, ist achtungsvolle Scheu vor dem Erhabenen; mit ihr paart sich aber die Wertschätzung, Achtung, ja die Bewunderung, die der erste Teil des Wortes ausdrückt. Wir sollen hier nämlich nicht so sehr an die Ehre in ihrer heutigen Bedeutung denken, sondern an das ältere Zeitwort «ehren», das für liebendes Anstaunen steht. Ehrfurcht geht also aus der Spannung zwischen heiligem Schaudern und anbetender Verehrung hervor. Sie bezieht sich auf die beiden Elemente des Heiligen, die Rudolf Otto als «Tremendum» und «Fascinosum» identifiziert. Was das Gefühl der Ehrfurcht auslöst, ist das Heilige.
Wir haben es hier mit einem menschlichen Urgefühl zu tun. Gefühle steuern unser Verhalten. So löst Hunger Nahrungssuche aus und Müdigkeit Schlaf. Urgefühle zu den grundlegenden Welten, in die wir als Menschen gestellt sind: Überwelt, Mitwelt und Innenwelt. Ehrfurcht, Mitgefühl und Scham nennt sie Vladimir Solovjew. Er ordnet der Innenwelt die Scham zu, mit der wir die Heiligkeit unserer Intimsphäre hüten; Mitgefühl ehrt die heiligen Bande, die uns mit unserer Mitwelt verbinden; Ehrfurcht wird durch das Heilige selbst ausgelöst; durch jenes grenzenlose Mehr, das uns jenseits des durch Raum und Zeit Begrenzten entgegenwartet ‒ in der Musik, manchmal in Gipfelerlebnissen, unter dem Sternenhimmel vielleicht.
Weil das Heilige eine so entscheidende Rolle spielt für die rechte Einbettung in unsere drei menschlichen Grundbereiche, darum eben auch die Ehrfurcht als das Gefühl, das vom Heiligen ausgelöst wird.
Darin liegt auch schon die Antwort auf unsere zweite Frage, was der Sinn der Ehrfurcht sei. Ehrfurcht gibt unserem Leben Orientierung. Die berühmten Zeilen des mystischen Dichters Teerstegen verbinden Ehrfurcht mit dem letztgültigen Orientierungspunkt:
«Gott ist gegenwärtig; Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!»[1]
Auf die göttliche Mitte hin orientiert die Ehrfurcht das menschliche Leben. Kein Wunder, dass wir mit der Ehrfurcht in zunehmendem Maß auch die Orientierung verlieren und unsere Welt aus den Angeln fällt.
«Ehrfurcht ist der Angelpunkt der Welt», Goethe wusste das noch, und er meinte damit «Ehrfurcht gegenüber der Natur, den Mitmenschen und Gott».
Zur Ehrfurcht vor der Natur rief, wie kein anderer, Albert Schweitzer uns auf. Er sah das Grundprinzip aller Ethik darin, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen.»
Als Prophet der Ehrfurcht vor der Natur lebte er sie uns konkret vor. Der Ehrfürchtige, so sagte Schweitzer «reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat Acht, dass er kein Insekt zertritt».
Wenn die Ehrfurcht uns so das Herz weitet, dass wir in Blumen und Insekten dem Heiligen begegnen, werden wir auch für unsere Mitmenschen ein weites Herz haben.
«Die Ehrfurcht schafft eine Atmosphäre von Feingefühl, Zartheit und Lebensschutz», sagt Anselm Grün.[2] Sein ‹Engel der Ehrfurcht› schützt die Würde auch des geringsten Menschen nicht nur gegen Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung, sondern auch gegen zynische Neugier, etwa der Medien. Den Mitmenschen ernst nehmen heißt ja, an das Heilige rühren.»
«Religion ist Ehrfurcht», sagt Thomas Mann, «die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis, das der Mensch ist.»
Das Menschliche ist eben, im Sinne Pascals, unendlich mehr als das Nur-Menschliche. Und das Natürliche ist unendlich mehr als das Nur-Natürliche.
Dafür legt Einstein als Naturwissenschaftler, aber auch als Mensch Zeugnis ab: «Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.» Ehrfurcht macht das Herz weit und lebendig.
Wie aber ‒ so lautete unsere dritte Frage ‒ wie können wir Ehrfurcht pflegen, zur Ehrfurcht erziehen?
Dazu gehören Stille und Gelassenheit. Ehrfurcht als menschliches Urgefühl klingt in uns an, wenn wir sie nur nicht mit Lärm und Ablenkung übertönen.
Zu «Gott ist in der Mitte» fügt Teerstegen gleich hinzu:
«Alles in uns schweige.»
Nur wenn wir den Kompass unseres Herzens stillhalten, kann die Kompassnadel sich auf den rechten Orientierungspol einspielen.
Stille schafft Raum, in dem Ehrfurcht sich entfalten kann. Ein Kind, dem nicht viel Stille geschenkt wurde, wird kaum ehrfürchtig auf Kokosmilch schauen. Die Indianer wussten das. Sie sagten:
«Ein richtig erzogenes Kind kann sitzen und schauen, wenn nichts zu sehen ist; es kann sitzen und horchen, wenn nichts zu hören ist.» Uns auf dieses Nichts immer wieder auszurichten ‒ auf das Nichts, aus dem alle Stille des Daseins entspringt ‒, das heißt Ehrfurcht pflegen.
Gibt es etwas, das besser geeignet wäre, unsere Welt zu erneuern?[3]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 3]
[Ergänzend:
1. Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht
2.1. EHRFURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:
«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»
2.2. WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:
«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt, und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung andrer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist. Das ist die Innenansicht von Menschenwürde. Es gilt dieses Grundverständnis von Würde festzuhalten, zugleich aber oberflächlichere und doch sehr wichtige Wertunterschiede anzuerkennen. Nur so können wir öde Gleichmacherei vermeiden. Es gibt eine Hierarchie der Werte. Für diese in vielen Bereichen der Kultur feinfühlig zu werden, kann unser Leben nachhaltig vertiefen und bereichern.»
3. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 56-58:
«‹Nichts ist, was dich schrecken darf,
und du bist daheim.›[4]
Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf.
Darum blickten unsere Augen noch mit ‹hellem Mut›.
Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe.
Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick?
Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen.
Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen.
Gerhard Teerstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende der Ehrfurcht hingewiesen. Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.
‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge!›
Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht.
Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existenzieller Angst zum Opfer.
Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.
Ehrfurcht ist eine eigenartige Furcht, eine Furcht, zu der man Mut braucht, den Mut, der auch der Demut eigen ist; ‹Dien-Mut›, Mut zu dienen; Mut sich zu verschenken.
Nur was wir verschenken, wird so wirklich unser eigen.
Aber unsere größte Angst ist es, uns selbst zu verlieren.
Daher ist auch der Mut, der diese Angst überwindet, Groß-Mut. So groß ist der Mut der Ehrfurcht, dass er jede Furcht austreibt.
Die Ehrfurcht findet sich im Sichverschenken.
Und weil sie sich so gefunden hat, weiß sie, dass nichts uns schrecken darf; weiß, dass wir daheim sind, hier und dort und überall.»
4. Terroismus oder Humanisms (2015)
Der Verlust der Ehrfurcht:
«In der christlichen Jugendbewegung setzten wir uns Mitte der 1930er-Jahre sehr bewusst für gesunde Werte ein. Wir hatten offene Augen für die fortschreitende Zersetzung von Werten in der abendländischen Gesellschaft, teils von innen her, teils durch Einflüsse ‹von außen›. Der Nationalsozialismus spielte sich als Bollwerk gegen diese Dekadenz auf und es gelang ihm dadurch ‒ anfangs zumindest ‒ viele der besten jungen Menschen zu verführen, die bereit waren, für hohe Ideale sogar ihr Leben einzusetzen. Eine ähnliche Gefahr droht heute offenbar jungen Muslimen.
Was die Terroristen in Paris[5] aufstachelte, war nicht die Pressefreiheit, sondern ihr schamloser Missbrauch: ehrfurchtslose Verletzung religiöser Sensibilität. Wache junge Muslime haben ein gesundes Gefühl für traditionelle Werte ihrer Kultur. Sie sehen sich bedroht, weil unsere Gesellschaft Werte missachtet, die ihnen heilig sind ‒ etwa die Ehrfurcht. Unser Werteverlust muss ihnen dekadent erscheinen ‒ und ist es leider tatsächlich. So spielen wir selber, wenn auch unabsichtlich, eine entrüstete Jugend radikalen Elementen in die Hände.
Je höher ein Wert, umso höher ist auch der Grad der Verantwortung, die er uns auferlegt. Pressefreiheit ist ein hoher, ein in der Geschichte teuer erkaufter Wert. Wir schulden denen, die uns ein so kostbares Erbe hinterlassen haben, ein Doppeltes: diese Freiheit unversehrt zu erhalten, sie aber auch verantwortungsbewusst zu gebrauchen.
Die Menschenmassen, die nach dem Pariser Anschlag für Pressefreiheit demonstrierten, sich für den Anspruch der Ehrfurcht aber blind zeigten, übersahen offenbar eine Hälfte unserer Aufgabe. Sie übersahen den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung. Wie können wir Pressefreiheit verteidigen, wenn wir nicht zugleich die Ehrfurcht verteidigen?
Zum Glück gibt es aber Unzählige, denen grundlegende Werte wie Ehrfurcht auch heute noch Halt und Richtung geben. Solche Menschen finden sich auch in unserer Gesellschaft, hüben und drüben aller Grenzlinien ‒ der politischen, der kulturellen, der religiösen. Wenn diese wahren Humanisten erst einmal über die Grenzen hinweg einander zurufen, einander finden und zu gemeinsamer Tatkraft erwachen, dann haben wir endlich ein weltweit gemeinsames Fundament gefunden für Hoffnung auf eine friedliche Welt.»
5. Mit Ehrfurcht abwaschen (1968): Bericht über David Steindl-Rast OSB:
6. Interviews und Dialog
6.1. Vom mythischen Wasser kosten (2019): Interview von Josef Bruckmoser mit Bruder David:
«Was können Christen aus den 99 Namen Gottes im Islam erfahren?»
Bruder David: «Den Islam zeichnet eine große Ehrfurcht vor dem überwältigenden Geheimnis Gottes aus. Dieser Schauder vor dem Heiligen sollte auch uns Christen wieder ergreifen.»
«Geht es dabei auch um die Ehrfurcht vor unserer Mitwelt, um die Ehrfurcht vor dem Leben auf dieser Welt?»
Bruder David: «Selbstverständlich. Es geht um Ehrfurcht vor dem Leben – im anderen Menschen, in der Natur und in mir selbst. Könnten wir die Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes, das uns im gelebten Leben bewusst wird, wiedergewinnen, dann hätten wir auch Ehrfurcht voreinander, und wir würden mit unserer Welt anders umgehen.»
6.2. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview von Anne Voigt mit Bruder David:
«Sie haben eine lange Lebenserfahrung. Was, denken Sie, ist das Wichtigste im Leben?»
Bruder David: «Wach bleiben, bewusst und dankbar leben und den Menschen mit Ehrfurcht und Liebe begegnen.»
6.3. Ken Wilber und David Steindl-Rast im Dialog (2019)
Ehrfurcht lernen:
Bruder David: «Das bedeutet aber auch, dass wir eine neue Haltung innerhalb der Wissenschaft brauchen, wir brauchen eine Wissenschaft mit Ehrfurcht vor unserer Umwelt. All das, was Wissenschaft uns lehrt, kann Heranwachsenden auf solche Art vermittelt werden, dass es ihre Ehrfurcht stärkt. Das ist dann eine große Bereicherung. Es ist auch eine wundervolle Art, den Menschen, die keine Verbindung mehr zu einer Kirche haben, etwas zu vermitteln, was früher die Kirchen ihren Gläubigen zu geben vermochten: ein Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung.
Diese Ehrfurcht in der Wissenschaft ist auch ein Ausdruck des religiösen Impulses, wenn wir ihn aus mythisch-wörtlichen Interpretationen befreien. Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis ist eine Ehrfurcht, die auch offen ist für einen Agnostiker oder Atheisten, denn wir müssen keinen religiösen Hintergrund haben, um Ehrfurcht zu empfinden.»]
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[1] Gerhard Tersteegen im Kirchenlied: GOTT IST GEGENWÄRTIG. Lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten. (Zugriff: Juli 2022), siehe auch: TRANSKRIPTION DES SEMINARS TEIL I, 64
[2] Anselm Grün: «50 Engel für das Jahr: ein Inspirationsbuch», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2006
[3] Ehrfurcht ‒ Kompass des Herzens in den Büchern Von Achtsamkeit bis Zuversicht (2015) und Mit einem weiten Herzen (2005)
[4] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.
Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen
[5] Bruder David bezieht sich in der Wochenzeitung Die FURCHE vom 5. Februar 2015 auf den Anschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» in Paris am 7. Januar
Eins mit dem Göttlichen
Interview, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Mir persönlich hat Zen geholfen, mein christliches Gottesverständnis zu vertiefen. Die entscheidende Schwelle war für mich die: Zu erleben, dass für mich selbst, aber auch für die Mehrzahl der aufgeweckten Menschen das alte Gottesbild oder die überlieferte Gottesvorstellung nicht mehr greift. Sie entspricht unserem heutigen Erleben nicht mehr. Wir leben heute in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, und zwar in allen Lebensbereichen, ob das nun Biologie oder Physik, Politik oder Wirtschaft ist.
Alles hängt mit allem zusammen ‒ das ist unsere Erfahrung tagtäglich. Wie sollen wir uns da mit einem Gott abfinden, der von der Welt und von uns getrennt sein soll? Der von uns getrennte Gott ‒ das geht nicht mehr! Doch das war schon in der echten lebendigen christlichen Tradition nicht anders ‒ kein Mystiker hätte das anders gesehen: Gott ist mit jedem von uns ganz intim verbunden, er ist nicht jenseits, er ist meine lebendige Gegenwart!
Im mystischen Erleben Gottes erfahren wir uns nicht als Wesen, die von Gott getrennt sind, sondern als Wesen, die mit dem Göttlichen eins sind. Das wird von allen Menschen ‒ ganz gleich, wie sie religiös eingestellt sind ‒ in einer innigen Weise erlebt. Da gibt es keine Glaubenssätze mehr, und der Mensch erlebt, dass sein innerstes Geheimnis eine göttliche Wirklichkeit ist: Ich kann mein Tiefstes nicht ausloten, denn diese tiefste Wirklichkeit ist meine göttliche Wirklichkeit.
Das ist schon in der Bibel gut ausgedrückt: Der Mensch ist Gottes Ebenbild ‒ Gott ist es, der durch uns hindurch atmet, wir sind durch Gottes eigenes Leben lebendig und genauso unauslotbar wie er. (archiviertes Interview 2014: Gelebte Dankbarkeit)
Wie ist es im biblischen Schöpfungsbericht dargestellt, dass der Mensch in Gottes Seinsweise versetzt sei? Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt.
Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht.
Es gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.
(aus dem Buch Die Frage nach Jesus (1973), Textauszug Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972)
Siehe auch Audio-Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003)
(28:51) Das mystische Gottesbild einer Welt, in der alles uns anspricht als Wort Gottes, denn ‚das Wort ist Fleisch geworden‘, und das ist das ewige Wort Gottes: Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.
Ebenso Audio Vortrag Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
(40:33) Br. David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution ist von Anbeginn Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gottmenschliche Wesen
Ebenso Audio-Vortrag: Retreat Woche in Assisi (1989): «Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn»
(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes
Einsiedlerleben
Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
In meinem 6. Lebensjahrzehnt wurde es von großer Bedeutung für mich, dass ich in der Kamaldulenser Einsiedelei an der Big Sur Küste Kaliforniens leben durfte. Diese Mönchsgemeinschaft verbindet eremitische Elemente mit Elementen des Gemeinschaftslebens. Ich wurde, wie schon erwähnt, dorthin eingeladen und brüderlich aufgenommen und fand in dieser Gemeinschaft l4 Jahre lang mein klösterliches Zuhause zwischen vielen Reisen.
Zu meinem Staunen erfuhr ich dort auch, dass der heilige Romuald, der Gründer der Kamaldulenser Benediktiner, schon vor 1000 Jahren ein Modell für das Mönchsleben entwickelte, das sich gerade heute wieder als ungemein zeitgemäß erweist. Unsere Lebenserwartung ist so viel größer geworden, dass ein junger Mensch, der heute ins Kloster eintritt, damit rechnen muss, zwei oder drei Mal so lange Mönch zu sein wie jemand zur Zeit Benedikts. Das Mönchsgelübde gilt zwar ein Leben lang, aber es in ein und derselben Form so viele Jahrzehnte lang zu verwirklichen, kann eintönig erscheinen.
Das Kamaldulenser Modell bietet nun neben dem üblichen Gemeinschaftsleben noch zwei weitere Formen an: Die erste heißt Mission (Aussendung) und umfasst jede Art von Dienstleistung außerhalb des Klosters, zu der ein Mönch ausgesandt wird ‒ etwa Lehrtätigkeit, künstlerische Betätigung, Dienst an alten, kranken Menschen, an Drogensüchtigen, Straßenapostolat oder Gefängnisseelsorge.
Die zweite Alternative zum Gemeinschaftsleben im Kloster ist das Leben in der Einsiedelei.
Zwischen diesen drei Formen ‒ Einsiedelei, Klostergemeinschaft und Sozialeinsatz ‒ abwechselnd kann also ein Mönch sein Gelübde leben. Auch Thomas Merton hielt dies für ein vielversprechendes und zukunftweisendes Modell mönchischen Lebens. Ich begann es in meinem eigenen Leben zu verwirklichen, lange bevor ich davon gehört hatte.
Meine weiten Reisen und meine Zeiten als Einsiedler gehören eng zusammen. Schon früh pulsiert mein Leben in der Spannung zwischen den beiden Beziehungspolen von äußerem und innerem Kontakt. Auch ein Einsiedler, der seine Aufgabe versteht, zieht sich ja nicht von Kontakt schlechthin zurück, sondern von äußerem Kontakt. Und mit welchem Ziel? Gerade um jene tiefe innere Verbundenheit zu erneuern, ohne die jeder äußere Kontakt oberflächlich bleibt.
Eine kurze Fabel stellt das reffend dar: Ein Einsiedler zieht sich jedes Jahr tiefer in seine Höhle zurück. Ein Besucher fragt ihn etwas spöttisch:
«Was erwartest du denn, in der tiefsten Tiefe deiner Höhle zu finden?»
Die Antwort des Einsiedlers:
«Alle Tränen der Welt.»[1]
Wir alle brauchen beides: Weite und Tiefe, Ausfahrt in die fremde Weite und Einkehr in die eigene Tiefe.
Rhythmus und Formen dieser beiden abwechselnden Sehnsüchte sind von Mensch zu Mensch verschieden.
Für mich persönlich sind der Verinnerlichung geweihte Zeiten lebensnotwendig. Das ist wie so vieles andere zugleich Bedürfnis und Begabung. Und als Begabung ist es sowohl Gabe als Aufgabe.
Schon als Kind suchte und fand ich immer wieder Orte, um allein zu sein. Einer meiner Lieblingsplätze war eine einsame Quelle. Ich wurde nicht müde, ganz alleine dort zu sitzen und dem Wasser zuzuhören.
Als Student flüchtete ich mich manchmal mitten in einer Party (so sehr mir das Tanzen Spaß machte!) zum einzigen Ort, an dem ich allein sein konnte ‒ dem WC. In meinem Sommer auf der Alm war mir stille Einkehr inmitten der Nachkriegswirren ebenso wichtig, wie dass ich dort etwas zu essen bekam. Auch als junger Mönch durfte ich manchmal einen Tag oder sogar einige Tage in der kleinen Einsiedlerhütte im Klosterwald verbringen.
Das begann aufgrund eines Traumes, in dem irgendetwas ‒ ich konnte es nicht benennen ‒ mich schwer bedrückte. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Ein langer, enger Tunnel führte mich endlich ins Freie.
Da stand ich nun. In strahlendem Sonnenlicht blickte ich um mich und sah vor mir unsere Einsiedelei. Porta coeli hatten wir sie benannt ‒ «Himmelspforte» ‒, und das wurde sie in der Tat für mich ‒ Ort einer Seligkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt.
Als später meine Vortragsreisen begannen, wurden Zeiten des Alleinseins wichtig. Dieses Bedürfnis wird oft von den Mitbrüdern nicht gern gesehen. Der typische Einwand lautet: «Wenn ein Bruder tüchtig genug ist, um alleine zu leben, dann brauchen wir ihn in der Gemeinschaft, wenn nicht, dann braucht er uns.»
Mein Abt aber sagte mir: «Draußen bist du so viel unter Menschen. Wenn du heimkommst, brauchst du nicht wieder Menschen, nicht einmal deine Brüder im Kloster. Die Einsiedelei wird dir da guttun.»
Das stimmte. Zuerst war es die eine oder die andere unserer Einsiedeleien im Klosterwald von Mount Saviour, wohin ich mich zurückzog, dann andere Orte, die sich anboten. Manche, die ich hier näher erwähnen werde, waren recht romantisch, etwa Bear Island, eine winzige Insel im Nordatlantik, auf der ich einen Winter mit Kälterekorden dankbar überlebte, oder Sand Island Light, ein verlassener Leuchtturm im Golf von Mexiko, von dem aus ich nichts sehen konnte als Meer und Himmel.
Man sollte sich aber keine romantischen Vorstellungen machen vom Einsiedlerleben. Letztlich verlangt es nüchterne Konfrontation mit sich selbst und mit allen Tränen der Welt.
Zum Leben als Einsiedler gehört es, freiwillig ausgesetzt zu sein im Sinne von Rilkes dichterischem Bild:
«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.»[2]
Der äußere Ausdruck dafür, innerlich preisgegeben zu sein und sich verwundbar zu machen, ist ein Aufgeben bürgerlicher Geborgenheit.
Das durfte ich auf Bear Island[3] erleben, einem Inselchen von etwa sieben Hektar, auf dem nur ein Leuchtturm der Küstenwache Platz hat und der 100 Jahre alte Sommersitz der Familie Dunbar. Diese großzügigen Freunde erlaubten mir, mich in einem ihrer Gebäude einzuquartieren. Ich wählte einen Holzbau mit Werkstatt und Holzlager im Erdgeschoss und zwei Räumen darüber, die Rick Dunn mir winterfest machen half. Rick war im Winter 1976/77 dort mein getreuer Helfer. Schon der heilige Franziskus von Assisi wollte, dass einem Einsiedlerbruder immer ein zweiter als Helfer zur Seite steht, und sogar bei den frühen Wüstenvätern finden wir diesen Brauch. Wenn die Zusammenarbeit gelingt, dann gewährt dies dem Einsiedler vermehrte äußere und auch innere Freiheit. Bei uns bewährte sie sich, denn Dick meisterte die Kunst brüderlicher Fürsorge und die noch seltenere Kunst, sich gerade aus Fürsorge zeitweise unsichtbar zu machen.
Mit unserem Holzofen konnten wir uns ganz gut warmhalten. Auf dem obersten Wandbrett war es sogar warm genug, dass Keimsprossen gedeihten. In der Ecke unter dem Bett blies aber der Wind durch ein Loch in der doch nicht ganz winterfesten Wand immer wieder ein Häufchen Schnee herein. Wind gab es viel, und beim ärgsten Sturm dieses Winters mussten wir mitten in der Nacht zum Leuchtturm flüchten. Dort lebten ‒ mit Erlaubnis von «Captain», der Katze ‒ Steve Cancellari von der Küstenwache, Mary, seine Frau, und ihr Töchterchen Maggie und das Baby. Wir sahen sie gewöhnlich nur sonntags, wenn wir im Motorboot gemeinsam nach Southwest Harbor zur Messe fuhren. Sogar im Motorboot konnte das gefährlich werden, wie etwa am Weihnachtstag. Bei der Ausfahrt war das Meer spiegelglatt, nach dem Gottesdienst aber ging die Brandung so hoch, dass Steve erst nach Stunden die Rückfahrt wagte. Und ein Wagnis war es tatsächlich. Rick und ich konnten kaum schnell genug das Wasser aus dem Boot schöpfen, das sich Woge um Woge ergoss, während Mary versuchte, die weinenden Kinder zu beruhigen. Steve war trotz all seiner Mühe und Geschicklichkeit nicht imstande, das Boot an der rechten Stelle an Land zu bringen, sodass wir die letzten Meter, hüfttief im eisigen Meerwasser, die Kinder ans Ufer tragen und dann den Rest des Christtags im Bett feiern mussten ‒ mit dem bisschen, was wir an alkoholischen Getränken aufstöbern konnten. Und wenn schon das motorisierte Übersetzen gefährlich werden konnte, wie gefährlich war dann erst das Rudern. Da meinten wir mehr als einmal, unsere letzte Stunde hätte geschlagen. Aber gerade auch die «Süße reifender Gefahr»[4] gehört zu dieser Art von Einsiedlerleben.
Einen ganz anderen Aspekt lernte ich in der Hochwüste New Mexicos kennen. Dort hatten Mönche von Mount Saviour schon 1964 unter P. Aelred Wall ein Kloster gegründet «Christ in the Desert». Hier durfte ich in einer Lehmziegelhütte ‒ nicht weit vom Kloster, aber allein ‒ eine Fastenzeit erleben. Das Mitfeiern mit den Brüdern wurde in dieser Zeit für mich zur Kraftquelle beim Alleinsein, besonders, weil dort das Stundengebet dem kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten folgte, so wie Benedikt es vorsah. Unter dem Nachthimmel, an dem wie glitzernde Tautropfen die Sterne standen, durch die eisige Wüste zum Gebet zu gehen und rundum die Kojoten heulen zu hören, das war ein einzigartiger Tagesbeginn. Dann leuchteten je nach Sonnenstand Stunde um Stunde immer andere braune, rote, violette oder orangefarbene Felswände in diesem Canyon auf, bis nach einem letzten Aufflammen bei Sonnenuntergang die Dämmerung das Farbenspiel dämpfte und ausklingen ließ. Dieser stündliche Wandel des Lichtes gab den Tagen äußere, aber auch innere Ordnung.
Ein Einsiedlermönch soll sich zwar keine fixe Tagesregel vornehmen (wer das will, kann ja das Gemeinschaftsleben wählen). Er soll frei bleiben, sich vom Geist leiten zu lassen, der «weht, wo er will»[5].
Einzigartiger Ausdruck dieses göttlichen Lebensatems ist der Rhythmus des Kosmos. Er wird daher den Tagesablauf in der Einsiedelei mitgestalten, wie immer dieser auch sonst im Einzelnen aussieht. Je mehr wir uns innerlich der Natur anpassen, umso widerstandsfähiger werden wir gegen alle Willkür, die in unserer Gesellschaft vorherrscht.
Dieser Aspekt des eremitischen Lebens wurde mir besonders in den Wochen bewusst, die ich (den Namen des Ortes bewahrheitend) mit «Christus in der Wüste» feiern durfte.
(Bruder David erzählt weiter von der Einsiedelei auf Sand Island[6], einer Insel im Golf von Mexiko, gerade groß genug, dass ein Leuchtturm darauf Platz hat. Er war dort mit seinem Freund, dem Franziskaner P. Augustin Gordon. Sie trafen sich täglich nur zur ge-
meinsamen Eucharistiefeier. Die übrige Zeit verbrachte jeder allein auf dem Balkon, der unter der obersten Spitze rund um den 40 m hohen Turm läuft – schweigend und hinausschauend auf Himmel und Meer.)
Meist waren die Orte, an denen ich allein leben durfte, weit weniger außergewöhnlich, aber außergewöhnlich lieb wurden sie mir alle ‒ besonders einer: die Einsiedelei, die ich bei P. John Giuliani einrichten durfte. Mit diesem lieben Freund gemeinsam war ich an der Gründung der «Benedictine Grange» im Staat Connecticut beteiligt. «Grange» nannten wir unser Experiment, weil dieses Wort eine kleine Mönchsniederlassung entfernt vom Kloster bezeichnet, zugleich aber auch einen Speicher für Saatgut.
Zum Saatgut mönchischen Lebens für die Zukunft gehört auch seine eremitische Seite.
Darum durfte ich mich nun in einer Hälfte unserer kleinen Garage einnisten und sogar ein oberes Stockwerk bauen.
Fast in jeder beliebigen Umgebung sollte das Wesentliche gelingen:
«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens»
In deinem Tagesrhythmus ohne Willkür
allein zu sein mit dem All-Einen,
«solus cum Solo»
und das Herz offen zu halten
«für alle Tränen der Welt».
Eine Einsiedelei, in der ich mich besonders zu Hause fühlte, möchte ich noch zum Abschluss erwähnen: Sky Farm Hermitage. Mein Freund, P. Dunstan Morrissey OSB hatte ein großes Stück Land in Sonoma, nördlich von San Francisco, geschenkt bekommen und lebte dort in einer Einsiedelei, die er Himmelsfarm nannte, vielleicht deshalb, weil dort am Tag nicht viel zu ernten ist, der tiefschwarze Nachthimmel sich aber wie eine fruchtschwere Baumkrone wölbt, in der zum Greifen nah die Sterne hängen.
Was ich dort zum ersten Mal erlebe, ist Einsiedelei als «Bleibe». Zwar kann ich nur zwischen Reisen auf Sky Farm Zeit verbringen, aber ich weiß: Ich gehöre dorthin. Das Land und seine Einsiedeleien gehören nicht uns, aber sie sind uns in Treuhand anvertraut, wir sind verantwortlich für dieses kleine Paradies. Wir pflanzen Bäume ‒ Olivenbäume, die vielleicht in 100 Jahren anderen Einsiedlern hier Schatten und Früchte schenken werden. Land, auf dem man Bäume pflanzen darf, wird dem Herzen zur Bleibe.
So wie wir alle den Mönch als Archetyp in uns tragen,
so auch den Einsiedler.
Unsere größte Freude auf Sky Farm ist es,
dieses Geschenk mit Menschen teilen zu dürfen,
die ihrem inneren Einsiedler begegnen wollen,
wenn auch nur für kurze Zeit.
Ist nicht schließlich das ganze Leben nur «auf Zeit»?Bruder David im Dialog mit Johannes Kaup:
JK: Sie sagen, dass sich der Mönch in seiner Einsiedelei «auf den Bergen des Herzens aussetzt» und zugleich «alle Tränen der Welt» findet bzw. sein Herz dafür offen halten soll. Was meinen Sie damit konkret?
BD: Dass ein Einsiedler dem Leiden nicht ausweicht. Das war im Zusammenhang gemeint. Und dass das Einsiedlerleben keine Flucht ist vor der Gemeinschaft. Wer es richtig lebt, dem schenkt das Einsiedlerleben tiefe Gemeinschaft mit allen, besonders mit den Leidenden.
JK: Wie tut es das? Was meint dann, «die Tränen der Welt» sind bei mir, in der Höhle, in der Hütte oder welche Form die Einsiedelei auch hat?
BD: Das Alleinsein und die Meditation machen uns sensibler und stärken das Mitgefühl für Menschen, Tiere und die ganze Schöpfung.
JK: Aber wie komme ich in der Einsiedelei mit all dem in Kontakt? Wie geht das?
BD: Von innen her durch Meditation, einfach deshalb, weil man nicht abgelenkt wird und sich bewusst nicht ablenken lässt. Die Welt ist voll Tränen. Schon Vergil sagt;
«Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.»[7]
Das heißt:
«Tränen sind in allen Dingen, und alles, was dem Tod geweiht ist, berührt unser Herz.»
Wir sind uns dessen meist nicht so bewusst, lassen uns sogar gerne ablenken. Deshalb ist es schwierig, allein zu leben ‒ weil man dann eben keine Ausflucht hat. Man wird sozusagen nackt mit allem konfrontiert, auch mit allem Leid der Welt.
JK: Von den biblischen Propheten bis hin zu Jesus, aber auch von den frühen Mönchen in der ägyptischen Sketis[8] wird berichtet, dass sie ihre Schlüsselerfahrungen oft in der Wüste hatten. Auch Sie waren mehrfach in der Wüste in einer Einsiedelei in New Mexico Ich denke, dass man hier mit einer Leere konfrontiert wird und mit sich selbst. Entweder man gibt durch solche Erfahrungen auf oder man wächst innerlich. Womit wurden Sie in Ihren Wüstenerfahrungen konfrontiert und was haben Sie dort gefunden?
BD: Jeder Mensch, der in die Wüste geht, erlebt wohl, dass es dort, wie schon gesagt, keine Ablenkungen gibt. Man wird mit der Natur in ihrer ganzen Größe konfrontiert, in ihrer überwältigenden Schönheit, zum Beispiel dem Sternenhimmel bei Nacht Man kann die Sterne in der Wüste so viel klarer sehen. Sie erscheinen so groß. Aber auch der Rauheit der Natur stehen wir in der Wüste gegenüber, etwa der eisigen Kälte bei Nacht.
JK: Man ist auch dankbarer für die Ressourcen, die einem zur Verfügung stehen, selbst wenn es nur das lebensnotwendige Wasser ist.
BD: Ja, man wird dankbar für alles. Und das führt zu einer inneren Vertiefung, wenn man es wirken lässt und nicht in irgendwelche Ablenkungen flieht oder einfach weggeht.
JK: Gab es Momente, in denen Sie dachten: Warum tue ich mir das an? Bin ich nicht am falschen Ort? Gibt es auch solche Momente?
BD: Daran erinnere ich mich eigentlich nicht. Ich war immer sehr gerne in der Einsamkeit. Die einzige Zeit, in der ich manchmal gefühlt habe, dass ich nicht dorthin gehöre, war nicht in einer Einsiedelei, sondern in großen Menschenmengen. Auch wenn das nur selten vorkommt, aber etwa bei Empfängen, wo viele Leute sind und oberflächliche Gespräche geführt werden, da fühle ich mich fehl am Platz. So etwas erlebe ich als Zeitverschwendung, das Alleinsein dagegen nie. Es war nicht immer leicht, aber ich habe immer gewusst: Hier gehöre ich hin.
JK: Mich interessiert die Psychodynamik in dem Moment, in dem ich keine Ablenkungen mehr um mich habe, wo mich niemand mehr grüßt, ich ganz auf mich alleine gestellt bin, um zu überleben. Was ist in dieser Situation die ursprüngliche Erfahrung?
BD: Vielleicht so etwas wie: Es wird immer stiller, so wie Wasser, wenn es still wird. Dann klärt es sich und man sieht immer tiefer hinunter.
Man kann freier atmen und es stellt sich so etwas wie ein kosmisches Mitgefühl ein. Man fühlt sich mit allem verbrüdert.
JK: Man ist also in Resonanz mit der Landschaft, den Tageszeiten, vielleicht mit ein paar Tieren, die es auch noch gibt in der Wüste.
BD: Ja, wenn man in der Einsiedelei sonst keine Gesellschaft hat als eine Fliege, dann bekommt man zu dieser Fliege eine ganz persönliche Beziehung. Man hörte auch von irischen Einsiedlern, die zu ihren Mäusen freundliche Beziehungen hatten.
JK: Und sie gefüttert haben?
BD: Ja.
JK: Wie sah denn ein Tagesablauf in der Einsiedelei bei Ihnen aus?
BD: Das war sehr unterschiedlich. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich Einsiedler keinen festen Tagesplan auferlegen. Das heißt jetzt nicht, dass man jeden Tag schläft, so lange man will. Es gibt schon gewisse mönchische Normen. Aber vor allem ist das Leben mit dem natürlichen Tagesablauf sehr wichtig. Man kann bewusst das Morgengrauen sehen und den Sonnenaufgang. Man spürt, wenn es Mittag ist, wenn es so ganz still wird. Man freut sich daran, wenn es kühl wird am späteren Nachmittag und wenn der Abend sich senkt. Es wird einem der natürliche Ablauf des Tages weit mehr bewusst. Diese Natürlichkeit steht im Widerspruch zu der Willkürlichkeit, die unsere Gesellschaft dem Tag aufzwingt. Der normale Tagesablauf in der Stadt ist sehr willkürlich, verglichen mit der Natur. Es ist egal, ob es dunkel wird, weil man dann eben das Licht andrehen und den Tag verlängern kann, so lange man will. An sehr kurzen Wintertagen habe auch ich Licht verwendet in der Einsiedelei, aber sonst habe ich eigentlich am liebsten im Rhythmus des normalen Tageslichts gelebt. Im Winter schläft man länger als im Sommer. Das war auch bei den Mönchen, die in Gemeinschaft leben, ursprünglich so, Benedikt schreibt zum Beispiel ausdrücklich, dass das Abendessen so angesetzt werden soll, dass alles fertig ist, bevor es dunkel wird. Dieses Sich-Einlassen auf den natürlichen Tagesablauf, das ist wichtig. Wie man dann den Tag ausfüllt, zu welchen Zeiten man liest oder schreibt oder Handarbeit verrichtet, das ist im Vergleich weniger wichtig.
JK: Haben Sie verschiedene Projekte in die Einsiedelei getrieben?
BD: Es hat schon Zeiten gegeben, in denen ich mich allein zurückgezogen habe, um an einem Buchprojekt zu arbeiten, aber das würde ich nicht als Einsiedlerleben bezeichnen.
Das einzige Projekt des Einsiedlers ist es, allein und frei zu sein;
dem stehen andere Projekte im Weg.
Allein zu sein mit dem All-Einen,
wie Plotin sagt,
dieses Alleinsein selbst ist das große Projekt.
JK: Und das unterscheidet sich von Einsam-Sein.
BD: Das Alleinsein hat eine positive und eine negative Form. Die negative Form des Alleinseins nennen wir einsam sein.
Einsam sind wir, wenn wir von anderen abgeschnitten sind. Das Abgeschnittensein ist das Negative. Wir können auch mitten in einem ganz gedrängt vollen Raum einsam sein. Es bedeutet nur: Wir sind nicht verbunden mit den anderen, wir fühlen uns innerlich abgetrennt. Für die positive Form des Alleinseins haben wir eigentlich keinen richtigen Namen.
JK: Autonomie vielleicht?
BD: Nein, das klingt viel zu eigenmächtig.
Die ganze Verwundbarkeit des Einsiedlers gehört zum Alleinsein dazu.
Das ist freilich nichts, woran man gewöhnlich denkt. Es kommt vielleicht nicht so darauf an, dass wir einen genau treffenden Ausdruck dafür finden. Der Einsame ist jedenfalls abgeschnitten von der Gemeinschaft mit anderen, der Einsiedler aber ist innig verbunden mit ihnen. Und je tiefer und umfassender diese innere Verbundenheit ist, umso authentischer ist das Einsiedlerleben ‒ und umso glücklicher.
Unser größtes Glück, unsere wahre Freude
ist die Verbundenheit mit anderen.
Unser größtes Leid ist es,
abgeschnitten zu sein von ihnen.
JK: Sie haben vorhin die Verwundbarkeit des Einsiedlers angesprochen. Worin ist der Einsiedler verwundbar?
BD: Bei der Konfrontation mit sich selbst. Die Ablenkung ist eine Art Rüstung, die wir uns anlegen, um diese Verwundbarkeit nicht fühlen zu müssen. Warum will sich jemand verwundbar machen? Weil es eben unsere authentische Lage ist. Wir sind verwundbar. Man muss das zugeben, bevor man mit anderen offen sein kann in einer echten Beziehung. Wer für Beziehung offen ist, ist auch offen für Verwundung.
JK: Aber der Einsiedler hat diese Beziehung zu anderen Menschen zumindest in diesem Moment nicht.
BD: Doch! Nicht nur zu Menschen, sondern zu allem, was es gibt. Es handelt sich bei dieser Verwundbarkeit nicht nur und nicht in erster Linie um Beleidigungen, denen man sich aussetzt, sondern etwa um die Kleinheit, die man erlebt, wenn man unter dem Sternenhimmel in der Wüste steht, diese Nichtigkeit, die man da erlebt: Ich bin ja nichts.
JK: Aber das kann mich auch nur zur Demut bringen und muss nicht zwangsläufig eine Wunde sein. Verwundung, finde ich, ist etwas Stärkeres und hat auch mit unseren Schattenseiten zu tun.
BD: Was ich gemeint habe mit Verwundbarkeit kommt der Demut sehr nahe: keinerlei Rüstung anlegen.
JK: Könnte man das als Sensibilität, als besondere Achtsamkeit bezeichnen?
BD: Ja. Sensibilität, Achtsamkeit, Mitgefühl, das heißt Mitfreude und Mitleid. Das Mit- ist das Entscheidende daran. Nicht abtrennen, sondern verbinden.
JK: Besonders herausfordernd muss Ihre Zeit auf kleinen Inseln gewesen sein. Eine solche ist Sand Island, ein Haufen Steine, darauf ein verlassener Leuchtturm. Sie haben sich dahin mit einem Mitbruder per Boot bringen lassen. Wie geht das, alleine zu zweit zu sein?
BD: In diesem Fall auf Sand Island war Platz genug, auf zwei verschiedenen Seiten des Balkons dieses Leuchtturms den ganzen Tag allein zu verbringen, ohne den anderen auch nur zu sehen. Die Eucharistie haben wir dann gemeinsam gefeiert. Gegessen haben wir wieder allein. Aber die Eucharistiefeier war unsere Zeit der Gemeinsamkeit.
JK: Es gibt zwar heute wenig klassische Einsiedler, aber die Lebensform scheint zur Zeit sehr attraktiv zu sein: sich in eine einsame Berghütte zurückzuziehen oder mit dem Zelt oder einer Plane in der Wildnis zu leben, allen Elementen ausgesetzt ‒ das suchen Einzelne heute immer wieder. Es gibt auch neue Angebote, die an alte spirituelle Traditionen anknüpfen, wie die Visionssuche, die Initiationsriten oder Medizinreisen. Was suchen und finden die Zeitgenossen Ihrer Meinung nach dabei?
BD: Ich glaube, sie suchen und finden, wenn es erfolgreich ist, genau dasselbe, was der sogenannte Einsiedler sucht und findet. Einsiedler, die ihr ganzes Leben lang als Einsiedler leben, gibt es heutzutage wenige und es waren vielleicht nie sehr viele. Aber Einsiedelei auf Zeit ist besonders in unserer Gesellschaft fast eine Notwendigkeit geworden für viele Menschen. Manche gehen alleine wandern, andere haben ein Hüttchen oder eine Unterkunft, wo sie bleiben, und es gibt auch Klöster, die Einsiedeleien zur Verfügung stellen für eine Zeit. Das bewusste Alleinsein ist wohl immer irgendwie religiös gefärbt, ob das in einer klösterlichen Umgebung stattfindet oder bei einer Wanderung im Gebirge. Alleinsein ist für uns Menschen immer eine Gelegenheit zur Begegnung mit dem Großen Geheimnis. Das Alleinsein ein Leben lang durchzuhalten, ist schon etwas recht Ungewöhnliches. Ich kann mir vorstellen, dass das wirklich so etwas wie ein Beruf ist. Für mich war es das jedenfalls nicht.
JK: Sie brauchen den Rhythmus, die Dynamik von Alleinsein, Gemeinschaft und wirken können?
BD: Ja. Viele Menschen ‒ nicht nur Mönche ‒ finden heute, dass sie der Gemeinschaft am besten dienen können, wenn sie sich zwischendurch immer wieder zurückziehen, sich sammeln und selbst finden. Dann haben sie wieder mehr zu geben.
JK: Man bekommt manchmal auch eine ganz klare Sicht auf die Verhältnisse, in denen man lebt. So wie Henry David Thoreau[9] der seine Systemkritik der damaligen amerikanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert als Einsiedler entwickelt hat. Das war gewaltig. Es wurde auch eine Art Gründungstext, einer der vielen Gründungstexte der Hippiebewegung in den 68er-Jahren.
BD: Ich habe selbst einmal eine Pilgerfahrt gemacht zum Walden Pond, wo Thoreau eine Zeitlang Einsiedler war. Die Hütte steht leider nicht mehr.
JK: Und wie war das?
BD: Berührend. Sein Geist ist immer noch dort.
JK: Er war ein unglaublich anarchistischer Denker, im positiven Sinn.
BD: Er war sogar kurz im Gefängnis. Mein erster Besuch am Walden Pond fiel zufällig ‒ wenn es Zufall gibt ‒ auf einen «Tag der Erde».
[Ich bin durch Dich so ich (2016): 6. Einsiedlerleben: 1976-1986, 116-122 und 6. Dialog, 123-127, 129-131]
[Ergänzend:
VOM ICH ZUM WIR ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021) und Transkription des Filminterviews, 1:
Egbert Amann-Ölz: «Als Mönch stellt man sich einen Einsiedler vor – üblicherweise –, oder jemanden, der sich zumindest öfters alleine zum Gebet zurückzieht und dann gleichzeitig auch in einer Gemeinschaft lebt.»
David Steindl-Rast: «Zu dem Ersten muss ich sagen, dass man zunächst einmal die Vorstellung von einem Einsiedler korrigieren muss: Ich hab das große Glück gehabt, viel Zeit in meinem Leben in Einsiedeleien verbringen zu dürfen und ich kann aus Erfahrung sprechen:
Der Einsiedler schneidet sich nicht von der Welt ab, im Gegenteil! Das ist sehr schön ausgedrückt in einer kleinen Geschichte, die ein Einsiedler geschrieben hat, und zwar ist es eine erfundene Geschichte: Wenn man Einsiedler ist, wollen ja die Leute einen immer sehen, und dieser Einsiedler war auch bedrängt von vielen Besuchern und musste sich immer tiefer und immer tiefer in die Höhle hinein zurückziehen. Und da haben ihn dann die Besucher gefragt: ‹Was findest du eigentlich, wenn du ganz tief in die Höhle hineinkommst›? Und die Antwort war: ‹Alle Tränen der Welt›.
Alle Tränen der Welt: Also, wenn man sich zurückzieht, so vereinigt man sich mehr mit dem Wir als auf irgendeine andere Weise. Man hat mehr Zeit und Bewusstsein dafür. Das ist einmal die Korrektur von dem Einsiedler.»
2. Löwe, Lamm und Kind (1992); siehe auch Sinne und Kind werden: Ergänzend: 2.3.
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben
3. Allein ‒ All-Eins, ein Auszug aus Der Mönch in uns (1978) im Buch Die Antwort der Erde (1978); siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981), und die Übersetzung von Bernardin Schellenberger im 3. Kapitel «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2023), 43-63]
___________________
[1] Theophane the Monk, aus: ‹Tales of a Magic Monastery›, New York 1981
[2] Rainer Maria Rilke: Fragment, siehe Sinne und Kind werden: Anm. 5
[3] Bear Island ist eine Insel im US-Bundesstaat Maine. Sie ist eine von fünf Inseln der Cranberry Isles.
[4] Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIII:
«Rufe mich zu jener deiner Stunden,
die dir unaufhörlich widersteht:
flehend nah wie das Gesicht von Hunden,
aber immer wieder weggedreht,
wenn du meinst, sie endlich zu erfassen
So Entzognes ist am meisten dein.
Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen,
wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.
Bang verlangen wir nach einem Halte,
wir zu Jungen manchmal für das Alte
und zu alt für das, was niemals war.
Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,
weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen
und das Süße reifender Gefahr.»
[5] Joh 3,8
[6] Sand Island Lighthouse ist ein 40 Meter hoher Leuchtturm, der den südlichsten Punkt des US-Bundesstaates Alabama bildet. Er liegt in der Nähe von Dauphin Island, an der Mündung der Mobile Bay, Alabama.
[7] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 117
[8] Sketis ist die Bezeichnung des sketischen Wüstentals (Wadi an-Natrun) in Ägypten. Der Name leitet sich vom Altägyptischen ‹Sechet-hemat› ab und bedeutet Salzfeld. Es beherbergt auch heute noch Einsiedeleien und später erbaute koptische Klöster.
[9] Henry David Thoreau (1817-1862). Der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph ist vor allem durch sein Buch ‹Walden oder das Leben in Wäldern› berühmt geworden.
Einssein
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn unser dankendes Empfangen sich der gegebenen Welt völlig öffnet, dann sind wir plötzlich eins. Wir antworten vom Herzen her, von jener Mitte, wo Einheit und Einigkeit walten.
In der Erinnerung an solche Höhepunkte der Herzenserfahrung können wir leicht erkennen, dass es dabei um das Einswerden geht. Das Erlebnis lässt uns im Tiefsten eins werden. Darüber hinaus wird uns die Erinnerung an diese Erfahrung erkennen helfen, dass das Wort «eins» in diesem Zusammenhang weitaus mehr bedeutet, als wir vielleicht annahmen. Im Herzen unseres Herzens sind wir in einem tiefen, vollen und umfassenden Sinne eins mit uns selbst, und das so umfassend und so tief, dass es gleichzeitig darauf hinausläuft, dass wir mit allen anderen Menschen im Herzen eins sind.
Im Innersten unseres Herzens finden wir uns in einem Bereich, in dem wir nicht nur auf das Innigste mit uns selbst, sondern ebenso mit anderen vereint sind, mit allen anderen. Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen. Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen: «Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»? Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»? Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins. Dann haben wir die Entfremdung überwunden. Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte. [ST 33f., Quelle: FN 1) 28f.; 2-5) 31; 6) 33]
Engel
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
«Man weiß nicht genau, wo Engel wohnen», stellte Voltaire zynisch fest. Da es keine genaue Adresse für sie gibt, zweifelte er überhaupt an ihrer Existenz. Unsere Zeit hat ein aufgeklärteres Verständnis von Engeln, das wir allerdings auf Umwegen nicht zuletzt wieder Voltaire und der Aufklärung verdanken. Dankbar befreit vom Wörtlichnehmen mythischer Bildersprache, fragen wir heute nicht mehr nach dem genauen Ausmaß der Flügelspanne von Engeln, oder danach, wie viele von ihnen auf einer Nadelspitze Platz hätten. Für uns ist ihr Name das Entscheidende, und der bedeutet «Bote».
Als Boten verstanden, sind Engel so wirklich wie eh und je, und es ist gar nicht nötig zu wissen, wo sie wohnen. Worauf es ankommt, ist, dass sie auftauchen wann und wo wir sie am wenigsten erwarten. Was auch immer zum tiefsten Herzen eines Menschen spricht, ist Engelsbotschaft. In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug' in Auge mit einem Tier, können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen. Das Einzige, was wir von Engeln mit Sicherheit aussagen können, ist, dass sie völlig unberechenbar sind ‒ wie alles wirklich Lebendige...
All diese Begegnungen mit Engeln finden nicht in weltfremder Abgeschlossenheit statt, sondern im ganz normalen Alltag. Das ist das Beste daran. Wir müssen keineswegs herauswaten aus dem Fluss unseres täglichen Lebens. Seine Stromschnellen und Wirbel können uns nicht niederreißen, solange wir mit festem Blick auf den Grund schauen. Das will geübt sein, aber es lässt sich erlernen. [ST 35f., Quelle: MS 5) 8 und 11]
Erlösende Kraft
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Noch bevor die Christen als solche bezeichnet wurden, waren sie als die «Weggemeinschaft» oder «die Leute, die auf dem Weg sind» bekannt.
Damit war der Weg der Erlösung gemeint.
Sie nannten ja auch Jesus nicht nur den «Erlöser», sondern auch den «Weg» ‒ den Weg in die Freiheit, könnten wir sagen. Das Ziel dabei ist die Freiheit.
Dieses Wort drückt besser aus, was mit Erlösung eigentlich gemeint ist, nämlich Befreiung.
Schon sich auf den Weg machen, wirkt bereits befreiend.
Stetig voranzuschreiten führt uns aber zu immer größerer Freiheit.
Verbundenheit befreit.
Und gläubiges Vertrauen verbindet uns mit dem Großen Geheimnis.
Hoffnungsvolle Bereitschaft, Schritt für Schritt authentischer zu werden, verbindet uns mit unserem wahren Selbst.
Und unser liebendes Ja zur Zugehörigkeit verbindet uns mit allen Lebewesen.
Diese drei Bande der Verbundenheit aber zerreißt die Sünde.
Erlösung aber erleben wir ‒ als Gabe und Aufgabe zugleich ‒ in drei Formen der Verbundenheit.
Der Glaube befreit unser Herz durch Vertrauen auf die absolute Vertrauenswürdigkeit Gottes.
Die Hoffnung erlöst uns durch die Offenheit für Überraschung auf jedem Schritt des Weges.
Und die Liebe heilt uns durch die Herzenswärme, mit der wir das Ja Gottes empfangen und tatkräftig weiterschenken.
Letztlich geht es um das «Wirklichwerden», dieses Wort fasst eigentlich das Wesen von Erlösung am besten zusammen.[1]
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: «Jeder Engel ist schrecklich.»
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel?
Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
«Denn das Schöne», sagt Rilke, «ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.»[2]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben.
Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: «Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.»[3]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben?
Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch «Der Plüschhase»:[4]
Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen. Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug:
«Tut Wirklichwerden weh?»
Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh?
Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort:
«Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.»[5]
Unsere Erlösung beginnt mit der Besinnung und Rückbindung auf das Große Geheimnis, das uns alle verbindet. Aus dieser Verbundenheit heraus erwächst die Kraft des Guten zur Heilung unserer Umwelt sowie auch unserer Mitwelt.
Im privaten Leben heißt das:
Ich muss Verschuldung durch Vergebung gleichsam «auffüllen»,
Unversöhnlichkeit durch Verzeihung
Missmut durch Freudigkeit.
Auch Diskriminierung ist letztlich auf einen Mangel zurückzuführen, den Mangel an Einfühlungsvermögen.
Hier braucht es Aufklärung und Herzensbildung, aber die können wir wohl nur einer neuen Generation durch entsprechende Schulbildung vermitteln.
Erlösung vom Bösen fordert jedenfalls unseren ganzen Einsatz nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern ganz besonders auf der gesellschaftlichen.
Wenn wir mit der gleichen Herzenswärme die uns am nächsten ebenso wie die uns am fernsten Stehenden umarmen, dann schenkt uns das eine ungeahnte innere Weite und Freiheit.
In diesem Sinne können wir alle Vermittler der heilenden Kraft des Großen Geheimnisses sein, einer Kraft, die durch den ganzen Kosmos fließt. Und in diesem Sinne sind wir alle Priesterinnen und Priester.
Je mehr ich diese heilende, erlösende Kraft durch mich selbst hindurchfließen lasse, umso mehr macht mich das auch selbst mehr und mehr heil.
Brigitte Kwizda-Gredler: «Wenn wir diese erlösende Kraft fließen lassen und weitergeben, werden wir also ganz durchlässig für das Große Geheimnis.»
Bruder David: «Dazu fällt mir ein berührendes Beispiel ein. Zur Zeit, als die Schifffahrt noch die einzige Reisemöglichkeit zwischen Amerika und Europa war, stand meine Mutter im Hafen von New York an Deck der «Bremen». Unten am Pier bemerkte sie den tränenreichen Abschied einer großen italienischen Familie, die eine schwerbehinderte junge Frau im Rollstuhl einer Gruppe von Mitreisenden anvertraute. Im Laufe der Überfahrt nahm sich meine Mutter der jungen Frau an, die ihre winzige und überhitzte Kabine am untersten Deck nur mit großer Mühe verlassen konnte. Dabei erfuhr sie, dass sich die Familie nur ein einziges Ticket leisten konnte, und darum musste die Tochter alleine nach Lourdes reisen. In Frankreich angekommen, schiffte sich die Pilgergruppe, der Teresa anvertraut war, mit ihr in Le Havre aus. Meine Mutter blieb noch bis Hamburg an Bord, konnte aber lange nicht vergessen, mit welcher felsenfesten Hoffnung die Kranke um Heilung am Gnadenort gebetet hatte. Nach vielen Monaten kam ein Brief von Teresa: Sie hatte Lourdes nie erreicht. Kein Wort darüber, unter welchen Umständen sie alleine in einem Pariser Hotelzimmer zurückgelassen wurde. Doch schon das armselige Briefpapier schien zu strahlen: Aus dem Brief sprach nichts als überströmende Dankbarkeit für all die Hilfe und Segnungen, die Teresa von unzähligen hilfsbereiten Menschen erfahren hatte. Nichts als Freude, nun wieder mit ihrer Familie in den USA vereint zu sein. Der Brief sprach überhaupt nicht von Vergebung oder Heilung, aber er gab Zeugnis von Erlösung durch Liebe. Und bei Erlösung kommt es letztlich nur auf die Liebe an.[6]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer dem alles zuströmt!
Je wacher ich werde, umso klarer erkenne ich meine persönliche Schuld.
Nicht im Sinne kindischer Schuldgefühle und Angst vor Strafe, sondern so:
Das Leben verschenkt sich an mich, ich aber knausere.
Ich bleibe dem Leben etwas schuldig: mein Ja zur Welt, wie sie ist ‒ herrlich und schrecklich zugleich.
Aus Furcht versage ich meine volle Hingabe.
Heute aber will ich beginnen, meine Schuld zurückzuzahlen ‒ an einer Stelle wenigstens will ich mich großzügig verschenken.
Zeig du mir die rechte Stelle. Ich werde tatbereit Ausschau halten. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5-7]
[Ergänzend:
2. Audios
2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) Verlässlichkeit und Lebensvertrauen in Extremsituationen
2.2. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen / (20:22) Das Glaubensleben ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung / (23:22) Um den Glauben beten heißt, um Lebensvertrauen zu beten: Erlebnisberichte / (27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
2.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(11:25) ‹Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, V) ‒ ‹Meine Seele ist ein Weib vor dir› (Rilke, Das Stunden-Buch) ‒ ‹Was lehrt, was nährt das Leben? Lebendigkeit, Was lehrt, was nährt das Lebendigsein? Das Leben: Dieser Kreis der Liebe: Liebe ist das Ja zum Leben, das Ja zur Zugehörigkeit, das Ja zur Gemeinsamkeit ‒ Die Bekehrung ist der Übergang von der Gewalttätigsein zum Mitspielen, zum Mit-dem-Strich-des Lebens gehen, zur Offenheit, zur Empfänglichkeit›
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
(17:20) ‹O erst dann, wenn der Flug› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXIII): Das ‹reine Wohin› ist, was wir hier Leben genannt haben oder Hl. Geist. Wenn wir mit dem ‹reinen Wohin› gehen, dann gehen wir mit dem Strich, mit dem Fluss, mit dem Strom des Lebens. Und die Bekehrung ist der Übergang von dem gegen den Strich gehen, vom ‹unreinen Wohin› zu dem ‹reinen Wohin›
3. Weitere Texte
3.1. Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 4 «Mit Körper, Denken und Geist lebendig sein», 68f.; siehe auch in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht, Ergänzend: 3.3.:
«Vergegenwärtigen Sie sich für einen Augenblick einen Moment größten Lebendigseins in Ihrem Leben, einen Augenblick echter, im Körper verwurzelter Achtsamkeit, einen Augenblick, in dem Sie an die Wirklichkeit gerührt haben. Danach bemisst sich der Grad, in dem wir lebendig und geistlich in dieser Welt sind, der Grad, in dem wir in Berührung mit der Wirklichkeit sind.
T. S. Eliot sagte: ‹Der Mensch kann nicht viel Wirklichkeit aushalten.›[8] Aber in verschiedenen Graden können wir die Wirklichkeit aushalten, und die Lebendigsten von uns haben es fertiggebracht, mehr Wirklichkeit auszuhalten als die anderen. Was wir aber möchten, ist, dass wir fähig werden, in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen, mit der ganzen Wirklichkeit, und nicht bestimmte Aspekte abblocken zu müssen.»
3.2. Musik der Stille (2023): ‹Vesper: Das Lichteranzünden›, 122f.:
«Der Höhepunkt der Vesper[9] ist das Singen des Magnifikat, jenes Liedes im Lukas-Evangelium, das Maria zur Begrüßung ihrer Base Elisabeth singt:
‹Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.›
Dieses Lied, das Gott für unsere Rettung und letztendliche Versöhnung preist, wird jeden Tag das ganze Jahr hindurch zur Vesper gesungen. Der Abendgottesdienst sieht in der mütterlichen Gestalt Mariens die Mütterlichkeit Gottes, der uns bedingungslos liebt wie eine Mutter. Das Magnifikat zur Vesper entspricht der Hymne des Zacharias, die sich im selben Kapitel bei Lukas findet und in den Laudes gesungen wird. Dort verkündet Zacharias:
‹Gepriesen sei der Herr ... Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen.›
Diese beiden großen Hymnen sind die Pfeiler des Morgens und des Abends, die den Tag stützen, und in beiden feiern wir unsere Erlösung.
Die Wurzel der Erlösung ist die Heilung des Grabens, der sich durch die Welt zieht, jener Spaltung, die wir als Entfremdung uns selbst und anderen gegenüber erleben und die uns von unserem Wesenskern fernhält; wir empfinden die Gesänge intuitiv als Gegenmittel.
Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln.
Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns.
Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.»]
_____________________
[1] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizia-Gredler mit Bruder David, 105f.
[2] R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Erste Elegie
[3] «Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.»
(T. S. Eliot, Four Quartets, Burnt Norton, I)
[4] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[5] Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 26f.; ebenso in Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4.
[6] Das Vaterunser (2022): ‹Das Böse als das noch nicht Gute›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 107-109
[7] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 23
[8] Bernardin Schellenberger übersetzt «reality» mit «Realität». Aber es geht um die numinose Wirklichkeit im Unterschied zu Realität im gängigen Sprachgebrauch des Wortes.
[9] Unter der ‹Vesper› (vom Lateinischen ‹vespera›: Abend) wird das kirchliche Abendlob verstanden. Die Vesper ist jenes Gebet, das nach Abschluss der Arbeit des Tages verrichtet wird.
Erlösung ‒ Sünde und Heil
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.
Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen:
«Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin»?
Oder: «Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Person, die ich liebe, und doch bin ich mir selbst entfremdet»?
Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins.
Dann haben wir die Entfremdung überwunden.
Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.
Der zeitgenössische Begriff für Heil ist Zugehörigkeit.
Der Weg von der Entfremdung zur Zugehörigkeit ist der Erlösungsweg von der Sünde zum Heil.
Zugehörigkeit ist andererseits genau das, wonach sich unser ganzes Wesen sehnt.
Ein älteres Wort nannte dies «Erlösung».
«Erlösung» stand einmal für jene Verwirklichung allumfassender Ganzheit, die das Wort Zugehörigkeit für uns hier bedeutet.
Im Innersten unseres Herzens wissen wir, dass Ganzheit grundsätzlicher, ursprünglicher ist als Entfremdung, und so verlieren wir niemals ganz ein eingeborenes Vertrauen darauf, dass wir am Ende ganz und beieinander ‒ eins sein werden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke besingt sowohl unsere Sehnsucht nach Heilung und Ganzheit als auch unsere tiefe Überzeugung, dass die heilende Kraft Gottes unserem innersten Herzen entspringt.
Er findet Gott
«die Stelle welche heilt»,[1]
während wir, wie an ihrer Narbe herumfingernde Kinder, sie mit den scharfen Kanten unserer Gedanken immer wieder neu aufreißen.
Entfremdung und Zugehörigkeit sind die zwei Pole unserer allergrundsätzlichsten Wahl, Synonyme für Sünde und Erlösung.
Das Wort «Sünde» wird heute so leicht missverstanden, dass es schon fast unbrauchbar wird.
Die Wirklichkeit jedoch, die einst Sünde genannt wurde, gibt es noch immer, und so musste unsere Zeit ihren eigenen Terminus dafür finden.
Was in anderen Zeiten Sünde genannt wurde, nennen wir Entfremdung. Die Lebendige Sprache hat ein passendes Wort gefunden.
Entfremdung suggeriert eine Entwurzelung vom eigenen wahren Selbst, von anderen, von Gott (oder was sonst von fundamentaler Bedeutung ist), und all das mit einem einzigen Wort.
Auch das Wort «Sünde» suggeriert Entwurzelung und Absonderung.
Es hat den gleichen Wortstamm wie das mittelhochdeutsche «sunder» und das gotische «sundro», die beide «abseits, gesondert, für sich» bedeuten; ein Wortstamm, der heute noch im Wort «Sund», die Meerenge, gefunden wird, die einmal als «das, was Land und Inseln trennt» aufgefasst wurde.
Eine Handlung ist in dem Maße sündig, in dem sie Absonderung, Entfremdung verursacht.
Was aber nicht Entfremdung verursacht, ist keine Sünde.
Daraus die Konsequenzen zu ziehen, könnte sich für viele als befreiend, für andere als beschuldigend erweisen.
Es könnte eine signifikante Gewichtsverlagerung in der Ethik von privater Perfektion zu sozialer Verantwortung bedeuten.
Es könnte uns sehen helfen, dass heute «an unserer Erlösung arbeiten» bedeutet, Entfremdung in all ihren Formen zu überwinden.[2]
«Vergib uns unsere Schuld, bete ich und bemerke, dass ich oft ‹Schuld› sage, aber eigentlich ‹Sünde› meine ‒ also einen Verstoß gegen dein Gebot, gegen deinen ‹Willen›.
Dass ich tief im Herzen weiß, was du eigentlich ‹willst›, das beweist mir mein Schamgefühl beim Anblick der Ungerechtigkeit dieser Welt, wo Kinder hungern und Millionen ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird. Doch du willst ‹Leben in Fülle›.
Meine Scham lässt mich fühlen, dass mein Versagen die zarte Vernetzung zerreißt, durch die alles mit allem verbunden ist ‒ verbunden auch mit dir.
Das Wort ‹Sünde› kommt ursprünglich von ‹absondern›.
Sünde meint einen Riss im Gewebe des Ganzen. Sie trennt, was zusammengehört, und das ist buchstäblich herzzerreißend.
Denn das Herz ist ‒ wie Rilke das so wunderbar ausdrückt ‒
‹das ins Ganze Geborne›.[3]
Wenn wir aus unserm Herzen leben, dann gehören wir dem Ganzen, dann werden wir ganz, dann werden wir auch das, was uns am Ganzen so schwierig erscheint, in uns aufnehmen, dann werden wir mit dem Ganzen auskommen.
Das Herz ist jener Bereich, wo wir am tiefsten und innigsten mit allem und allen und mit dem Göttlichen verbunden sind.
Darum findet sich das Herz nicht ab mit der Trennung und es mahnt uns, die Trennung zu überwinden.
Aber auch dort, wo unser Herz uns anklagt, dürfen wir dir vertrauen, denn du bist ‹größer als unser Herz und kennst uns durch und durch› (1 Joh 3,20).
Auf dein grenzenloses Verzeihen lass mich vertrauen und es freigebig weiterschenken. Amen.»[4]
Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit.
Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt.
Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben.
Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem.
Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht.
Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat.
Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschließen.
Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.
Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.
So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt.
Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit.
Gesunder Menschenverstand ‒ gerade, weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben ‒, zieht keine Grenzen.
Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt.
Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.
Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten:
Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen.
Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.
Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden.
Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind.
Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte.
Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt.
Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[5]
Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[6] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz «Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort» (Markus 4,33) verwendet Markus für «Wort» diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Wäre der Begriff «Heiliger Geist» nicht die altehrwürdige Bezeichnung einer für uns ganz wesentlichen Erfahrungswirklichkeit, wir würden ihr heute sicher einen anderen, für uns aussagekräftigeren Namen geben.[7]
«Geist» intendiert schnell die Bedeutung Gespenst und das Wort «heilig» hat heute zu viele Anklänge an «scheinheilig»; es lässt kaum noch an «Heil-» und «Ganzsein» denken, es weckt auch nicht mehr das Empfinden des Überwältigenden und Atemberaubenden einer numinosen Wirklichkeit.
Wollten wir heute einen neuen Begriff für jene unendlich schöpferische Lebenskraft und Harmonie finden, die alles mit allem verknüpft und die Quelle des Lebens schlechthin ist, so würde sich die Bezeichnung Common Sense dafür sehr gut eignen.
Auf jeden Fall wäre es eine inspirierende Übung, überall dort, wo man den Begriff «Heiliger Geist» liest oder hört, stattdessen einmal Common Sense einzusetzen. Dann wäre die Tragweite des Gemeinten wieder deutlicher spürbar.
Jesus hielt sich an seine jüdische Überlieferung und sprach von seiner Vision einer neuen, harmonischen Weltordnung als dem «Reich Gottes».
«Reiche» kommen heutzutage fast nur noch in Märchen vor.
Die Vorstellung von Gott als einem im Himmel thronenden «König aller Königreiche» spricht uns nicht mehr an.
Für unser Weltverständnis ist die Autoritätspyramide mit einem König oder Gott an der Spitze ein nicht mehr nachvollziehbares Modell; dem neu aufdämmernden Weltverständnis entspricht eher der Begriff, den der amerikanische Dichter Cary Snyder prägte: Earth Household ‒ «Erd-Haushalt».[8]
In diesem Erd- oder Welt-Haushalt ist Autorität nicht etwas, was von außen und oben einwirkt, sondern sich von innen her meldet:
Der Common Sense gewährleistet, dass alle mit allen harmonisch zusammenarbeiten. Das «Reich Gottes», in das Jesus uns ruft, ist der «Gottes-Haushalt».
Tatsächlich spricht er ja von Gott nicht als unserem König, sondern von Gott als unserem Vater; und der mütterliche Geist (im Hebräischen ist «Geist» weiblichen Geschlechts) ist der alles durchwaltende, kosmische Familiensinn, der Common Sense.
lm Gottes-Haushalt muss die Liebe zur Macht der Macht der Liebe weichen.
«Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Ehrgeiz, ein Krokodil zu werden», sagt ein äthiopisches Sprichwort.
Ob das für Eidechsen stimmt, weiß ich nicht sicher, aber auf uns Menschen trifft das Streben nach mehr jedenfalls zu.
Je mehr Macht einer hat, desto höher steht er in der Autoritätspyramide der ehrgeizigen Welt.
Aber im Himmelreich, im Gottes-Haushalt, gelten die Autoritätsstrukturen eines Haushalts.
Hier bekommt Autorität, wer dient:
«Der Größte unter euch soll der Geringste sein und der Höchste der Diener aller» (Lukas 22,26).
Wer im Gottes-Haushalt Autorität besitzt, muss seine Macht dazu nutzen, alle ihm Untergebenen zu fördern, damit sie eigenständig werden.[9]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 4f., 9]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Spiritualiltät und Ökologie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog:
(00:00) Wie Spiritualität mit Ökologie zusammengehören / (03:58) Logos und Sophia im Prolog des Johannesevangeliums ‒ Weisheit, Weisung, Herzensweisheit und ein Name für Gott / (07:25) Inkarnation der Weisheit in der Schöpfung, im Leben und im Alltag: Wenn die Weisheit alles geschaffen hat, dann begegnen wir in allem, was es gibt, der Wirklichkeit Gottes / (39:18) ‹Ihr Schlachtvieh hat sie geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch hat sie gedeckt› (Spr 9,2)
1.2. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(37:38) Was ist unsere Aufgabe in einer Welt, in der sich die Machtpyramide durchsetzt? Da gibt es nur Widerstand in einer Welt, in dem die Mächtigen ein Klima der Angst schaffen: ‹Fürchtet euch nicht›: Jesus lebt diese völlige Furchtlosigkeit, weil er in Gott eingebettet ist. Und wir sind furchtlos in dem Maß, in dem wir in Gott eingebettet sind. Sünde meint Absonderung, was uns trennt von Gott, von unserer eigenen Tiefe und den Andern, und äußert sich am meisten in Furcht
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Fragerunde nach dem Vortrag:
Hl. Augustinus und die Erbsünde
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 3: «Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht» (Angelus Silesius):
(11:51) In der Schule der Wüstenväter und Wüstenmütter: Drei Hauptsünden: 1. Ungeduld, Zorn ‒ 2. Lust im Sinn von ‹sich anklammern› ‒ 3. Faulheit, Acedia, Traurigkeit
1.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags:
(12:17) ‹Das Herz, das ins Ganze geborne› (Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II) – ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus)
Diskussion:
(00:00) Das Herz ausschütten – heil, heilen, heilig ist nicht dasselbe wie Gesundheit, sondern ein Ganzmachen
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(00:28) ‹Immer wieder von uns aufgerissen, ist der Gott die Stelle, welche heilt› (Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil, XVI)
1.5. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
Wir sind erlöst! – der andere Blick auf Gewohntes
1.6. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
4.1 Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche (siehe auch Text Gespräch mit Lama Sogyal Rinpoche):
(50:31) Ursprüngliches Heilsein und Erbsünde
4.2 Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Heilsein, Dukkha, Sündenfall, der Klammergriff der Angst
1.7. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(14:56) Die Entscheidung für das Leben oder für Tod im Mythos vom Sündenfall. Der Baum des Lebens im Paradies und das Kreuz an dem sich die Geister scheiden: ‹Wenn wir uns fürs Leben entscheiden, werden wir von der Welt, die tot ist, aber sehr mächtig, getötet werden früher oder später›
(18:35) ‹Da ging ein Riss durch deine reifen Kreise› (Rilke, Ich lese es heraus aus deinem Wort, Das Stunden-Buch)
(20:12) Der neue Adam hat das Gottgleichsein nicht wie der alte an sich gerissen: Bruder David liest und deutet Phil 2,6-11
2. Das Vaterunser (2022): ‹Schuld als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 80f.:
Brigitte Kwizda-Gredler: «In unseren Gesprächen haben wir immer wieder das Bild des Tanzens zur großen kosmischen Musik verwendet. Da wird dann die Verfehlung zum Nicht-auf-die-Musik-Hören und deshalb zum Schritt, der nicht dem Takt folgt.»
Bruder David: «Diese drei Bilder von Sünde als Zerreißen, Schuldigbleiben und Aus-dem-Schritt-Fallen weisen auch recht deutlich darauf hin, wie wir die Verfehlung gutmachen können: durch das sorgfältige Wiederverweben von Beziehungen; durch Wiederherstellung eines ausgewogenen Austausches; durch achtsames Hinhorchen auf die Musik des Lebens.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Und wo passt da die christliche Lehre von der ‹Erbsünde› herein?
Bruder David: «Das Wort ‹Erbsünde› ist entschieden obsolet, schon deshalb, weil es einfach irreführend ist. Die schmerzliche Erfahrung aber, die zur Vorstellung der Erbsünde geführt hat, ist keineswegs auf das Christentum beschränkt. Buddhisten verwenden dafür das Wort ‹dukkha›, hinter dem ursprünglich das Bild von einem Rad steht, das nicht richtig auf der Achse sitzt.
Für Buddhisten bedeutet es, dass das menschliche Dasein seit undenklichen Zeiten gründlich aus der Bahn geworfen ist. Und in diese Situation werden wir hineingeboren. Wir ererben sie, sozusagen. Heute würden wir eher sagen: Wir nehmen am systemischen Übel der Welt teil, ob wir es verschulden oder nicht! Als Einzelne sind wir dem System nicht gewachsen. Darum ist die Antwort der christlichen Tradition: Du musst aussteigen aus dem tödlichen System und einsteigen in das lebensspendende Reich Gottes.»]
_____________________
[1] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XVI; siehe den Text in Stille leben: Anmerkung 1
[2] Der Text ist eine Komposition von Passagen in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 33f. mit 184f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 31f. und 185f.]
[3] Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.
[4] Das Vaterunser (2022): ‹Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern›, 75f.
[5] Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 4
[6] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72f.; siehe auch Hausverstand, Ergänzend: 2.:
«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.»
[8] ERDHAUSHALT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 134f.:
«Erdhaushalt ist ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Dieses Wort veranschaulicht, dass unsre Umwelt zugleich Mitwelt ist, der wir uns verwandt fühlen dürfen und von der wir ernährt werden. Statt Umwelt Erdhaushalt zu denken und zu sagen, verändert ganz von selbst unsre Haltung, was zugleich zeigt, welche Wirkkraft Worte besitzen.»
[9] Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 55, 59-61
Es gibt mich
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die kleine Tochter eines Freundes sagte eines Morgens zu ihrem Vater:
«Papi, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?»
Kinder wissen intuitiv, wie erstaunlich und erfreulich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Und das Kind in uns stirbt nie. Wir können es einsperren, wir können es vergessen oder stark vernachlässigen, aber solange wir leben, bleibt es am Leben.
Es ist eine unserer großen Aufgaben, dieses Kind wieder zu befreien und es zu ermutigen, solche tiefsinnigen Fragen zu stellen. Dann schauen wir alles durch staunende Augen an und nehmen alles mit einem offenen Herzen auf.
Dieses Erwecken des Kindes in uns ist nicht einfältige Sentimentalität; es macht den Kern der mönchischen Bemühungen und jeder Spiritualität aus. Das eigentliche Ziel ist das, was der Philosoph Paul Ricœur die «zweite Naivität» nennt: die Verbindung der hellen Begeisterung kindlicher Unschuld mit jener Weisheit, die sich aufgrund von Erfahrung einstellt.[1]
Vielleicht erinnerst du dich an einen Augenblick, in dem du das Gefühl hattest, wirklich du selber zu sein, gerade deshalb, weil du irgendwie über dich hinausgehoben wurdest ‒ von Musik, vom hochgewölbten Himmel einer sternklaren Nacht, vom Anblick eines schlafenden Kindes, das an seinem Daumen saugt. Plötzlich verblassen, verschwimmen, verschwinden die scharfen Grenzen zwischen dir und der Welt rundum, ja zwischen dir und dem Urgrund, aus dem alles aufsteigt und in den alles zurückfließt. In solchen Augenblicken verkosten wir flüchtig, was Mystiker die Erfahrung des All-eins-seins nannten. Es scheint fast unmöglich, solches auch nur einmal zu erleben, ohne fürs Leben dadurch bestimmt zu sein, unser innigstes Verlangen weist ja in dieser Richtung. Doch Gipfelerlebnisse gehen vorüber und verblassen in der Erinnerung, das lässt sich nicht aufhalten.
Wir haben dann aber die Wahl: Wir können das Erfahrene vergessen, oder wir können danach handeln, und das heißt, gläubig leben.[2]
Mitwelt nennen wir gewöhnlich jenen Teil unserer Umwelt, mit dem wir uns besonders eng verbunden fühlen ‒ unsre Mitmenschen, unsre Zeitgenossen, unser gesellschaftliches Umfeld, unsern Lebenskreis im engeren Sinn. Diese Einengung übersieht die Tatsache, dass wir mit unsrer ganzen Umwelt[3] ‒ mit dem gesamten Universum ‒ so eng verbunden sind, wie mit dem, was wir als unsere Mitwelt erkennen.
Jedes Atom in unserem Körper ist,
wie es auch oft ausgedrückt wird,
kosmischer Sternenstaub.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dann werden wir unsre Umwelt ganz anders würdigen und ihr mit der Ehrfurcht begegnen, die unsere Mitwelt verdient.[4]
Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort «Ich» drückt Beziehung aus. Es wäre sinnlos, «Ich» zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre.
In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du ‒ nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend.
Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich ‒ nicht zusätzlich! ‒ auf das große Du gerichtet ist.[5]
Wir können dieses Ur-Du nicht in Raum und Zeit verorten. Es stellt eine tiefere Dimension unseres Alltags dar, wie wir durch Übung immer deutlicher erfahren können.
Die Beziehung zum Ur-Du verankert mein Leben im Geheimnis als Tiefe ‒ als dem Quellgrund unbegrenzter Möglichkeit, aus dem alles hervorquellt, was
«Es gibt.»
Sonderbar, dass es kaum jemandem einfällt, nach dem ES zu fragen, das dies und das und alles gibt. Dieses ES schenkt mir auch mein eigenes Dasein, denn
«Es gibt mich.»
Es schenkt mich zugleich auch allen andren. Dass wir hier aber von «geben» sprechen, deutet an, dass alles Gegebene Geschenk ist.
Dem Ur-ES verdanken wir, dass es uns gibt, und dem Ur-Du, dass wir uns persönlich als Ich verstehen können. Sowohl das Ur-Du wie das Ur-ES sind Wirklichkeiten ‒ oder verschiedene Aspekte ein und derselben Wirklichkeit ‒ die wir verstehen, nicht aber begreifen können ‒ also Aspekte des einen großen Geheimnisses.[6]
[Audio Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010) im Kardinal Wendel Haus, München]:
(30:00) «Wenn wir sagen: ‹ES gibt m i c h› ‒ und das kann niemand leugnen ‒, dann haben wir schon einen Schöpfungsbericht dichterisch dargestellt, denn auch das ist ja Dichtung:
‹ES gibt m i c h›,
sehr dichterisch ausgedrückt.
Aber wenn wir einen Schöpfungsbericht lesen, ist er dann auch sehr dichterisch ausgedrückt. Das ES wird jetzt plötzlich zu dem Uralten, zu dem Vater oder Großvater, manchmal Großmutter, die zum Ursprung von allem, was es gibt, weisen, zu dem, was nicht hinterfragt werden kann.
Das ES kann nicht hinterfragt werden. So bemühen sich die Mythendichter dann, das Göttliche als das nicht mehr zu hinterfragende Uralte, immer gegebene darzustellen.
Und sie bemühen sich, das Material, aus dem dann alles gemacht wird ‒ mich ‒, so fragil, so klein, so unbedeutend wie nur möglich zu machen.
Das sieht man, wenn man verschiedene Schöpfungsmythen miteinander vergleicht:
Im jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos ist es Staub der Erde, oder Schlamm, aus dem alles gemacht wird, das ist nicht selten in Schöpfungsmythen. Oder ein Indianerstamm sagt: Nur kleine Stöckchen und Steinchen hat der Weltenschöpfer verwendet, um die ganze Welt zu bauen.
Und noch eine schöne Art, die man öfters in ozeanischen Schöpfungsmythen findet, ist ein Traum: Der Schöpfer hat einen Traum, und dann muss er diesen Traum fangen, er entgeht ihm leicht, er muss ihn fangen und fest zusammendrücken und auf ihn treten, bis er fest zusammengepresst wird, diese Traummasse, und dann sagt er:
‹Jetzt habe ich etwas, worauf ich stehen kann, jetzt werde ich eine Welt schaffen›:
Das ist der Anfang, das ist wunderschön dichterisch ausgedrückt,
einerseits ‹der› oder ‹die›: der nicht zu hinterfragende Urgrund, personifiziert,
das Material, aus dem alles gemacht wird mit einer Bemühung,
es so nah an Nichts heranzubringen, wie nur möglich,
und ‒ was immer dazukommt ‒, die engstmögliche Verbindung.
Und indem man verschiedene Schöpfungsmythen vergleicht, sieht man, wie sie sich immer bemühen, das immer deutlicher zum Ausdruck zu bringen:
Aber alle diese Bilder sind schon enthalten in:
‹ES
g i b t
m i c h.›
(32:58) Einer meiner liebsten, und ich kann nicht umhin, ihnen den zu erzählen, ist ein Schöpfungsmythos der Apachen Indianer.
Es fängt damit an, dass der Weltschöpfer mit seinem Hund herumgeht. Denn ein Apache kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand ohne Hund herumgeht; also geht schon von Anfang an, bevor irgend sonst etwas ist, der Weltschöpfer mit dem Hund herum. Und der Hund beginnt das Ganze und fragt:
‹Großvater, wirst Du immer bei mir sein›?
Und der Schöpfer sagt:
‹Vielleicht wird eine Zeit kommen,
wo ich nicht mehr bei dir sein werde.›
Und darauf sagt der Hund:
‹Oh, dann schaff mir doch bitte einen Herrn›!
Und wir sind also alle hier, weil Hunde Herren brauchen.
Der Weltenschöpfer ist nicht hinterfragt, er ist einfach da, mit seinem Hund. Er legt sich dann auf die Erde, und jetzt bemüht sich dieser Erzähler, so nahe an das Nichts heranzukommen wir möglich: Der Weltschöpfer legt sich auf die Erde und sagt zu dem Hund:
‹Und jetzt zeichne meinen Umriss auf die Erde.›
Und der Hund mit seinen Krallen zeichnet den Umriss und dann sagt der Schöpfer:
‹Und jetzt geh weiter und schau dich nicht um›.
Und der Hund geht weiter, schaut sich natürlich doch sehr neugierig sofort um und sagt:
‹Oh Großvater, da liegt ja jemand, wo Du gelegen bist.›
Der Schöpfer:
‹Geh weiter, schau nicht, ich sag’s dir doch.›
Der Hund geht weiter, schaut sich wieder um:
‹Da sitzt ja jemand, wo Du gelegen bist.›
Der Schöpfer:
‹Geh doch weiter.›
Der Hund geht wieder weiter, dann sagt der Schöpfer:
‹Jetzt kannst du schauen›!
Der Hund:
‹Ha, Großvater, da steht ja jemand, wo Du gelegen bist.›
Und dort steht der Mensch jetzt, und der Hund läuft und ist ganz begeistert, und der Schöpfer schaut ihn auch an und sagt:
‹Nicht schlecht, nicht schlecht›,
aber der Mensch steht nur einfach dort und tut nichts. Und dann nimmt ihn der Schöpfer so wie eine Mutter das Kind, wenn es gehen lernt, und gibt ihm so einen kleinen Schups:
‹Und jetzt geh›!
Und der Mensch macht einige Schritte, und der Schöpfer gibt ihm wieder einen Schups, und der Mensch läuft weite Kreise, und dann kommt er zurück und der Weltschöpfer sagt:
‹Und jetzt sprich! Sag etwas! Mach Worte›!
Vier Mal muss er ihn aneinfern und dann plötzlich sagt der Mensch:
‹Was jetzt›?
Worauf auch der Schöpfer lacht wie wir, und der Hund bellt und ist ganz begeistert, und der Schöpfer sagt:
‹Jetzt kannst du lachen, jetzt bist du fähig zu leben›!
Und darauf geht der Mensch mit dem Hund fort. Und jetzt erfüllt sich, was der Hund am Anfang schon befürchtet hat, aber nicht, weil der Weltschöpfer weggeht, sondern weil der Mensch mit dem Hund weggeht.
Also es ist eine wunderschöne Geschichte, und alles das ist schon enthalten in:
‹ES gibt m i c h.›»[7]
[Quellenangaben zum obigen Text in 1f., 4-7]
[Ergänzend:
1. Bruder David im gleichen Vortrag in München (09:08-09:51): «Worauf können wir uns verlassen? Und da würde ich Ihnen den ganz einfachen Satz vorschlagen:
‹Es gibt mich›.
Ich glaube, darüber kann man nicht streiten, jeder von uns kann sagen: ‹Es gibt mich›.
In diesem kleinen Sätzchen
‹Es gibt mich›
ist schon a l l e s enthalten:
der Glaube ‒ oder: die Entscheidung,
die hinter dem Glauben steht ‒,
und, wir werden sehen,
die Trinität und unser Verhältnis zu Gott:
alles ist in diesem kleinen Satz enthalten:
‹Es gibt mich›.»[8]
1.1. In allen drei Audio-Vorträgen Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) fragt Bruder David im ersten Teil seines Vortrages: «Wer ist dieses ES, das alles, ‹mich› gibt?» und führt uns mit dieser Frage in die Tiefendimension dieser drei Worte ES ‒ ‹mich› und ‹gibt›:
Das Wort ES weist auf das Geheimnis als unergründlichen Urgrund, ‹m i c h› erschließt meine Teilhabe am Geheimnis als unbegreifliche Vielfalt, und das Wort ‹g i b t› bringt das Dynamische: die unerschöpfliche Lebendigkeit des Geheimnisses ins Bewusstsein.
Die allgemeinmenschliche Gläubigkeit oder Religiosität antwortet auf diese drei Aspekte des Geheimnisses dreifach mit: sich verlassen auf diesen unergründlichen Urgrund, ehrfurchtsvolle Begegnung mit dem großen Du, und dankbare Haltung dem Leben gegenüber.
1.2. In allen drei Vorträgen geht es Bruder David im letzten Punkt um ein neues Durchdenken unserer eigenen Religion. Darin zeigt er auf, wie der Buddhismus, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum, Islam) und der Hinduismus Ausformungen des allgemeinmenschlichen Urglaubens sind. Die Verschiedenheit liegt in der unterschiedlichen Betonung von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun. Es handelt sich um drei Innenwelten, die uns Bruder David anhand der drei Worte ES, ‹mich› und ‹gibt› berührend nahebringt:[9]
«Unser Glaube sieht all dies im Lichte der Dreifaltigkeit. Für uns Christen sind die Wege des Menschen auf der Suche nach dem tiefsten Sinn nur im Lichte des trinitarischen Geheimnisses verständlich.»[10]
«Und da sehen wir also jetzt, dass einerseits dieses ‹ES gibt mich› den Urgrund: dieses ES, die kosmische Fülle: m i c h, und die unerschöpfliche Lebendigkeit des Gebens zusammenfasst, dass Vater, Sohn und Hl. Geist irgendwie ansatzhaft schon darin stecken, und wir sehen zugleich, dass die großen Traditionen diese dreifaltige Wirklichkeit je in anderer Weise betonen: die Buddhisten, könnte man sagen, die Theologie des Vaters entwickeln, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum und Islam) die Theologie des Wortes, und der Hinduismus die Theologie des Hl. Geistes, des Verstehens.»[11]
«So könnte man fast sagen, dass die einander brauchen: Für das volle Verständnis ‹Es gibt mich› brauchen wir schon die ganze Tradition der Menschheit, alle verschiedenen Formen, Ausformungen dieses einen tiefen menschlichen Glaubens.»[12]
1.3. Im Vortrag in München (21. Oktober 2010) (30:00-35:31) macht Bruder David den Satz ‹Es gibt mich› durchsichtig auf die drei ‹Bestandteile› von Schöpfungsmythen:
ES:
der Schöpfer, die Schöpferin;
m i c h:
das Material: etwa Ackerboden ‒ Möglichkeit des Wachsens ‒, Lehm: ‹reine Möglichkeit› der Formgebung), und das
g i b t:
«Die innige Verbindung zwischen dem, der ist, und uns, die wir reine Möglichkeit sind; die eigentlich nicht sind, aber auf dem Weg sind, göttlich zu werden, auf dem Weg sind, wirklich zu sein. Die dadurch auf dem Weg sind, dass sich das Göttliche in uns entfaltet. Das ist die tiefste Erfahrung unseres Herzens. Und das Herz drückt diese Erfahrung dichterisch aus.»[13]
«Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»[14]
1.4. Im Buch Orientierung finden (2021): ‹Das ich ‒ mein Dasein als Geschenk›, 18, vergleicht Bruder David den Satz: ‹Es gibt mich› mit dem Satz ‹Ich bin da› und schreibt:
«Die Ausdrucksweise ‹Es gibt mich› für die Einsicht, dass ich existiere, wird in der 3. Person Einzahl formuliert. Dieser grammatische Unterschied ist tiefgreifend:
Die Betonung dieser neuen Formulierung liegt nicht mehr auf meinem Ich, sondern auf dem Es, das mich mir selber und der Welt gibt ‒ schenkt.
Mit dem Satz ‹Es gibt mich› stelle ich diesen Sachverhalt fest, als ob ich ein außenstehender Betrachter wäre. Das vermindert die Gefahr, mich zum Mittelpunkt zu machen und in mir selber steckenzubleiben. Außer mir gibt es noch unzählig viel andres. Und am Gegebensein erkenne ich mein Dasein als Geschenk, als Geschenk des Universums. Ich sehe mich eingebettet in ein Geben und Nehmen, und meine Umwelt wird dadurch zur Mitwelt ‒ zu einem Netzwerk von Beziehungen, das alles mit allem verbindet. Diese Art, mich selbst zu verstehen, ermöglicht die gesunde Entwicklung des Ich-Selbst.»
2. Vom nichtigen zum widerstrebenden Material: Analogie von Schöpfung und Erlösung
Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus Bruder Davids Eröffnungsvortrag der Salzburger Hochschulwochen 1972 Jesus als Wort Gottes, abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 59:
«Aber Gottes Plan erreicht doch sein Ziel; das ist die Frohe Botschaft. Man könnte sagen: Gott erreicht sein Ziel trotz des menschlichen Widerstandes; aber es wäre vielleicht besser und mehr im Sinne der ganzen Heilsgeschichte, zu sagen, dass Gott sein Ziel erreicht unter Verwendung des Widerstandes.
Theodor Haecker (1879-1945) beschreibt es einmal sehr schön, dass der menschliche Künstler mit immer widerstrebenderem Material arbeite: mit Ton, mit Holz, mit Stein, mit Erz ‒ Gott aber mit dem allersprödesten Material, dem freien Willen des Menschen. Und so, wie das große Kunstwerk auch das Material mitsprechen lässt, so zeigt sich in der Heilsgeschichte, dass Gott, ‹auch die Sünden›, wie Augustinus sagt, miteinbezieht. Gott erreicht sein Ziel ‒ und das ist nun die Frohe Botschaft der Bibel ‒ in Jesus.
Die Erlösung wird ja, wenn wir die Bibel richtig lesen, keineswegs als eine Art Flickwerk dargestellt, sondern als Vollendung der Schöpfung.
In Jesus wird der Mensch endlich völlig erschaffen.
Es ist eine recht unzulängliche Auslegung, dass Gott zuerst einen Versuch macht, der misslingt; dann flickt er halt alles wieder zusammen und macht noch einmal einen Versuch, und der zweite Versuch gelingt im zweiten Adam.
Wenn wir es richtig sehen, so beginnt die Schöpfung des Menschen mit dem ersten Adam und ist vollendet im zweiten Adam, in Jesus, in d e m Menschen schlechthin.
Es ist alles aus einem Stück.
Jesus ist Wort und Offenbarung Gottes als der erste richtige Mensch, könnten wir sagen. Er ist der erste erfolgreiche Mensch; erfolgreich von beiden Seiten her, von der Seite Gottes und von der Seite des Menschen. Gott erschafft ja den Menschen nicht von außen, sondern nur unter Mitwirkung des Menschen selbst. Das ist die Freiheit des Menschen. Jesus ist also die Höchstleistung Gottes in der Schöpfung und zugleich die Höchstleistung des Menschen. Die beiden sind untrennbar miteinander verbunden.»
3. Text, Video und Audios mit Schöpfungsmythen
3.1. Sonnenedelstein
3.2. Video Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010) und
Audio des Vortrags Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden
Vortrag
(31:58) Wer bin ich? – der Schöpfungsmythos antwortet mit drei Bestandteilen, die allen Schöpfungsberichten gemeinsam sind / (37:38) Ein Schöpfungsmythos der Apachen / (40:59) Ein Schulkind: ‹Ich bin ein Sonnenedelstein›
3.3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Im Paradoxen Sinn erfahren ‒ Vortrag und Dialog:
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(17:09) Die Antwort des Schöpfungsmythos / (18:38) Die drei Bestandteile des Schöpfungsmythos / (25:47) Der Genesismythos / (27:12) Ein Apachen Schöpfungsmythos / (31:58) Ich bin ein Sonnenedelstein (achtjähriger Bub)
Der Vortrag in Teil 1 erschien ebenfalls unter dem Titel Im Paradoxen Sinn erfahren im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 59-71]
_______________
[1] MUSIK DER STILLE (2023): ‹Laudes ‒ Tagesanbruch›, 55f.
[2] Buch Credo (2015): ‹Ich glaube an Gott›, 28
[3] UMWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 159f.:
«Umwelt ‹schafft› sich jedes Lebewesen durch seine Beziehungen zur Außenwelt. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Außenwelt wird auf diese Weise zur Umwelt dieser oder jener Art von Lebewesen.
Die Sinnesorgane, Erfahrungen und Lebensgewohnheiten etwa von Walen knüpfen andersartige Beziehungen zur Außenwelt an als jene von Heuschrecken. Entsprechend andersartig ist auch die Umwelt beider ‒ innerhalb ein und derselben Außenwelt. Ähnliches gilt grundsätzlich auch für uns Menschen. Und doch besteht für die Menschheit heute ein großer Unterschied zu allen andren uns bekannten Lebewesen.
Aufgrund der unvergleichlichen Reichweite unsrer Sinnesorgane und Erfahrungen und dank technischer Instrumente ist ein schier grenzenloser Bereich der Außenwelt zu unsrer Umwelt geworden.
Zugleich aber erkennt menschliches Bewusstsein unsre Verantwortung für unsre Umwelt. Immer mehr Menschen werden sich auch des Unheils bewusst, das unsre Lebensgewohnheiten unsrer Umwelt zufügen. Richtig verstanden, weist also schon das Wort Umwelt selbst auf unsre Verantwortung für Umweltschutz hin.»
[4] MITWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 150
[5] Orientierung finden (2021): ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 26
[6] Ausschnitte aus Orientierung finden (2021): ‹Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift›, 42, 47, 43
[7] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010): Audio des Vortrags in München, transkribiert ab (30:00) – (35:31)
[8] Ebd. (09:08-09:51)
[9] Parallel zu den drei Betonungen im Satz: ‹ES gibt mich›, spricht Bruder David von drei Aha-Erlebnissen im Satz: ‹Das ist es›!, wenn er beim Vergleich der Weltreligionen von der Sinnsuche des Menschen ausgeht. Siehe seine Bücher Credo (2015): ‹Amen›, 237, Orientierung finden (2021): ‹Religionen ‒ verschiedene Sprachen für das Unaussprechliche›, 71f., Auf dem Weg der Stille (2023), 40, wie auch seine Vorträge Jesus als Wort Gottes (1972), 65, und Wie das Göttliche in uns wächst (2005): Audio ‹Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen› und Mitschrift
[10] Jesus als Wort Gottes (1972), abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 65
[11] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010): Audio des Vortrags in München, transkribiert ab (44:17):
«Nur noch ein letzter Punkt: Wie können wir die Verbundenheit im Glauben, der alle verbindet, mit andern ‒ mit allen ‒, wie können wir die finden? Ein vierter Punkt wäre: ‹Ein neues Durchdenken unserer eigenen Religion›.
Und da finden wir jetzt ‒ weil wir hier in der katholischen Akademie sind, und weil ich annehmen kann, dass Sie wenigstens vertraut sind mit der katholischen christlichen Lehre oder der christlichen Lehre überhaupt ‒, dass dieses ‹ES gibt mich› auch schon die ganze Trinität beinhaltet: die Trinitätslehre, den Glauben, der sich dann in der christlichen Tradition als Trinitätslehre entfaltet und auch seine Gegenstücke in andern Traditionen hat. Sehr deutlich, aber zu kompliziert für uns, das hier aufzugreifen.
Das ES, das es gibt, nennen wir mit Jesus Christus Vater, heute hätte er sicher Mutter gesagt, weil das unserem Verständnis für das, was er mit Vater gemeint hat, heute näher liegt, aber wir nennen es in der Trinitätslehre den Vater, diesen unergründlichen Ursprung, dieses Nichts, dieses Schweigen, aus dem das Wort hervorkommt, das Unsagbare, wie das die Buddhisten nennen. Und die Buddhisten legen das Schwergewicht auf diesen Aspekt des Göttlichen, auf dieses ES.
Die unbegreifliche Vielfalt gehört dem Judentum, Christentum und dem Islam, die ich gerne zusammenfasse als die Amen-Traditionen. Sie haben das Wort Amen gemeinsam. Und das ist nicht so ein Zufall, das ist ein ganz zentrales Wort für den Glauben, der alle verbindet. Amen ist im Hebräischen die Antwort auf Gottes Amunah, unsere menschliche Antwort auf Gottes Amunah. Und die Amunah ist Gottes Verlässlichkeit, die Verlässlichkeit Gottes. Und auf die antworten wir: Amen: Ja. Wir verlassen uns. Mit dem Wort Amen verlässt man sich auf die Verlässlichkeit Gottes hin. Und das haben wir gemeinsam als Christen mit den Muslimen und mit den Juden, alle drei haben das gemeinsam in diesem einen schönen Wort Amen.
Und das ist der Bereich des: ES gibt m i c h, diesen ‹mich›-Bereich des Du, des Gegenüber. Es gibt mich durch dich, das ist unsere westliche, unsere Amen-Antwort im Glauben.
Und die dritte, die wir den Hl. Geist nennen, das ist das ‹ES g i b t›, die Lebendigkeit, das Geben, die Dynamik.
Und da sehen wir also jetzt, dass einerseits dieses
‹ES gibt mich›
den Urgrund: dieses ES, die kosmische Fülle: m i c h und die unerschöpfliche Lebendigkeit des Gebens zusammenfasst, dass Vater, Sohn und Hl. Geist irgendwie ansatzhaft schon darin stecken, und wir sehen zugleich, dass die großen Traditionen diese dreifaltige Wirklichkeit je in anderer Weise betonen:
die Buddhisten, könnte man sagen, die Theologie des Vaters entwickeln, die Amen-Traditionen (Judentum, Christentum und Islam) die Theologie des Wortes, und der Hinduismus die Theologie des Hl. Geistes, des Verstehens.»
[12] Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (24. Oktober 2010): Audio und Mitschrift des Vortrags in Freiburg i. Br. ab (47:32)
[13] Im Paradoxen Sinn erfahren, 64
[14] Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus Jesus als Wort Gottes (1972), 62
Eucharistie
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Der Kampf zwischen Furcht und Glaube kristallisiert sich im Bild von Jesus in seinem Seelenkampf. Am Ölberg wird er zum «Pionier unseres Glaubens». Aber dieser Vorausmarsch kostet ihn blutigen Schweiß. Am Ende nimmt er den Kelch entgegen, wie er zuvor die Steine anstelle von Brot entgegengenommen hatte. Besteht da nicht ein Zusammenhang zwischen diesem Brot und Kelch und dem Brot und Kelch des Abendmahls?
Wann immer Christen das Abendmahl feiern,
das Bort brechen und den Kelch teilen, feiern sie Leben in Fülle. Ja, aber im Hinblick auf den Tod, auf den blutigen Seelenkampf, in dem der Glaube die Angst überwindet. So oft wir das Abendmahl feiern, werden wir aufgerufen, mit Christus von unseren Ängsten zum Glauben überzugehen.
Selbst die Symbole des Abendmahls sind doppeldeutige Symbole. Brot ist ein Symbol des Lebens. Das Brechen des Brotes bezeichnet das gemeinsame Leben, das in der Gemeinsamkeit wächst. Und doch bezeichnet das Brechen auch Zerstörung, es erinnert an den im Tod gebrochenen Leib. Der Kelch des Blutes verweist auf den Tod. Aber es ist auch der Kelch, der in festlichen Versammlungen von Freunden zur Feier des Lebens die Runde macht. Es verlangt Mut, sich dieser doppelten Bedeutung zu stellen. Nur gemeinsam können die beiden Aspekte die ganze Fülle ausdrücken.
Den Mut, dessen es bedarf, das Leben unter dem Bild des Todes zu empfangen ‒ das ist der Mut des Glaubens,
der Mut der Dankbarkeit: Vertrauen auf den Geber.
Treten wir zum Altar, um Brot und Kelch zu empfangen, dann verlang das Mut. Es ist eine Geste, durch die wir sagen: «Ich vertraue gläubig, dass ich von jedem Wort leben kann, das aus dem Munde Gottes kommt, selbst dann, wenn es Tod bedeutet.»
Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. Es ist die Freude mutigen Glaubens, die Freude, die wir finden, wenn wir uns auf die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge verlassen. Es ist die Freude der Dankbarkeit umarmt von der Fülle des Lebens. [FN 1) 104f.; 2-5) 106f.; 6) 107f.]
[Auszug aus: Vom Worte Gottes leben – Die Versuchung Jesu im Garten (2021)]
Was bleibt, ist diesen Akt des Glaubens ins tägliche Leben zu tragen. Und dies geschieht durch Dankbarkeit. Die christliche Abendmahlsfeier heißt schließlich Eucharistie, Danksagung. Indem wir lernen, für Leben und Tod, für diese ganze gegebene Welt zu danken, finden wir wahre Freude. …
Familie
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Mit dem ganzen Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend.
Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort pietas. Wir könnten es als «Familiensinn» übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des pater familias. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. Pietas gibt dem pius pater Rechte und Pflichten. Aber pietas ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist pietas. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber pietas bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den lares, verbunden durch die gleiche pietas, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff. Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes pietas in unser Wort «Pietät» übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort pietas prägte.
Die entscheidende Frage lautet: Wie groß ist unsere Familie? Wie groß ist die Reichweite unseres Zusammengehörens? Erreichen wir die entferntesten Bereiche von Gottes Haushalt? Wird sich unsere Sorge und Betroffenheit weit genug ausdehnen, um alle Mitglieder dieses Haushalts der Erde zu umfassen ‒ Menschen, Tiere, Pflanzen, die wir immer noch als fremd betrachten? Unser aller Überleben könnte von der Antwort auf diese Frage abhängen. [ST 40f., Quelle: FN 1) 154f., 2-5) 158-160; 6) 157-159]
Fehler
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Es ist sehr schmerzhaft mitanzusehen, wie auch kleine Unaufrichtigkeiten nach und nach unsere Seele vergiften. So gibt es Menschen, die in ihrem Leben keine großen Fehler begangen haben, vielleicht war da nur die eine oder andere kleine Lüge, in die sie sich mehr und mehr verstrickten, bis sich ihr Leben in einem schrecklichen Durcheinander befand, das genauso schlimm war, wie wenn sie eine furchtbare Untat begangen hätten. Unsere kleinen Verfehlungen ‒ die kleinen Augenblicke, in denen wir unseren Launen oder trägen Gewohnheiten nachgeben ‒ sammeln sich an und können mehr Schaden anrichten, als wir denken. Es geht hier nicht nur um eine Frage der Moral, unsere eigentliche Lebensfreude hängt davon ab. Wenn wir mit dem Augenblick nachlässig umgehen, hastig, unbehutsam, unbedacht in Wort und Tat, dann wird daraus ein vergeudetes Leben.
Und dennoch, ganz egal, in was wir uns hineinmanövriert haben, genau der jetzige Augenblick kann der Beginn eines neuen Lebens sein. Gott hat uns vergeben, bevor wir überhaupt je Fehler begingen. Wir brauchen nur diese Vergebung anzunehmen und uns selbst zu vergeben, um einen völlig neuen Anfang zu machen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für die Qualität unseres Lebens, dass wir jeden Arbeitstag mit bewusster Klarheit und in der besten Absicht beginnen.
[ST 42, Quelle: MS 5) 71f.]
Fließweg
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Bewegung in zahllosen Formen, das ist doch eigentlich, was wir das Leben nennen. Vom Kreisen der Galaxien, Sonnen und Planeten zum Kreisen der Falken, ihrem Hinabsausen und dem Zappeln der Maus; vom plötzlichen Aufblühen der Feuerwerksraketen zum sachten Entfalten der Wiesenblumen; vom Flug des Pfeiles zum Fallen plumper Pflaumen. Bewegung von Fliehen und Erhaschen, von Mühe und Entspannung, Einschlafen und Erwachen.
Aber auch die Bewegung aufsteigender Dankbarkeit, sprießenden Verliebtseins, stiller Verinnerlichung. Verinnerlichung hinein in eine Stille, die nicht Stillstand bedeutet, sondern bis zum scheinbaren Stillstand geballte Bewegung ‒ wie der Flügelschlag des Kolibris.
Aus dieser Mitte lass jede meiner Bewegungen kommen; dann wird jede letztlich ein Empfangen und Weiterschenken werden, ein Geben und Nehmen zwischen dir und mir. Amen.»[1]
Nur wenn wir im Einklang mit dem Leben handeln, fließt die Kraft des Lebens durch uns.
Ganz gleich, ob wir im Garten arbeiten, ein Buch lesen, ein Hemd bügeln oder an einer Telefonkonferenz teilnehmen, «gute Arbeit» ist wie ein kosmisches Ballspiel, «wie ein heiliger Tanz».
Der taoistische Philosoph Huang Tsu (369-286 v. Chr.) verwendet diese Bilder vom heiligen Tanz und von guter Arbeit in seinem Gedicht «Einen Ochsen zerteilen».
Fleischer und ihre Arbeit waren zu Prinz Wen Huis Zeiten in der chinesischen Gesellschaft verachtet. Trotzdem aber schaut der Prinz seinem Koch eines Tages beim Zerteilen eines Ochsen zu und ruft zuletzt begeistert aus:
«Das ist es! Mein Koch hat mir gezeigt, wie ich mein Leben leben sollte!»
Weit mehr als zwei Jahrtausende später können auch wir das ausrufen, denn Huang Tsus Beschreibung zeigt beispielhaft, was immer gültig bleibt:
Rechtes Tun folgt dem Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt».
«Ja, es gibt schon manchmal zähe Gelenke», aber der Koch lehrt uns, wie wir damit umgehen sollen.
«Ich spüre sie kommen, ich werde langsamer» ‒ also geht er zurück zu Stop ‒ «ich schaue genau» ‒ er geht zurück zu Look. Und dann: Ich «halte mich zurück», bewege kaum die Klinge» ‒ sein Go fließt jetzt «mühelos» mit der Energie des Lebens selbst:
«Das Gespür tut die Arbeit ohne Planung; frei folgt es seinem Instinkt.»
Aber geben wir Huang Tsu das Wort:
Der Koch des Prinzen Wen Hui
zerteilte einen Ochsen.
Arm gestreckt,
Schulter gebeugt;
er setzt den Fuß fest auf,
er stemmt sein Knie an,
schon liegt das Tier
in Stücken da.
Das blanke Beil
flüstert wie ein Windhauch.
Rhythmisch! Gemessen!
Wie ein heiliger Tanz ist's,
wie ein Kinderreigen,
wie uralte Harmonien.«Das nenne ich gute Arbeit!»
ruft der Prinz, «perfekte Methode».
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
Ich folge dem Tao;
jenseits jeder Methode!Als ich anfing,
Ochsen zu zerteilen,
sah ich das ganze,
schwere Tier vor mir:
eine einzige Masse.Nach drei Jahren
sah ich statt dieser Masse
die feinen Trennungslinien.
Jetzt aber sehe ich nichts
mit meinen Augen. Mein Inneres
erfasst einfach das Ganze.
Meine Sinne sind müßig. Das Gespür
tut die Arbeit ohne Planung; frei
folgt es seinem Instinkt.
So findet mein Beil mühelos
den verborgenen Spalt, den geheimen Weg,
wie die Natur ihn bahnt.
Ich haue durch kein Gelenk, hacke auf keinen Knochen.Ein guter Koch braucht jedes Jahr
ein neues Beil. Er hackt.
Ein schlechter Koch braucht jeden Monat
ein neues Beil. Er haut drauflos.
Dieses Beil benutze ich
schon neunzehn Jahre,
tausend Ochsen
hat es zerlegt.
Es ist so scharf
wie am ersten Tag.Die Gelenke haben Zwischenräume;
die Klinge ist dünn und scharf:
Sie findet diese Zwischenräume.
Mehr Raum braucht es nicht!
Dann geht's widerstandslos.
Deshalb bleibt die Klinge neunzehn Jahre lang
wie frisch geschliffen.Ja, es gibt schon manchmal
zähe Gelenke. Ich spüre sie kommen,
ich werde langsamer, ich schaue genau,
halte mich zurück, bewege kaum die Klinge,
und plumps! Das Fleischstück fällt herunter
wie ein Klumpen Lehm.Dann lasse ich die Klinge ruhen,
ich halte inne
und lasse die Freude an der Arbeit
mich ganz durchdringen.
Ich mache die Klinge sauber und verstaue sie.»«Das ist es!», rief Prinz Wen Hui,
«mein Koch hat mir gezeigt
wie ich mein Leben
leben sollte.»[2]
Auf einer tagelangen Busreise war es mir einmal geschenkt, neben einem Metzger zu sitzen, der mir von seiner Arbeit erzählte. Er hatte sicherlich noch nie vom Taoismus gehört, geschweige denn von Huang Tsus Gedicht, aber ich traute meinen Ohren kaum, so ähnlich war die stolze Beschreibung seiner Fähigkeiten der von Prinz Wen Huis Koch, seines taoistischen Kollegen von vor so langer Zeit. Jetzt überrascht mich das nicht mehr.
Mir ist klargeworden, dass unser Stop ‒ Look ‒ Go keine Methode ist, die jemand erfunden hat, sondern die Gestalt, die allen klassischen spirituellen Methoden zugrunde liegt ‒ der zeitlose Fließweg, «wie die Natur ihn bahnt», damit wir in Harmonie mit dem Universum leben lernen.
«Methode?», meint der Koch
und legt sein Beil weg.
«Ich folge dem Tao
jenseits jeder Methode!»
Am Anfang können wir freilich das «Stop ‒ Look ‒ Go» auch als Methode anwenden.
Das Ziel ist aber, dass es uns durch Übung zur zweiten Natur wird.
Dann folgt unser Gespür ohne Planung frei seinem Instinkt und findet den Fließweg «jenseits jeder Methode».
Dazu bedarf es freilich der Übung ‒ wie bei jeder andren spirituellen Praxis.
Alle spirituellen Wege haben dasselbe Ziel: im Jetzt leben. Dieses Ziel will auch «Stop ‒ Look ‒ Go» erreichen.
Ein sehr einfacher Weg, aber einfach ist nicht gleichbedeutend mit leicht, besonders am Anfang nicht.
Dennoch bietet seine Einfachheit einen großen Vorteil im Vergleich mit andren spirituellen Praktiken:
Wir können «Stop ‒ Look Go» an jedem Ort und zu jeder Zeit üben:
am Arbeitsplatz genausogut wie an einem Ort der Stille; in der U-Bahn genauso gut wie bei einer Wanderung in den Bergen.
Und wann immer wir diesen einfachen Dreischritt üben, bringt er uns ins Jetzt. Und warum ist das so wichtig?
Weil im Jetzt das Ego nicht überleben kann. Das Ego ist immer in die Vergangenheit verwickelt, fühlt sich als Opfer, müht sich ab mit vergangener Schuld oder sehnt sich nach der «guten alten Zeit».
Oder es ist in der Zukunft verfangen und wartet ungeduldig auf sie oder hat Angst vor ihr.
Um ins Jetzt zu finden, muss ich mein über Vergangenheit und Zukunft zerstreutes Ego in meine «Mitte des Immer»[3] sammeln.
Weil das «Stop ‒ Look ‒ Go» mich ins Jetzt bringt, bringt es mich zu mir selbst.
Ich komme aus der Ego-Illusion in die Wirklichkeit des Ich-Selbst zurück.
Dadurch wird jetzt Orientierung möglich: Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit und dadurch auch auf die letzte Wirklichkeit, das große Geheimnis.
So oft wir innehalten, sei's auch nur für einen Augenblick, umfängt uns das Geheimnis als Schweigen.
So oft wir aus innerer Stille heraus hinhorchen auf das, was der Augenblick uns zuspricht, öffnen sich die Ohren unsres Herzens für das Geheimnis als Wort.
Und so oft wir dann durch unser Tun Antwort geben auf dieses Wort, sei es ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ding oder ein Ereignis, werden wir das unbegreifliche Geheimnis durch unser Tun verstehen, so wie wir den Tanz nur dadurch verstehen können, dass wir tanzen.
Im Tanzen kommt unser Dreischritt von «Stop ‒ Look ‒ Go» ins Fließen ‒ er zeigt sich als Fließweg.[4]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Erst, wenn ich auf den großen Tanz der Dinge achte, wird mir bewusst, wie steif ich innerlich bin. Selbst leblose Dinge rollen, fließen, gleiten; auch wo sie knirschen, holpern, sich spießen, sind sie gemeinsam dem Gesetz der Gegenseitigkeit gehorsam. Tiere erst recht. Noch bei ihrem letzten Sprung tanzt die Maus mit der Katze.
Nur wir ‒ teilnahmslos gegeneinander. Um so mehr bewundere ich Menschen, deren jede kleinste Geste Begegnungsbereitschaft ausdrückt, Hinhorchen, Hilfsbereitschaft, Aufforderung zum Tanz. Das muss von innen kommen. Mach mein Herz tanzbereit. Amen.»[5]
In höchster sprachlicher Verdichtung hat Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) in seinem Gedicht «Der römische Brunnen» das Ruhen im Fließen in ein Bild gefasst.
Wenn wir – ohne es intellektuell zu analysieren ‒ diesem Sinnbild gestatten, uns zu ergreifen, dann kann uns bewusstwerden, dass der Fließweg durch die drei Schalen zugleich der Weg der Sinnfindung ist, denn «jede nimmt und gibt zugleich / Und strömt und ruht.»
Sinn aber ist das, worin das Herz Ruhe findet.
Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.Im Strömen das Ruhen finden, das heißt auch Sinn finden.[6]
«Weg und Ziel zeigst du mir nicht nur an, DU großes Geheimnis im Herzen des Lebens, du b i s t mir beides.
Als Weg erfahre ich dich am richtungweisenden Fließweg des Lebens, dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.
Als Ziel erkennt dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt:
‹Heim zum Vater!›
Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen, nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz, sondern wendig werden wie ein Fisch.
Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis, den mir das Leben ‒ den du mir gibst. Und lass mich täglich fröhlicher werden, weil ich ja auf dem Heimweg bin zu dir. Amen.»[7]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 4-7]
[Ergänzend:
1. FLIESSWEG, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 136:
«Fließweg ist ein schönes, aber nur selten, meist in technischer Fachliteratur gebrauchtes deutsches Wort. Es bietet sich an, um im übertragenen Sinn die Grundhaltung des Taoismus zu kennzeichnen: die Bereitschaft, sich bewusst und bereitwillig dem Fluss des Lebens zu überlassen. Die Silbe «Weg» hat dann in diesem zusammengesetzten Wort eine Doppelbedeutung. Einerseits weist sie auf die Wegrichtung fließenden Wassers hin, den Fluss des Lebens, andererseits auf den Lebensweg des Weisen, der sich wie ein Schwimmer, keineswegs wie Treibholz, dem richtungweisend fließenden Strom des Lebens anvertraut.»
2. Audio zu: ‹Die Mitte des Immer›
Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen
(39:16) ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (R. M. Rilke, Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
3. Audios zu: ‹Der römische Brunnen›
Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(55:30) ‹Der römische Brunnen› (C. F. Meyer) und ‹Römische Fontäne› (R. M. Rilke, Neue Gedichte)
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(01:12:38) ‹Der römische Brunnen› (C.F. Meyer)
Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden (2010)
(58:38) Vortrag
4. Audio zu ‹Heim zum Vater›
Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökumene:
(31:54) «In ihm und durch ihn und mit ihm ‒ Jesus Christus ‒ gehen wir wieder zurück zum Vater: Wir als Christen drücken das so aus und erleben das so, aber alle Menschen erleben das so, können es verstehen, wenn man es ihnen nahebringt. … Einer der ganz frühen Kirchenväter sagt: ‹In meinem Herzen fließt eine Quelle und ich höre das Wasser sagen: Heim zum Vater.› Das ist etwas, das jeder Mensch erlebt, einfach als Mensch. Diese Quelle haben wir in unserem Herzen und hören diese Stimme, die sagt: ‹Heim zum Vater.›»]
______________________
[1] Erwachende Worte (2023): ‹44 Bewegung›, 105
[2] Thomas Merton (Hrsg.): ‹Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des Tschuang-tse›; mit einem Vorwort von Bernardin Schellenberger. Neuausgabe, Düsseldorf, Patmos Verlag, 1984, 23-25; siehe auch die Übersetzung des Altmeisters der klassischen chinesischen Texte Richard Wilhelm: Dschuang Dsi: ‹Das wahre Buch vom südlichen Blütenland›; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm (= Diederichs Gelbe Reihe; 14: China), Kreuzlingen / München, Hugendubel 112000: Buch III. Pflege des Lebensprinzips, 2. Der Koch, 54f.
«1960 stieß der amerikanische Mönch und Schriftsteller Thomas Merton auf die Schriften des großen Chinesen Tschuang-tse († um 300 v. Chr.), der gegen Ende der Blütezeit der chinesischen Philosophie lebte und als der spirituellste unter den chinesischen Philosophen gilt. Nach jahrelanger, intensiver Beschäftigung mit seinen Schriften legte Merton diese Sammlung charakteristischer Texte vor, wobei er auf höchst persönliche Weise Übersetzung und Interpretation miteinander verband. So gelingt in diesem Büchlein ein Brückenschlag: Tschuang-tse mit den Augen eines modernen Amerikaners gesehen, aber auch den Augen eines modernen Mystikers betrachtet, der bei dem alten chinesischen Philosophen Elemente entdeckte, die allen meditierenden Geistern aller Zeiten gemeinsam sind.» (aus dem Klappentext des Buches von Thomas Merton)
[3] R. M. Rilke: ‹Elegie an Marina Zwetajewa-Efron› (Aus dem Nachlass, Widmungen)
[4] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 108-113
[5] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 33
[6] Orientierung finden (2021): «Stop ‒ Look ‒ Go: Sich einüben in den Fließweg des Lebens», 114
[7] Erwachende Worte (2023): ‹11 Weg›, 39
Fließweg und Entscheidung
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Beginnen wir mit einer Art von Erfahrung, die mehr Beachtung verdient, als man ihr gewöhnlich schenkt.
Es handelt sich dabei um oft dramatische Ereignisse, bei denen wir gar nicht Zeit haben, Entscheidungen zu treffen, und doch spontan genau das tun, was die Situation verlangt ‒ manchmal mit ganz außergewöhnlicher Kraft und Geschwindigkeit:
Ein Feuerwehrmann springt in die Flammen und rettet einen Erstickenden; eine Mutter reißt ihr Kind vor einem heranrasenden Schnellzug von den Schienen.
Später weisen beide jede Anerkennung zurück:
«Es war schon geschehen, bevor wir überhaupt Zeit hatten, nachzudenken»,
sagen sie.
«Sie hatten nicht Zeit» nachzudenken.
Das ist der erste springende Punkt.
Wir dürfen den Satz auch umkehren und sagen:
«Die Zeit hatte sie nicht»
in ihrem Netz, denn sie waren ganz im Jetzt. Darum war die Entscheidung einfach da.
Und das ist der zweite springende Punkt: Wenn wir im Jetzt sind, ist die Entscheidung schon Tatsache ‒ auch in dem Sinn, dass die Scheidung von Ich und Selbst, die mich zum Ego macht, aufgehoben ist.
Sobald ich im Jetzt bin, kann die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließen.
Das ist wahre Freiheit.
Sobald ich im Jetzt bin, steht die angemessene Vorgehensweise klar vor mir und ich bin dafür bereit.
Was im entscheidenden Augenblick der Feuerwehrmann und die Mutter auf so außergewöhnliche Weise erlebten, das können wir alle, wenn auch weniger auffällig, im Alltag erleben, wann immer wir wirklich im Jetzt sind:
Ich und Selbst handeln dann als eine Einheit ‒ die Entscheidung entspringt wie von selbst den Gegebenheiten.
«Wie ist das gemeint?», wird sicherlich jemand fragen.
«Muss ich überhaupt noch entscheiden, wenn die Kraft des Lebens frei durch mich durchfließt?»
Die Lebenskraft bewerkstelligt täglich tausende lebenswichtige Aufgaben für dich, die weit über deinen Verstand hinausreichen.
Sie reguliert deine Körpertemperatur, deinen Blutdruck, deinen Stoffwechsel und trifft unzählige andre dir unbewusste Entscheidungen.
Dich bei bewussten Entscheidungen in diese Wirkkraft einzublenden, kann Mühe kosten.
Wenn es sich um gewichtige Entscheidungen handelt, kann es sogar schwierige Erwägungen erfordern und langwierige Besprechungen mit andren, die von deiner Entscheidung betroffen werden.
Aber die eigentliche Entscheidung ist schon getroffen. Sie lautet:
«Ich will mich auf die Weisheit des Lebens verlassen.»
Daher geht es nun nur noch um ein fragendes Hinhorchen:
«Was will das Leben jetzt von mir?» ‒
Es geht um ein vertrauensvolles Sich-Verlassen auf die Weisheit des Lebens.
Und es geht darum, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren.
Wenn du deine Aufgabe so verstehst, kannst du die «Qual der Wahl» dem Leben überlassen und die Last der Entscheidung fällt von deinen Schultern.
«Sich auf die Weisheit des Lebens verlassen» und «ins Jetzt zurückkehren» ist ein und dasselbe.
Denn was du verlässt, wenn du «dich verlässt», ist das Ego.
Es gibt freie und unfreie Handlungen.
Ich-Selbst bin immer frei; mein Ego nie.
Das Ego will mit Gewalt starr und eigensinnig seine Pläne durchsetzen, wird dabei aber von der Strömung des Lebens überrollt.
Das «lch-Selbst» schwimmt in dieser Strömung, sie vertrauensvoll, zielbewusst, geschickt und vor allem gewaltfrei nutzend.
Die einzig wahre Freiheit ist Gewaltfreiheit ‒ das lch-Selbst tut der Wirklichkeit keine Gewalt an.
Die einzig freie Entscheidung ist die Heimkehr des Ich zum Selbst ‒ seine Befreiung aus der Scheidung zwischen den beiden, die es zum Ego machte.
Furcht will sich an die Vergangenheit klammern, Wunschträume schweben in der Zukunft herum, aber nur im Jetzt können wir uns nüchtern den Forderungen des Lebens stellen.
Das Ego ist niemals im Jetzt; es ist immer in Vergangenheit oder Zukunft verfangen.
Aber indem ich mich im Jetzt sammle, komme ich heim zu mir selbst ‒ zum lch-Selbst.
Das Selbst ist eins und macht uns alle eins.
Als «lch-Selbst» handle ich aus dem Bewusstsein dieses Eins-Seins mit allen.
Aber dieses «radikale Ja zur Zugehörigkeit» ist unsre Definition für Liebe.
Kein Wunder also, dass das Wort «frei» ‒ wie auch «Freund» ‒ von einer indogermanischen Wurzel stammt, die «lieben» bedeutet.
Und kein Wunder, dass der heilige Augustinus sagen kann:
«Liebe und tue, was du willst.»
Freiheit ist nicht die Fähigkeit des Egos, das zu tun, was ihm in den Sinn kommt ‒ willkürlich.
Echte Freiheit stellt sich ‒ bereitwillig ‒ auf das innerste Leitprinzip des Lebens ein.
Sie sagt in Liebe «ja» zur Gemeinschaft aller mit allen und kann daher tun, was sie will.
Östliche Weisheit verweist auf diesen natürlichen Fluss der Dinge als das Tao.
«Watercourse Way» nennt Alan Watts das Tao auf Englisch.
Fließweg könnten wir es vielleicht nennen ‒ ein schönes deutsches Wort, das Geologen bei der Beschreibung von Flüssen verwenden, obwohl es nur Fachwörterbücher zu kennen scheinen.
Um mit dem Tao zu fließen, müssen wir zu unsrer ursprünglichen Geisteshaltung, zum «Anfängergeist» des Kindes zurückfinden.
Als Baby bist du ganz selbstverständlich sowohl im Fluss des Lebens als auch im Jetzt.
«Du hast noch kein lch, das sich von dem, was geschieht, unterscheidet»,
wie Alan Watts es ausdrückt.
«Deshalb geschieht dir auch nichts. Es geschieht einfach.»
Du nimmst teil, sagt er, an
«den wundervollen Tanzfiguren... fließenden Wassers.»
Später gewinnen wir ein reflektiertes Bewusstsein von Ich und Selbst, aber gleichzeitig verlieren wir dieses Im-Fluss-Sein.
Dieser Verlust lässt sich jedoch vermeiden.
Wann immer wir im Jetzt sind, sind wir auch als Erwachsene im «Fließweg».
Dann fließt unsre Entscheidung im Einklang mit dem Universum ‒ nicht durch irgendwelche Magie, sondern durch unser vernünftiges Eingehen auf die Gelegenheit, die das Leben uns hier und jetzt bietet.
Wie beim Baby «geschieht einfach» das Lebensbejahende, aber wie bei der oben erwähnten Mutter und dem Feuerwehrmann geschieht es mit unsrer Zustimmung.
Unsre willige Entscheidung ‒ was immer sie betrifft ‒ wird von der Lebenskraft getroffen, die frei durch uns durchfließt.
Wie können wir aber sicher sein, dass wir im Einklang mit dem Universum entschieden haben?
Leider lautet die ernüchternde Antwort: 100% sicher zu sein, können wir niemals erwarten.
Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, wie vieles in jede Entscheidung hineinspielt und wie geschickt wir uns selber, beeinflusst von schlechten Gewohnheiten, etwas vormachen können, dann werden unsre Erwartungen bescheidener ausfallen.
Wir werden uns ehrlich bemühen, unser Bestes zu tun, und alles Übrige vertrauensvoll dem Leben überlassen. Erst dann sind wir wahrhaft frei.
Diesen Befreiungsprozess immer besser verstehen und ihm immer getreuer folgen zu lernen, ist eine lebenslange Aufgabe.[1]
«Und was du über die Zeit gesagt hast, das gibt den meisten Menschen einen verhältnismäßig leichten Einstieg zu dem, denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir sehr selten wirklich im gegenwärtigen Augenblick sind.
Wir hängen an der Vergangenheit und wir strecken uns auch aus auf die Zukunft und es bleibt sehr wenig von unserem Bewusstsein übrig, um wirklich in der Gegenwart zu sein.
Wenn wir lernen können, einfach hier zu sein, nicht viel zu denken, — unser Denken führt uns nicht dorthin, unser Denken lenkt uns ständig ab vom Bewusst-sein.
Wir sprechen vom Bewusstsein und denken ans Denken, wir sollten die Betonung auf das Sein legen, das bewusste Sein, wo das Denken keine große Rolle mehr spielt.
Wir können das Denken verwenden wie ein Werkzeug, aber jetzt ‒ wie die meisten von uns das erleben ‒ werden wir das Werkzeug des Denkens.
Alle großen Erfindungen werden gemacht, ohne dass der Erfinder denkt.
Er denkt sehr viel vorher und nachher, aber die wirkliche Erfindung bricht durch in einem Augenblick, in dem man nicht denkt.
Alle großen künstlerischen Schöpfungen kommen von irgendwo, aber jedenfalls nicht aus dem Denken.
Und so auch für uns.
Wenn wir lernen können, das Denken als Werkzeug zu gebrauchen, und nicht immer vom Denken versklavt zu sein, dann können wir auch im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein.»[2]
(Eröffnungsvortrag 24:59:) Und die Lebensreise ist das Leid. ‒
Das überrascht uns ‒ vielleicht ‒, besonders, wenn wir noch jung sind. Es ist aber auch in der Philosophie, die in unserer Sprache enthalten ist, völlig klar angelegt.
Denn «Leiden» heißt ursprünglich: «gehen», «fahren», «reisen».
Leiden hat ursprünglich überhaupt nichts zu tun mit erleiden.
Und wenn das Leben der Leib[3] ist, dann gehen die, die wirklich im Leib leben weiter und erfahren in ihrer Lebendigkeit das Leben.
Die aber nicht im Leib leben, die bleiben nur am Leben picken und sind die noch nicht Gestorbenen: Die pickenbleiben.[4]
Und das bringt uns zu der weiteren Frage: Was ist denn dann eigentlich das Leidige am Leid?
Und da zeigt sich, dass «Leid» im Sinn von «das Leidige» überhaupt nicht verwandt ist mit dem Wort «Leiden». Das sind zwei völlig verschiedene Wortwurzeln.
Das «Leiden», das ursprünglich «leben», «fahren», «reisen» bedeutet ‒ «gehen» auch ‒, kommt von einer Wurzel her, und das «Leid» ist ein anderes Wort, das ursprünglich das «Widerwärtige» bedeutet.
Und erst langsam, langsam vermischen sich die beiden, denn heute, wenn jemand sagt das «Leiden» und das «Leid», so ist das fast nur ein stilistischer Unterschied. Man kann das vollkommen mischen.
Wir haben die beiden eben irrtümlich so vermischt. Und erst, wenn wir die wieder auseinandernehmen, und sehen, dass «leiden» gar nicht unbedingt etwas Leidiges sein muss, weil es ursprünglich nicht das «Leidige» bedeutet, dann beginnen wir darüber nachzudenken, was denn eigentlich das Leiden leidig macht.
Das Wort «leidig» bedeutet ursprünglich «hässlich», «ungut», «unangenehm», hauptsächlich aber «widerwärtig».
Und «leider» ‒ wenn wir sagen «leider» ‒, das ist eine Steigerungsstufe: «Leid und noch Leider». Das gehört alles zusammen.
Und das «Widerwärtige» ‒ «wider» heißt «gegen» und «wärtig» ist so wie wir sagen «ostwärts» und «westwärts»: das ist die Richtung ‒ das «Widerwärtige», also das «Leid», ist das, was gegen den Strich geht.
«Leidig» ist alles, was gegen den Strich geht, was uns widerwärtig ist.
«Leiden» ‒ gehen, fahren, reisen, erfahren, erleiden ‒, ist das mit dem Strich gehen.
Das ist unsere große Herausforderung:
Wir können im Leben entweder mit der Maserung hobeln oder gegen die Maserung hobeln.
Wir können mit dem Strich gehen oder gegen den Strich gehen ‒ und das heißt: den Strich des Lebens:
Wir können mit dem Strom des Lebens schwimmen oder versuchen, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen.
Aber da kommt dann das große Paradox herein, dass alle, die mit dem Strom des Lebens schwimmen, gewöhnlich im Leben gegen den Strom schwimmen müssen.
Und darum schwimmen so wenige mit dem Strom des Lebens.
Zu dem Wort «Leid», «leidig» ‒, wenn wir sagen: «Das tut mir leid» oder «ich hab‘s leidig» ‒, gehört die «Widerwärtigkeit». ‒
Zu dem Wort «leiden»: leben, erfahren, fahren, gehört das Veranlassungswort «leiten», das auch zu «Lotse» gehört:
Eigentlich heißt das «gehen machen» ‒ «Leiten» ist «gehen-machen», veranlasst uns zu gehen.
Und da, wenn wir sehen, dass etwas uns leiten kann im Leiden ‒ durch das Leben gehen und das Leben erleiden ‒, dann müssen wir uns fragen:
Was ist denn dann die leitende Kraft?
Und da ist die Antwort:
Die leitende Kraft ist das Leben selbst.
Wenn wir wirklich uns dem Leben hingeben, dem Lebensstrom, der in der Quelle des Herzens aufspringt, dann werden wir durch das Leben geleitet.
Das Leben selbst leitet uns, wenn wir uns nicht diesem Lebensstrom verschließen, abkapseln, stehenbleiben, steckenbleiben und unser Herz verschließen.[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f. und 5]
[Ergänzend:
1. Krise
2. Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift 10f.:
(47:43) «Eine Frage, die man sich stellen könnte ‒ so wie:
Habe ich das Leben oder hat das Leben mich? ‒
Führe ich mein Leben oder führt mich etwas im Leben?
Und natürlich die ganze Idee von Augenblick für Augenblick hinhorchen, stillwerden ‒ hinhorchen und dann antworten.
Und das heißt, dass das Leben mich führt.
Und Lebensvertrauen ist das Vertrauen darauf, dass das Leben mich führt.
Je älter ich werde, umso klarer ist es mir, dass alles Pläne machen, ungeheuer gefährlich ist.
Augenblick für Augenblick gibt uns das Leben ja schon alles, was wir brauchen für den nächsten Augenblick, und wenn wir da unsere eigenen Ideen haben, kommen die so leicht in den Weg.
Alan Watts ‒ vielleicht kennt Ihr seine Bücher ‒, er hat auch sehr viel getan, den Buddhismus im Westen verständlich zu machen, und er hat seine Autobiographie genannt: In my own way:
Das kann einerseits heißen: Ich bin meinen eigenen Weg gegangen, aber es kann auch heißen: Ich bin mir ständig in den Weg gekommen. ‒ Absichtlich hat er so formuliert.
Also sich vom Leben führen lassen: Wie kann man das?
Das ist so ein leuchtendes Beispiel: Menschen, die sich vom Leben führen lassen: Das führt dann viele andere einfach durch die Leuchtkraft schon.»
3. Audios
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Gesamter Vortrag und Fragerunde:
(01:32:46) Das Leben durch uns fließen lassen, dann ereignet sich Lebensbejahendes ‒ Sehr häufig kommt das zustande, was wir wollen, wenn wir nicht mehr drücken ‒ Situationen, in denen wir nicht Zeit gehabt haben, uns etwas zu überlegen und ganz genau das Richtige getan haben
(01:36:02) Was will jetzt das Leben? ‒ Gerade die Bemühungen können in den Weg kommen: Vielleicht hat das Leben etwas anderes vor ‒ Tun, was wir freudig tun, wozu wir begabt sind ‒ Was bietet mir das Leben für eine Gelegenheit an? ‒ Bruder David bringt ein witziges Beispiel und lobt den Willen und die Hingabe von Menschen, die im Leben immer wieder anstoßen
Löwe, Lamm und Kind (1992)
Themen der Fragerunde:
‹Jeden Tag stehen wir vor der Entscheidung›]
________________________
[1] Orientierung finden: ‹Entscheidung ‒ Was will das Leben jetzt von mir?›, 86-89
[2] Transkription des Gesprächs von Willigis Jäger mit Bruder David in Video 1 der DVD ‹Der Atem der Stille: Mystik heute›, Aurum Verlag in
J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH und Benediktushof 2006
[3] Siehe im Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(19:04) leben, kleben und Leben, Leib
[4] Sitzen bleiben, zurück bleiben, hängen bleiben, kleben bleiben (Bruder David sagt: «bickenbleiben»)
[5] Eröffnungsvortrag: ‹Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen› (1992):
(24:59) Was die Sprache uns lehrt anhand der beiden Wortwurzeln ‹Leid› im Sinn von ‹gehen›, ‹fahren›, ‹reisen› und ‹Leid› im Sinn von ‹das Leidige›, ‹Widerwärtige›
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 23f.
Fragen
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Ist es nicht höchst unwahrscheinlich, dass wir jemals ein Gottesverständnis finden könnten, das die Konfessionen übersteigt und verbindet? Dieses Gottesverständnis gibt es schon und wir können es jederzeit entdecken, indem wir auf unsere innere Erfahrung achten und auf das Mehr, das unserem Leben Sinn gibt. Wir stoßen auf dieses Mehr, wenn wir die drei großen Fragen stellen, die uns als Menschen kennzeichnen.
Menschen aller Zeiten und Zonen fragen: «Was ist wirklich wirklich?» und begegnen dabei einem Geheimnis, das wirklicher ist als alles, was es gibt ‒ dem unerschöpflichen «Es», das wir aus der Wendung «es gibt» kennen.
Menschen fragen immer und überall: «Wer bin ich?» und stoßen auf das Mehr in der Tiefe ihres eigenen Herzens, ein Mehr, das Gedanken nicht ausloten und Worte nicht ausdrücken können.
Die dritte Frage lautet: «Worum geht es im Leben?» Wir finden die Antwort in einem unerschöpflichen Mehr an Liebe und Leben, an dem unser eigenes Lieben und Leben teilnimmt.
Unser geistiges sowie unser physisches Gesundsein hängt davon ab, dass wir uns auf die Antworten zu diesen letzten Fragen einlassen ‒ Antworten, die wir nicht in Worte fassen können. [ST 43, Quelle: Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis 81]
Fragen des Lebens
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es gibt viele Fragen. Doch nicht alle Fragen bewegen uns. Viele Fragen beunruhigen uns vielmehr. Und die Fragen, die uns beunruhigen, die lassen uns zum Stillstand kommen. Wir sind fast eingefroren von Fragen, die uns beunruhigen. Und die Furcht macht uns erstarren.
Die Fragen, die uns beunruhigen, haben meist mit der Vergangenheit zu tun oder mit der Zukunft. Das sind Fragen wie «Wie konnte so etwas nur geschehen?», «Wie konnte ich nur das tun?» «Wie konnte man mir das nur antun?»
Oder Fragen über die Zukunft, «Was kommt da noch alles auf uns zu?» ‒ Angstfragen sind es, die machen uns starr.
Aber dann gibt es auch Fragen, die uns bewegen. Fragen, die uns in Bewegung setzen. Und das sind Fragen in der Gegenwart. Fragen, die wir nur in der Gegenwart stellen können. Nur in diesem Augenblick. Nur in dem Jetzt, auf das alles ankommt.
Denn dieses Jetzt ist der Schnittpunkt der Zeit mit der Ewigkeit.[1] Die Ewigkeit ist ja keine lange, lange Zeit, die Ewigkeit ist, wie Augustinus das definiert, das «Nunc stans»[2] ‒ Das Jetzt, das nicht vergeht.
Dieses Jetzt ist uns in jedem Augenblick geschenkt. Und in diesem Jetzt ist uns die Begegnung mit unserem großen und ewigen Du geschenkt. Wir aber sind meistens beschäftigt mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Wir sind abgelenkt durch die Zeit vom Jetzt. Das Jetzt aber ragt über die Zeit heraus, denn das Jetzt ist nicht eigentlich in der Zeit.[3]
Und diese großen Fragen, die uns da beschäftigen, die uns wirklich bewegen und die uns heute beschäftigen sollen, die stehen auf diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit, die stehen im Jetzt. Das sind Fragen, die wir im Jetzt stellen und nur im Jetzt stellen können.
Und dieses Jetzt geht mit uns durch den Tag, durch das Leben. So wie auf einer Wanderschaft der Mond mit uns zu gehen scheint. Oder wenn der Mond auf einen See scheint: Immer zielt die Bahn des Lichtes auf uns, wohin wir auch gehen. Dieses Jetzt geht mit uns durchs Leben, durch den Tag.
Die vier Fragen:
Und so möchte ich nun vier von diesen Fragen herausgreifen: Fragen, die uns im Jetzt bewegen. Zunächst eine Frage, die mit unserer Jugend zu tun hat, damit, wie wir durchs Leben gehen, mit dem Morgen.
Und das ist eine Frage, die sich jeden Morgen neu stellt. Oder sich jedes Jahr mit dem Frühling erneuert. Diese Frage am Morgen heißt: «Wonach sehnen wir uns?» Wonach sehnen wir uns eigentlich?
Die Frage, die sich uns dann in der Lebensmitte stellt, am Mittag, im Sommer unseres Lebens, das ist die Frage: «Wie können wir überstehen?» ‒ Wenn alles auf uns hereinbricht, wenn alles unter uns zusammenbricht: Wie können wir überstehen?
Und dann eine dritte Frage, die Frage der Lebensreife, des Herbstes, des Abends: «Woran reifen wir?» ‒ Nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern jetzt, im gegenwärtigen Augenblick: Was macht uns jetzt reifen?
Und schließlich für die Lebensneige, für den Winter, für die Nacht die Frage: «Was tröstet uns?»
Wonach sehnen wir uns?
Um uns solche Fragen ganz persönlich nahezubringen, dafür gibt es kaum einen besseren Weg als die Dichtung. So möchte ich hauptsächlich Gedichte mit Ihnen teilen, und zwar von zwei Lieblingsdichtern von mir: von Rainer Maria Rilke und von Joseph von Eichendorff. Ich hoffe, dass wir diese Liebe zu diesen beiden Dichtern ‒ Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert, Rilke aus dem 20. Jahrhundert ‒ auch wirklich teilen.
Und so möchte ich zunächst zu der Frage «Wonach sehnen wir uns?» mit Eichendorff beginnen, aus dem Gedicht «Der Pilger»:
«Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und, wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg’, Schloss und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Das ist der Lebensanfang.
«Man setzt uns auf die Schwelle, wir wissen nicht, woher?»
Das ist zugleich die Schwelle in das Leben und von woher. Und wir wissen nicht, von woher wir in dieses Leben kommen. Es ist nicht nur die Schwelle, über die hinaus wir jetzt ins Leben gehen. Es ist auch die Schwelle, über die wir in das Leben hereinkommen. Und wir wissen nicht, woher.
Da ist das große Verlangen: die Sehnsucht. Es verlockt uns etwas, hinaus verlangt uns sehr. Aber dann kommt ein geheimes Grausen!
Kennen wir dieses geheime Grausen, wenn wir uns fragen:
«Wonach sehnen wir uns denn eigentlich?»
Im Gedicht reimt es sich hier nicht ganz genau. Und das ist immer sehr bezeichnend, wenn ein Dichter ungenaue Reime verwendet. Nicht, weil er es nicht besser kann, sondern weil er eben diese Ungenauigkeit will: Ein «geheimes Grausen» reimt sich auf «Wir sehnen uns nach Hause».
Das Haus, nach dem wir uns sehnen, das nimmt das Grausen weg:
«Und. ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn :
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht wohin?»
Auch Rainer Maria Rilke spricht in einem Gedicht aus dem Stundenbuch von dem, was vor der Schwelle geschieht, auf die man uns setzt. Und er stellt sich das so vor:
«Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.Gieb mir die Hand.»
«Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand!»
Das, wovon Eichendorff als «verlockend, wild und wilder» spricht, das ist die Schönheit, die uns anzieht.
«Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken»,
heißt es bei Rilke.
Und der Schrecken ist dieses geheime Grausen, das auch zum Leben gehört.
«Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Lass dich von mir nicht trennen.»
Lass dich von mir nicht trennen ‒ das heißt, in der Zeit, in die du jetzt hinausgehst, sei immer bei mir, gib mir die Hand ‒ jetzt!
Jetzt, an diesem Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Jetzt noch ein Gedicht von Eichendorff zu dieser Frage:
«Wonach sehne ich mich?»
Und das ist ein Jugendgedicht von ihm, ein frühes. Es heißt «Frische Fahrt»:
«Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mut’ger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!»
So gehen wir dann in die Welt hinein, in das Wirren, in den wilden Fluss, in den Strom. Wir lassen uns treiben vom Wind
«... selig blind ...»
Und wir wollen nicht fragen, wo die Fahrt hinführt. Wir wollen nicht fragen. Das ist unsere Verwirrung, das ist der Übergang von der Jugend zur Lebensmitte.
Doch lange bevor die Fahrt zu Ende geht, kommen wir an eine Stelle, an der wir uns fragen müssen:
«Wie kann ich das überstehen?»
Weil wir uns eben «selig blind» auf den Lauf der Zeit eingelassen haben, «selig blind» der Zeit verfallen sind und das Jetzt vergessen, können wir mit dem Wandel nicht umgehen.
Und so schreibt Eichendorff:[4]
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Alles, was wir schauen, wandelt sich, ständig. Vielleicht erinnern Sie sich, wie uns das auf der Lebensmitte bewusst wird. Vielleicht gerade mitten im Getriebe. Irgendwann in einem Augenblick, wenn wir uns wirklich einmal aus der Zeit herausraffen, wird es uns bewusst:
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.»
Dieses eigene Grauen ist das Grausen, von dem Eichendorff schon vorher gesprochen hat im Gedicht «der Pilger»:
«Und ein geheimes Grausen
beschleichet unsern Sinn.»
Dieses Grausen, das wir fühlen. Und jetzt geht das Gedicht weiter:
«Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!»
Und das ist nun das Haus, in dem wir zuhause sind. Jetzt plötzlich beginnt die Frage zu dämmern: «Wie können wir überstehen?»
Die letzte Strophe lautet:
«Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»
Wie können wir überstehen?
Hier und jetzt im Vertrauen. Nicht im Bedauern über die Vergangenheit, nicht in der Furcht vor der Zukunft, sondern durch Vertrauen im Jetzt. Das scheint mir die Antwort zu sein, die der Dichter hier auf diese Frage gibt.
Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder das Laubhüttenfest feiern, einmal im Jahr, dann bauen sie sich kleine Laubhütten, um sich an den Weg durch die Wüste zu erinnern. Die Laubhütten erinnern an die Zeit, als das Volk Israel in der Wüste lebte. Das ist ein sehr freudiges Fest und es dauert eine ganze Woche. Die gesamte Familie sitzt zusammen in diesen Laubhütten, morgens und abends, und singt und isst und trinkt und feiert. Die Baubestimmungen für diese Laubhütte sagen:
«Baue die Wände so dünn, dass du die Nachbarn sehen kannst. Und baue das Dach so dünn, dass du die Sterne sehen kannst.»
Wenn wir so fest bauen, wie wir das gewohnt sind zu tun, dann muss Gott milde über uns zerbrechen, dass wir den Himmel schauen.
[Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 5-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (00:22-20:48)]
[Ergänzend:
1. Siehe die Fortsetzung des Textes / Vortrags mit der Frage: «Woran reifen wir?» in Reifen
2. ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke: Das Stunden-Buch):
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag:
‹Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch›:
(02:32) ‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke, Das Stunden-Buch)
Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
1. Vortrag in thematische Brennpunkte aufgeteilt:
‹Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht› (Rilke)
Musik der Stille (2023): Laudes ‒ TAGESANBRUCH: 48f.; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31-35:
«Die klösterliche Stunde der Laudes führt uns aus der Finsternis hinaus ins Licht. Mit den Laudes bekommen wir bei Sonnenaufgang den neuen Tag geschenkt. Die Vigil begleitete uns durch die feierliche Finsternis und die dunkle Ewigkeit der Nacht; jetzt feiern wir das Licht.
In Rilkes Stunden-Buch findet sich ein wunderschönes Gedicht, das speziell für die Laudes geschrieben sein könnte. Es ist fast ein kleiner Schöpfungsmythos. Hier hört der Dichter, wie Gott im Schoß der Dunkelheit zu jedem von uns spricht, noch bevor wir geboren werden, bevor er uns vollendet. Dann begleitet Gott uns hinaus aus der Nacht:
‹Von deinen Sinnen hinausgesandt›, weist er uns an,
‹geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand›.
Gott findet seine Äußerung in dieser Welt durch die Art und Weise, wie wir mit der geheimnisvollen Stille und Finsternis umgehen, aus der wir kommen. Jeder ist dazu bestimmt, das göttliche Geheimnis in seiner ganz persönlichen Eigenart auszudrücken.
Und während er uns ins Licht führt, spricht Gott zu uns:
‹Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken
… Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.›
Und zum Abschied sagt er uns:
‹Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.Gieb mir die Hand.›
Dieses neue Land, in das wir gesandt werden, ist Gottes Geschenk: Sein erhabenes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das Geschenk des Seins.»
3. ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff):
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(30:39) Es wandelt, was wir schauen (Joseph von Eichendorff)
Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5):
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen — ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen
Erwachende Worte (2023): ‹Leiden›, 25:
«Leiden macht mir Angst, Du Quell der Seligkeit. Wo kommt es her? Doch nicht von Dir?
‹Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.›
Soll ich dann n i c h t lieben, um nicht leiden zu müssen am Scheiden?
Nein, ich will lernen, so zu lieben, dass meine Liebe furchtlos das Scheiden vorausnimmt, mit-liebt und so das Leiden ‹aufhebt› ‒ schultert, aber erlöst, hinaufgehoben zu Dir.
‹Du bist’s, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.›
Alles Schwere am Leid aus Liebe zu anderen mitzutragen, ist wohl jener Himmel. Ihn zeig mir. Amen.»]
_____________________
[1] Jetzt und ewiges Leben: Ergänzend 3.3.
[2] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8
[3] Siehe Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3. und 3.1.
[4] Joseph von Eichendorff: ‹Der Umkehrende›, 4.
Freude
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein. Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade Jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.
Diese dankbare Freude macht uns glücklich, was immer auch sonst noch geschehen mag. Manchmal verstehen wir das falsch. Wir denken, Menschen seien dankbar, weil sie glücklich sind. Aber stimmt das denn auch? Wenn wir genauer hinsehen, werden wir feststellen, dass Menschen glücklich sind, weil sie dankbar sind. Wenn wir für alles dankbar sind, was uns gegeben wird, gleichgültig, wie schwierig, gleichgültig, wie unwillkommen es auch sein mag, dann wird die Dankbarkeit selbst zur Quelle unseres Glücks. Die Heiligen lehren uns das: Sie sind voll des demütigen Dankes für alles, was ihnen das Leben bringt. Selbstverständlich ist es oft schwierig, diese Haltung einzunehmen, wenn wir uns plötzlich in einer unangenehmen oder gar tragischen Situation befinden. Wenn wir aber mit einfachen Dingen beginnen, dann wird uns die Haltung der Dankbarkeit nach und nach zur zweiten Natur. Haben wir nicht Augen, die wir im Morgenlicht öffnen können? Haben wir nicht Ohren, um auf Geräusche zu hören, und Füße, um zu gehen, und Lungen, um zu atmen? Was für Geschenke! Sollten wir nicht dankbar sein und uns an ihnen erfreuen?
[ST 44f., Quelle: MS 5) 50f.]
Friede
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Was ist denn eigentlich «Friede»? Ist es nicht, wie die abendländische Philosophie des Mittelalters diesen Begriff verstand «tranquillitas ordinis», Stille, die aus Ordnung entspringt?
Freilich dürfen wir da nicht an Friedhofsstille denken und nicht an ein schulmeisterliches «Ordnung muss sein!»
FRIEDE ähnelt mehr der dynamischen Stille einer ruhig brennenden Kerzenflamme und wurzelt in jener allumfassenden Ordnung, deren Ordnungsprinzip die Liebe ist:
Liebe als gelebtes «Ja» zur gegenseitigen Zugehörigkeit aller mit allen. Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.
Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben «Blitz aus Blitz sich reißt», wie Joseph von Eichendorff singt:
«Schlag mit den flamm'gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.»
Wenn ich fühle, «mein Herz wird mir so stille», dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.[1]
«So wünsche ich Euch also tiefe innere Stille.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Erdreich sich zurechtlegt für die lange Winterruhe; dann wird auch Euer Seelengrund fest und ruhig werden.
Stille, tief genug, um zu hören, wie Wasser rieselt und in den Boden sickert; dann wird auch Euer Sinn sanft werden, gefügig und geheilt.
Stille, tief genug, um zu hören, wie von Sternen am Winterhimmel Silberfunken stieben und tief im Erdinneren Feuer tost; dann wird auch Euer Innerstes erglühen.
Stille, tief genug, um das Fallen einer einzigen Schneeflocke durch die stille Winterluft zu hören; dann wird die Stille in Euch sich verwandeln in eine große Erwartung.
‹Frieden!› verkündigte der Engel, aber Frieden nicht nur als Gabe, sondern als Aufgabe.
Nur wenn Stille uns beständig macht wie Erde,
wendig wie Wasser
und glühend wie Feuer
werden wir uns der Aufgabe stellen können, Frieden zu schaffen, und die Luft um uns wird rauschen von Flügeln helfender Engel.
Deshalb wünsche ich Euch jene tiefe innere Stille, die allein es uns erlaubt, ohne Ironie ‹Frieden auf Erden› zu erhoffen und uns ohne Verzweiflung dafür einzusetzen.»[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Stillehalten, Stille zulassen, Tanz, der Sinn des Ganzen [Ergänzend: 3.2], und Ordnung, mit Auszügen aus Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Die Umwelt als Guru», 30f. und Auf dem Weg der Stille (2016): Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein», 103-105, 109:
«Unsere lateinische Tradition definiert Frieden als ‹tranquillitas ordinis›, die Stille der Ordnung.»
2. Audios
2.1. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen (Königsfeld im Schwarzwald)
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben und Diskussion
2.2. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2:
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort
2.3. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben» ‒ «Wir sind als Menschen mit der Ewigkeit ebenso vertraut wie mit der Zeit»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
3. Weitere Texte
3.1. «Unsere Welt [ist] immer noch mittendurch gespalten ... Worte, die nicht aus der Stille kommen, können uns nur noch weiter trennen. Es wird viel Stille brauchen, bis wir auf einander horchen lernen, und noch länger, bis wir Worte finden, die uns zusammenführen können.» [Interview-Ankündigung zum Video Vom Ich zum Wir ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021)]
3.2, Kann man die Bergpredigt in Realpolitik umsetzen?: Bruder David im Gespräch mit Mario Quintana im Buch Ambivalenzen: Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft (2021):
«Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen» (84f.)
«Freut euch, ihr Friedensstifter, denn ihr werdet Gottes Kinder heißen» (85f.)
3.3.. Bruder Davids Vorwort im Buch Brot und Gesetze brechen (2021):
«Die Sterne der Pflugscharbewegung, die in diesem Buch aufleuchten, können uns auf dem Weg zum Überleben der Menschheit zu Leitsternen werden, denn dazu brauchen wir heute dreierlei, und das verkörpern diese oft ganz einfachen Menschen vorbildlich: Einsicht, Betroffenheit und tatkräftigen Einsatz.»
3.4.. Der menschliche Geist ist eins (2021): Meditation von Bruder David 1975 im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN in Anwesenheit von führenden Persönlichkeiten der Weltreligionen; der Text ist dem Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Meditation «Der menschliche Geist ist eins», 147-152, entnommen:
«‹Einer ist der Menschen Geist›, aber der Menschengeist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe lasst uns still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.
Nach einem kurzen Augenblick werde ich Sie einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, sich in diesem Geist der Ihnen am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Lasst unsere Feier in dieser Geste gipfeln und zum Abschluss kommen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.
Der Friede sei mit Ihnen allen!»
3.5. Innerer und äusserer Frieden: Vortrag mit anschließendem Gespräch in Königsfeld (1992):
«Das wäre der erste Schritt: Was ist eigentlich Frieden im Verständnis unserer westlichen Tradition?
Der zweite Punkt wäre: Was steht dem Frieden entgegen? Was steht ihm gerade heute entgegen in der spezifischen Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt und in unserer Kultur, in unserer Welterfahrung, in unserem Welterleben?
Dann kommen wir zum dritten Punkt, und das ist eigentlich unsere Hauptfrage: Lässt sich der Frieden doch verwirklichen? Und wenn ja, dann wie?
Und wie gesagt, die Fragezeichen bleiben bestehen, aber durch Nachdenken können wir denen wahrscheinlich schon näherkommen.»]
___________________
[1] 99 Namen Gottes (2019), 5 as-Salām, der FRIEDE, die Quelle des Friedens, 16f
[2] Weihnachtsgrüße 2004; der Text ist auch abgedruckt in Die Achtsamkeit des Herzens (2021): «Ein Wunsch», 160
Furcht
Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir können dem Leben Vertrauen schenken oder uns fürchten. Die Wahl zwischen diesen beiden Grundhaltungen steht uns frei.
Zu welcher Option wir neigen, erweist sich ganz praktisch an unsrem Lebensmut im Alltag.
Das Gegenteil von Glauben ist ja nicht Zweifel oder Unglaube, sondern Furchtsamkeit.
Hier müssen wir wieder eine wichtige Unterscheidung beachten - nämlich zwischen Angst und Furcht.
Angst ist im Leben unvermeidlich, Furcht wählen wir selbst.
Das Wort «Angst» hat die Grundbedeutung «würgen» und ist mit dem lateinischen Wort «angustia» verwandt, das «Enge» bedeutet.
Das Leben treibt uns immer wieder einmal in die Enge. Dann können wir würgende Angst empfinden und stehen vor der Wahl zwischen Vertrauen und Furcht.
Das Vertrauen sagt, «Auch dies gehört zum Leben», erkennt die Gefahr und geht so ruhig wie möglich mit ihr um.
Im Gegensatz dazu gerät die Furcht in Panik und verschwendet ihre Energie daran, sich gegen die Angst zu sträuben: aus Furcht stellen wir unsre Widerstandsborsten auf ‒ und bleiben dadurch in der Enge stecken.
Wir dürfen aber dem Leben vertrauen; es wird uns schon irgendwie durch den Engpass durchbringen.
Wir sind ja auch durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen. Und jede noch so beängstigende Enge unsres Lebensweges kann zu einer neuen Geburt führen.
Im Rückspiegel unsres Lebens können wir sehen, dass aus Schicksalsschlägen, die uns erst große Angst bereiteten, dann doch ganz unerwartet gutes Neues geboren wurde.
Wir können, rückblickend auf solche Erfahrungen, Mut schöpfen, wenn unser Blick nach vorne keinen Ausweg erspähen kann.
Letztendlich läuft alles darauf hinaus, entweder darauf zu bestehen, dass das Leben so sein müsste, wie wir es uns wünschen, oder uns der Strömung des Lebens, wie es ist, anzuvertrauen ‒ nicht aber willenlos wie Treibholz, sondern wie Fische, die mit jeder Bewegung hellwach der Strömung antworten. [Orientierung finden (2021), 74f.]
(Video 39:31) Frage: «Wie erkenne ich, ob ich jetzt in Angst bin oder in Furcht?»
Bruder David: «Furcht sagt ‹Nein›, Furcht sagt immer ‹Nein›! ‒ ‹Nein, Nein, Nein, das will ich nicht›!
Angst sagt ein oft sehr zaghaftes ‹Ja›, aber doch ‹Ja ‒ es wird schon gehen ‒ es wird schon gehen› ‒ mindestens: Es ist ein Ausdruck des Vertrauens.
Den Unterschied fühlt man schon selber:
Sage ich jetzt mehr ‹Ja›, oder mehr ‹Nein› in diesem Augenblick?
Und wenn ich finde, dass ich mehr ‹Nein› als ‹Ja› sage, dann ist es Zeit zu sagen:
‹Erinnere dich doch! Du warst schon in so ähnlichen Situationen. Sträuben hilft nichts. Vertrauen bringt dich durch und kommt was Besseres heraus›.
Sich daran zu erinnern ist wichtig.» [Bruder David im Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages]
(Videointerview 26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:
Aus der Furcht ‒ Furcht vor den Andern: Fremdenfurcht und Furcht, wir können es nicht bewältigen ‒ das ist ja auch eine Furcht ‒, sträubt man sich.
Die Angst ‒ ‹Wie sollen wir mit so Vielen auskommen, wie können wir das lösen?› ‒ diese Angst ist ganz verständlich, die sollten wir auch anerkennen.
Und zu behaupten: ‹Ich habe keine Angst›: Das ist auch nur eine Form, sich gegen die Angst zu sträuben, das ist auch Furcht.
Aber zuzugeben: ‹Ja, das ist wirklich beängstigend›, und dann zu sagen:
‹Aber das Leben hat uns in diese Situation gebracht, das Leben wird uns auch schöpferische Wege zeigen, mit dieser Situation umzugehen›:
Das ist schon der Ansatzpunkt, das ist schon ein ganz anderer Ansatzpunkt, der Kreativität erlaubt.
Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒
‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›
Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der früher oder später die Lösung sich entwickelt.
Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:
‹Was können wir da machen?›
Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.
… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …» [Videointerview mit Bruder David von Ramon Pachernegg (2017), siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. FURCHT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 138:
«Furcht ist unser willkürliches Sträuben gegen unwillkürliche Angst. Auf den ersten Blick erscheint uns dieses Sträuben so selbstverständlich, dass wir es als unwillkürlich einschätzen.
Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass Angst unumgänglich ist, Furcht uns aber freisteht.
Zwar stimmt es, dass Angst spontane Körperveränderungen auslöst, die Lebewesen zu Kampf- oder Fluchtreaktionen bereitmachen. Kampf bezieht sich hier aber auf die Abwehr der Gefahr, nicht auf den Kampf gegen Angst, wie die Furcht es ist.
Durch Übung unsres Lebensvertrauens können wir lernen, Furcht gar nicht erst aufkommen zu lassen, wenn uns Angst ergreift.
Furcht bleibt in der Angst stecken und kann leicht zu Panikreaktionen führen. Eine furchtlose Lebenshaltung hingegen ermöglicht uns besonnenes und nüchternes Verhalten in beängstigenden Lagen und trägt viel dazu bei, diese zu bewältigen.»
2. Audio Christliche Spiritualität für die Gegenwart (2023): Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün und Johannes Kaup
Teil 2: Wer bin ich? ‒ Die Entdeckung des Selbst über Kontemplation:
(16:58) Hilfreich ist, Angst und Furcht zu unterscheiden
3. Weitere Texte
3.1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:
«Die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht, die ich bei Ihrer Frage über Angst vor dem Tod angesprochen habe, kann jungen Menschen helfen. Die Lebensangst der Jungen entspricht der Todesangst der Alten.
Für beide gilt: Furcht sträubt sich gegen die Angst, stellt die Borsten auf, und bleibt so in der beängstigenden Enge stecken.
Wenn wir aber mutig auf die Angst zugehen und sie durchstehen, dann führt uns das Leben in ungeahnte, neue Weiten.
Dieses Erlebnis stärkt, wie kaum sonst etwas, unseren Lebensmut, aber in der Jugend haben wir vielleicht noch nicht bewusst diese Erfahrung gemacht. Wir brauchen Ältere, die uns darauf hinweisen – Lehrer.»
3.2. Von Augenblick zu Augenblick (2019): Interview mit Bruder David von Ester Platzer:
«Furcht ist das Gegenteil von Vertrauen und Glauben. Sie wird oft mit Angst verwechselt. Angst ist aber im Leben unvermeidlich. Wenn wir Angst haben, fühlen wir uns beengt. Es gibt jedoch die Möglichkeit, sich vor der Enge nicht zu fürchten und vertrauensvoll in diese hineinzugehen. Furcht fühlt sich an, als würde man Widerstand leisten, da stellt man die Borsten auf und bleibt stecken. Wenn man jedoch vertrauensvoll in eine beängstigende Situation hineingeht, kommt man auf der anderen Seite mit neuer Stärke hinaus.»
«Spiritualität ist Vertrauen ins Leben und damit das genaue Gegenteil von Lebensfurcht. Denn sich vor dem Leben zu fürchten, bedeutet auch, sich gegen das Leben zu sträuben. Der Dialog mit dem Leben ist letztlich also immer ein Dialog mit Gott.»
«Wenn wir ins Leben vertrauen, dann haben wir auch keine Furcht vor dem Tod oder dem Sterben. Der Tod gehört zum Leben dazu. Heutzutage ist das Sterben meistens verbunden mit Dingen, für die wir nicht dankbar sein können. Oft findet eine Entpersonalisierung statt, man wird einfach zu einer Nummer in einem Spital. Sterben gehört aber einfach zum Leben dazu, auch der letzte Augenblick wird nur ein Augenblick.»]
Fürchte Dich nicht
Interviews, Video, Text, und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Eine der wichtigsten Unterscheidungen, auf die ich immer wieder hinweisen muss, ist die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht.
Angst ist unvermeidlich, besonders wenn wir es mit großen Gefahren wie dem Virus zu tun haben.
Sich fürchten heißt, sich gegen die Angst zu sträuben.
Das ist nutzlose Verschwendung von unserer Energie. Das können wir uns nicht leisten. Wir benötigen gerade bei hoher Gefährdung all unsere Energie, um konstruktiv mit der Gefahr umgehen zu können.
Wenn man mir sagt: ‹Hab‘ keine Angst!›, dann bemerke ich oft erst, dass reichlich Grund für Angst vorhanden ist.
‹Fürchte dich nicht!› ist etwas ganz anderes.
Je grösser die Angst, umso grösser der Mut, der sie furchtlos durchzustehen wagt.
Jede Gefahr fordert uns heraus, furchtlos durch die Enge unserer Angst hindurchzugehen, wie wir ja schon bei unserer Geburt die Enge des Geburtskanals überstehen müssen.
Durch Mut werden wir zwar die Angst nicht los, aber die Furcht bleibt uns erspart. Wir vertrauen auf etwas, das sich durch Lebenserfahrung immer wieder bewahrheitet:
Angst ist ein Tunnel, an dessen Ausgang uns eine neue Geburt bevorsteht.
Wenn wir heute mutig mit der Gefahr der Pandemie umgehen, dann ist noch gar nicht abzusehen, wieviel gutes Neues wir gemeinsam daraus machen können.
Der dringende Rat also, den ich Menschen mitgeben möchte, die sich vor dem Virus fürchten ist dieser:
‹Fürchte dich nicht!›
In der Bibel soll dieser Aufruf 365mal vorkommen. Ich hab’s nicht nachgezählt, aber es kann nicht schaden, uns an jedem Tag des Jahres mindestens einmal zuzurufen:
‹Fürchte dich nicht!›»
[Worum sich letzlich alles dreht: Bruder David im Interview vom Tyrolia Verlag kurz vor seinem 95. Geburtstag am 12. Juli 2021]
(Videointerview 34:44) «Mein innigster persönlicher Wunsch ist eigentlich, inmitten aller Angst die Furcht in mir selber zu überwinden und andern Menschen zu helfen, sich nicht zu fürchten.
Denn alles, was schief geht, entspringt dieser Furcht. Und wenn man zu Menschen freundlich ist – richtig freundlich sein –, dann nimmt man ihnen irgendwie die Furcht weg.
Die Angst kann man niemandem wegnehmen, nur die Furcht:
‹Sträube dich nicht!›
Und darum kommt es mir sehr viel drauf an, freundlich zu sein.
Ich hoffe immer, wenn ich in der Früh die Augen aufschlage, dass ich heute einmal Gelegenheit habe, wirklich jemandem was recht Liebes zu tun, was sie freut.
Und wenn wir uns freuen, bricht dieser Sträube-Mechanismus irgendwie zusammen und dann fürchten wir uns nicht.
Das ist schon der wichtigste Satz:
‹Fürchte dich nicht!›
Und den möchte ich selber verwirklichen und Andern dazu helfen.» [Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription]
[Ergänzend:
1. Jeder Mensch ist zutiefst darauf angelegt Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:
«Sterben gehört ebenso zum Leben, wie Geborenwerden. Deshalb habe ich keine Angst vor dem Tod als solchem. Wenn der Apfel reif ist, fällt er ab vom Baum. Ausreifen zu dürfen ist ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, auch jetzt noch dazulernen zu dürfen im hohen Alter.
Was mir Angst macht, ist das Drum und Dran beim Sterben – das Kranksein, das ja meist dazugehört, vielleicht Schmerzen und jedenfalls der zunehmende Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der schon jetzt beginnt.
Aber ich weiß aus Erfahrung, dass wir uns nicht fürchten müssen vor den Engpässen, durch die das Leben uns führt. Furcht sträubt sich gegen die Angst und bleibt dadurch in der Enge stecken.
Wenn wir aber unsere Angst zulassen und vertrauensvoll auf sie zugehen, dann führt das Leben uns hindurch, wie durch einen engen Geburtskanal. Wir können uns in diesem Vertrauen üben. Das ist eine gute Vorbereitung auf den Tod.»
2.1. Musik der Stille (2023): 129, 131, 136f.
«Wir haben Schwierigkeiten, uns die Angst vor der Nacht vorzustellen, unter der Menschen früherer Jahrhunderte litten. Wir machen einfach Licht, und die Dunkelheit ist weg. Aber wir wissen, wie Kinder unwillkürlich Angst vor der Dunkelheit haben, und manchmal überkommt auch uns die Angst, von der Schwärze verschluckt zu werden, wenn etwa der Strom ausfällt oder uns die Dunkelheit bei einer Wanderung in einer unwegsamen Gegend überrascht.
Im Wesentlichen ist unsere Furcht vor der Dunkelheit die Furcht vor dem Unbekannten. Und genauso, wie wir die äußere Dunkelheit fürchten, fürchten wir auch die Dunkelheit in den verborgenen Winkeln unserer Seele.
Die Furcht ist der Maßstab des Glaubens.
Furcht an sich ist nichts, solange ihr der Glaube um eine Nasenlänge voraus ist.
Je größer die Furcht, desto herrlicher der Mut des Glaubens, der sie überwindet.
Wenn wir die Höhen des Glaubens erklimmen wollen, müssen wir unsere Ängste geradewegs anschauen und sie auf die einfache, aber direkte Frage zurückführen:
‹Was macht mir eigentlich Angst›?
Wenn wir diese Frage stellen, geben wir unseren Ängsten Gestalt und definieren sie, und das nimmt ihnen die Macht. Alpträume üben nur so lange Macht über uns aus, wie sie undefiniert bleiben.»
2.2. Musik der Stille (2015): 134-136
«Das zentrale biblische Thema vom Reich Gottes ist ein Archetyp für die Welt, wie Gott sie wollte: ein Ort, an dem wir daheim sind und uns als Mitschöpfer betätigen. Wenn wir uns diesem Zugehörigkeitsgefühl zum Universum anvertrauen, geht alles gut, und wenn uns das Schlimmste zustößt, können wir sogar darin einen Sinn sehen.
Wenn wir jedoch dieses Vertrauen nicht haben und unserer Ängstlichkeit nachgeben, dann ist das Schlimmste bereits geschehen. Dann machen wir uns zu existentiellen Waisen in einer fremden Welt.
Letztlich haben wir die Wahl, im Universum zu leben und das Universum als das Zuhause anzusehen, das Gott für uns geschaffen hat, oder in Angst und Misstrauen zu leben.
Wir müssen uns entscheiden.
Das ist die wichtigste Entscheidung, die wir jeden Tag, den wir verleben, zu treffen haben. Wenn wir vertrauen, sind wir in Frieden; wenn nicht, werden wir es nie sein.
Eines jeden Herz stellt der Nacht diese Frage: Bin ich sicher und geliebt?
Wir müssen sie jedem, vor allem unsern Kindern vermitteln.
Wenn wir aufwachen, ohne dass irgendjemand uns diese Sicherheit vermittelt, dann ist es schwierig, überhaupt je in dieser Welt heimisch zu werden.
Jeder kennt solche unglücklichen Menschen, die nie Sicherheit und Liebe erfahren haben. Wenn uns niemand hilft, das Universum als unser göttliches Zuhause zu erfahren, dann sind wir alle, um eine eindrucksvolle Wendung Robert Heinleins zu gebrauchen, ‹Fremde in einem fremden Land.›»
3.1. Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010): Im Oktober 2010 stellte Bruder David sein neues Buch «Credo: Ein Glaube, der alle verbindet» vor in Vorträgen in Freiburg im Breisgau, München und Wien. In diesen Vorträgen spricht Bruder David davon, dass unsere Vorurteile schwinden, je furchtloser wir uns Andern nähern:
Audio-Fokus aus dem Vortrag in München / (27:27) «‹Fürchte dich nicht› ‒ mein liebstes Bibelwort»
3.2. Audio-Fokus aus dem Vortrag 2010 ‒ Fragen in Wendezeiten ‒ Mut und Vertrauen finden ‒ Fragerunde / (37:41) «‹Fürchte dich nicht› ‒ auch vor der Hölle nicht»]
Geben und Nehmen
Text und Audio-Vortrag von Br. David Steindl-Rast OSB
Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen.
Leben aber ist Geben-und-Nehmen, nicht Geben oder Nehmen. Krampfhaftes Luftschnappen ist eine Sache, natürliches Atmen eine andere.
Wenn wir Luft holen, dann nehmen wir uns die Lungen voll, wenn wir wieder ausatmen, dann geben wir die Luft wieder her.
Diese Balance zwischen Geben und Nehmen ist der Schlüssel für ein gesundes Leben. Tatsächlich ist Balance ein zu mechanisches Wort, um es auf die innige Verwobenheit dieses Gebens-und-Nehmens anzuwenden. Es handelt sich ja hier um ein Geben im Nehmen und ein Nehmen im Geben.
Ist das einmal klar, dann müssen wir nicht länger betonen, dass es hier nicht darum geht, Geben und Nehmen gegeneinander auszuspielen. Ganz und gar nicht. Wir stellen hier ein lebenspendendes Geben-und-Nehmen einem bloßen Nehmen gegenüber, das ebenso tödlich ist wie bloßes Geben. Es spielt kaum eine Rolle, ob du nur einatmest und dann die Luft anhältst, oder ob du nur ausatmest und es dabei bewenden lässt. In beiden Fällen bist du tot.
Die meisten von uns benötigen ziemlich viel Ermunterung zum Geben. So wie wir gebaut sind (oder vielmehr durch unsere Gesellschaft in eine verbogene Form gepresst wurden), fällt uns das Nehmen mehr als leicht.
Es könnte sich als guter Test erweisen, wenn du eine halbe Stunde lang darauf achtest, wie häufig du «ich nehme» und wie oft du «ich gebe» sagst.
Unsere Sprache verrät uns: Ich nehme Unterricht, ich nehme mir frei, ich nehme mir ein Zimmer, ich nehme mir ein Taxi, ich nehme mir die Freiheit, ich nehme mir das Recht, ich nehme ein Bad, ich nehme einen Drink, ich nehme Urlaub, ich nehme, nehme, nehme, und wenn ich schließlich müde bin von all dem Nehmen, dann genehmige ich mir ein Schläfchen.
Zumindest versuche ich das, bis ich herausfinde, dass ich kaum einschlafen werde, bis ich mich jenem Schläfchen hingebe und es dem Schläfchen gestatte mich zu nehmen.
Und doch sind einige von uns dermaßen auf das Nehmen ausgerichtet, so unfähig, sich selbst zu geben, dass wir uns mit Schlaftabletten außer Gefecht setzen müssen, damit das arme Schläfchen eine Chance bekommt uns zu nehmen.
[FN 1) 62f.; 2-5) 64f.; 6) 66f.]
[Ergänzend:
1. Der Mönch in uns (1978):
«Wenn wir uns dem Sinn hingeben, dann müssen wir uns völlig geben, und wir wissen ja, wie schwierig es für uns ist, uns völlig hinzugeben. Wenn Sie daran zweifeln, dann beobachten Sie einmal Ihre Sprache, und stellen Sie fest, wie oft Sie täglich idiomatische Redewendungen gebrauchen, die die Bedeutung haben: ‹Ich nehme dies› und ‹Ich nehme das›. Wir haben keine Redewendung, die bedeutet: ‹Ich gebe mich etwas hin›. Wir nehmen an einem Kurs teil, an einem Examen, wir nehmen eine Tablette, eine Mahlzeit, ein Bad, wir nehmen Platz und nehmen alles Mögliche, was man überhaupt nicht nehmen kann ‒ einen Mann, eine Frau, einen Mittagsschlaf. (Wenn Sie jemals versucht haben, einen Mittagsschlaf zu ‹nehmen›, dann war es der sicherste Weg in die Schlaflosigkeit. Aber sobald man sich dem Mittagsschlaf hingibt, schläft man auch schon).»
2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
Bruder David: «Es gibt ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer ‹Der römische Brunnen›. Da ist das alles drinnen»:
«Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.»
Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille: Geleitwort und Epilog, in: Michael Fischer (Hrsg.): «Buch der Ruhe und der Stille: Inspirationen aus dem Geist der Klöster», Freiburg / Basel / Wien, Herder 2003, 183f.
«Der Kreislauf, in dem alles Gegebene als Dank zum Ursprung zurückkehrt ‒ der Kreislauf, in dem das Schweigen Wort wird und im Verstehen zurückkehrt ins Schweigen ‒ findet ein dichterisches Bild in den Marmorschalen von Conrad Ferdinand Meyers römischem Brunnen»:
«… und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.»
3. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(3. Juni 2011) Demut ‒ Der Weg zum Gipfel:
(28:28) Rohr oder Flasche: zwei Weisen zu leiten ‒ ,Und strömt und ruht‘ (C. F. Meyer, der römische Brunnen): geben und nehmen am Beispiel der Fußwaschung Jesu]
Gebet ‒ drei Innenwelten
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Gebet im Unterschied zu Gebeten
Der Rosenkranz, der «Engel des Herrn» und das Jesusgebet ‒ das sind einige der Gebete, die ich am nährendsten finde. Es sind bei Weitem nicht die einzigen, sondern eben nur diejenigen, die sich am leichtesten beschreiben lassen. Wie könnte ich jemals richtig damit anfangen, Ihnen zu erklären, was mir die monastischen Stundengebete bedeuten? …
Aber wir sind dann immer noch im Bereich des formellen Gebets und das formelle Gebet ist wie ein kleiner Eimer, aus dem ein Kleinkind immer und immer wieder ein bisschen etwas aus dem Meer des Gebets herausschöpft und ausgießt.
Der schwarze Humus, in dem das formelle Gebet gedeiht, ist die informelle Gebetshaltung. Die (formellen) Gebete lassen sich vom (informellen) Gebet zwar nicht trennen, aber wir müssen zwischen beiden unterscheiden und uns für einen Augenblick auf das Gebet als innere Einstellung konzentrieren, statt es als äußerliche Gebetsform zu betrachten.
Wenn ich das tue, stelle ich fest, dass ich in drei Gebetshaltungen hinein- und wieder herausgerate, die derart verschieden voneinander sind, dass ich sie als völlig unterschiedliche Gebetswelten empfinde.
«Wort» ‒ der Schlüssel zum Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Meinen Schlüssel zur ersten dieser inneren Welten nenne ich «Wort».
Damit meine ich nicht ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte, sondern die Entdeckung, dass jedes Ding, jeder Mensch und jeder Umstand, ein von Gott an mich gerichtetes Wort ist.
Dessen Botschaft begreife ich durchaus nicht immer, aber ich weiß, dass ich sie erfasse, wenn ich mit den Ohren meines Herzens wirklich intensiv darauf höre.
Der heilige Benedikt bezeichnete dieses tiefe, bereitwillige Hören als «Gehorsam».
Wir verstehen unter Gehorsam oft nur das Gefügigsein gegenüber einem Befehl. Aber damit würden wir Gott zu einer Art von überdrehtem Feldwebel machen, der ständig seine Kommandos brüllt. Meiner Erfahrung nach erteilt Gott die meiste Zeit keine Befehle.
Gott singt eher und ich antworte ihm mit Singen.
Das Singen, das ich meine, kann so jubelnd sein wie das Rot einer von Gott gemachten Tomate oder das Sirren eines Drachenfliegers oder das Plantschen von Kindern in einem Becken.
Das Singen ist die fröhliche Antwort meines Herzens.
Aber Gottes Singen kann auch so schwer wie der Duft der Lilien in einem Leichenhaus sein, so schwer wie die Nachricht von der Trauer eines Freundes.
Gottes Singen kann so leicht sein wie Harfenmusik oder ein Frühjahrsausflug, so traurig wie das Heulen eines Nachtzugs oder der Inhalt der Abendnachrichten.
Es kann fröhlich, bezaubernd, herausfordernd, amüsierend sein.
Wenn wir aufmerksam genug hinhören, können wir in allem, was wir erfahren, Gott singen hören.
Unser Herz ist ein hochempfindlicher Empfänger; es kann mittels aller unserer Sinne horchen.
Was immer wir hören, aber auch alles, was wir sehen, schmecken, berühren oder riechen, vibriert im Tiefsten im Einklang mit Gottes Lied.
Wenn man in dieses Lied mit Dankbarkeit einstimmt, nenne ich das ein Zurücksingen.
Diese Gebetshaltung hat allen meinen Sinnen und meinem Herzen schon viel Freude gemacht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 14-16]
Die biblische Dimension im Gebet «Vom Worte Gottes leben»
Wo das Wort so zentral ist, wird der Antwort eine große Bedeutung zugemessen:
Von daher wird in der abendländischen Tradition der Spiritualität die Antwort so betont. Das «Leben mit dem Wort» stellt eine ganze Welt des Gebets dar, das typischerweise dem biblischen Glauben an Gott entspringt, der spricht.
Und die Aufgabe, «mit dem Wort zu leben», impliziert viel mehr als bloß die Vorstellung, dass Gott sein Wort im Sinn eines Befehls spricht, den der gläubige Mensch dann ausführt.
Die volle religiöse Dimension impliziert, dass wir «von jedem Wort leben, das aus Gottes Mund kommt».
Aber wir sollten hier das Wort auch in seinem weitesten Sinn verstehen.
Da alles und jeder Mensch und jeder Umstand von dem Gott, der spricht, stammen, ist die ganze Welt Wort, von dem wir leben können.
Wir brauchen nur zu «kosten und sehen, wie gut Gott ist».
Das tun wir mit allen unseren Sinnen.
Mit allem, was wir schmecken oder berühren, riechen, hören oder sehen, kann Gottes Liebe uns nähren.
Denn das eine erschaffende und erlösende Wort[1] wird uns immer wieder auf neue Weisen zugesprochen.
Gott, der die Liebe ist, hat in alle Ewigkeit nichts anderes zu sagen als «Ich liebe dich!»
Gott sagt das auf immer neue Weisen durch alles, was ins Sein kommt. Wir aber «essen das alles auf»; oder wie wir von einem Buch sagen: «Ich habe es geradezu verschlungen, von Anfang bis Ende!»
Wir assimilieren diese Nahrung und sie wird unser Leben.
Wir leben aus ihrer Kraft. Wir werden Wort. [Auf dem Weg der Stille (2016), 32f.]
Schweigen ‒ der Schlüssel zum Gebet der Stille
Eine vollkommen andere innere Welt des Gebets, in der ich mich auch daheim fühle, ist die, zu der das Schweigen die Tür öffnet ‒ das nicht nur von den Ohren wahrgenommene Schweigen, sondern auch die Stille des Herzens, das lichtvolle innere Stillsein, das der Stille eines windstillen Tages mitten im Winter gleicht.
Dieses Schweigen glänzt wie jungfräulicher Schnee im Sonnenlicht.
Das ist dann wie an Tagen, an die ich mich noch aus meiner Kindheit in den österreichischen Alpen erinnere.
Oder es ist wie das Schweigen zwischen einem aufzuckenden Blitz und dem auf ihn folgenden Donnergrollen, also in der kurzen Zeit, in der man den Atem anhält.
Auf einer Insel in Maine in Neuengland fand ich einmal an der Granitküste kleine Gezeitentümpel, in denen das Wasser so still und klar stand, dass ich auf ihrem Grund die feinen, wie festliche Wimpel wehenden Fasern von Seeanemonen sehen konnte.
Noch viel durchsichtiger ist der innere Raum, den das Schweigen erschließt.
Den Schlüssel dazu finde ich nicht immer, aber wenn, dann trete ich einfach ein.
Schon das bloße Darinsein ist Gebet. [Auf dem Weg der Stille (2016), 16f.]
Die buddhistische Dimension im «Gebet der Stille»
Die Betonung des Wortes ist in der christlichen Spiritualität sehr stark. Deswegen sind sich sogar manche gläubige Christen kaum dessen bewusst, dass es innerhalb ihrer eigenen Tradition auch noch andere Gebetswelten zu erkunden gibt.
Eine von ihnen ist als das «Schweigegebet» bekannt.
Dabei wird das Schweigen selbst für uns zum Gebet.
C. S. Lewis war im Einklang mit der altchristlichen Tradition, als er von Gott als einem ‹Abgrund des Schweigens› sprach, in den hinein wir immer und immer wieder unser ganzes Denken werfen können und nie ein Echo zurückkommen hören werden.
Aber dieser schweigende Abgrund ist paradoxerweise zugleich auch der göttliche Schoß, aus dem das ewige Wort hervorkommt.
Ein frühchristliches Sprichwort bringt das so zum Ausdruck:
«Wer Gottes Wort zu hören vermag, kann auch Gottes Schweigen hören.»
Beides ist untrennbar verbunden.
Heute gibt es immer mehr Christen, die von sich aus das Schweigegebet entdecken. Zuweilen können sie sich ihren Hunger nach Schweigen gar nicht richtig erklären, diesen tiefen Wunsch danach, sich einfach in die stille Tiefe Gottes hineinsinken zu lassen.
Sie sind sich gar nicht dessen bewusst, dass sie von allein ihren Weg in einen uralten, zeitlos gültigen Bereich des christlichen Gebets gefunden haben.
Sie würden sich noch mehr wundern, wenn sie erfahren würden, dass sich dieser Bereich tatsächlich als die buddhistische Dimension der biblischen Tradition bezeichnen lässt. Dabei sind das Wort und das Schweigen, wie bereits erwähnt, untrennbar miteinander verbunden. [Auf dem Weg der Stille (2016), 33f.]
Verstehen im Tun ‒ der Schlüssel zum Gebet Kontemplation im Handeln
Der Schlüssel zu einer dritten Innenwelt ist das Tun, das liebevolle Tun.
Der Unterschied zwischen dem Gebet des Tätigseins, und diesem Schweigen oder Wort ist tatsächlich riesig.
Hier bin ich mit Gott nicht durch Hören und Antworten und auch nicht durch Eintauchen ins Schweigen in Kontakt, sondern durch Tätigsein.
Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden.
Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.
Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.
Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin.
Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Video ansehe.
Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen.
Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]
Die hinduistische Dimension im Gebet «Kontemplation im Handeln»
Genau wie man das Stillegebet als die buddhistische Dimension der christlichen Spiritualität bezeichnen kann, so lässt sich die Kontemplation im Handeln als deren hinduistische Dimension bezeichnen.
Zugegeben, dies alles stelle ich aus meiner eigenen Sicht vor, die christlich ist. Aber welche andere Wahl hätte ich denn?
Würde ich versuchen, völlig von meiner eigenen religiösen Sinnsuche abzusehen, so würde ich die Berührung mit genau der Wirklichkeit verlieren, die ich genauer erkunden möchte.
Ich wäre dann wie der Junge, der seinen Zahn in die Hand nimmt, nachdem ihn der Zahnarzt gezogen hat, etwas Zucker darauf streut und abwartet, wie das wehtut. Schmerz kann man nicht von außen her verstehen und genauso wenig Freude, Leben oder Religion.
Es ist nichts Falsches daran, wenn man vom Inneren einer Tradition her spricht, solange man nicht seine eigene Sichtweise verabsolutiert, sondern diese in ihrer Beziehung zu allen anderen sieht. [Auf dem Weg der Stille (2016), 39f.]
[Ergänzend:
1. Video: Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:
«Beten ist wie in einen Raum eintreten.»
«Die drei Bereiche: Wort, Schweigen und Verstehen machen die Welten des Gebetes aus. Und das hängt zusammen mit dem, was Christen die Dreieinigkeit Gottes nennen.»
2. Audios:
2.1. Audio-Vortrag Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(16:10) Drei Welten des Gebetes: Das Gebet der Stille – ‚Vom Wort Gottes leben‘ – ‚Contemplatio in actione
2.2. Audio-Vortrag: Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (2010), sowie: Mitschrift, 9f.:
(48:28) «Und wir haben in unserer westlichen Tradition, diese drei Wege, uns mit dem Göttlichen auseinanderzusetzen, in den drei großen Welten des Gebetes.
Da gibt es das Gebet der Stille:
Da lassen wir uns einfach nur hinab, in die Tiefe, in die Tiefe des Schweigens.
Das ist unsere westliche Art des Buddhismus. Denn im Buddhismus geht alles um das Schweigen. Wir können uns das schwer vorstellen, aber wer Buddhismus studiert, findet, dass im Buddhismus das Schweigen so wichtig ist wie bei uns das Wort.
(49:14) Und dann haben wir die ‹Amen-Traditionen› das Judentum, das Christentum und den Islam. Ich nenne sie ‹Amen-Traditionen›, weil die das Wort ‹Amen› alle gemeinsam haben.
Das ist sehr wichtig, denn Amen ist die Antwort auf die ‹Amunah› Gottes, und die ‹Amunah› Gottes ist die Verlässlichkeit. Amen ist der letzte tiefste Ausdruck des Glaubens:
‹Wir verlassen uns› ‒schön ausgedrückt im Deutschen ‒, ‹auf die Verlässlichkeit Gottes›, auf die ‹Amunah›.
Das Gebet, das für diese Traditionen gilt, ist: ‹Vom Worte Gottes leben›.
Jedes Wort Gottes ist lebensspendend.
Alles, was es gibt, ist Wort Gottes.
Und jeder von uns ist ein Wort Gottes, ein ganz einzigartiges Wort Gottes. Und wir unterscheiden uns von den anderen Worten Gottes dadurch, dass wir erst das Wort Gottes werden müssen. Durch unsere eigene Hingabe.
Ein Hund spricht immer gütig, liebend ein vollkommenes Wort Gottes.
Derjenige, der den Hund an der Leine führt, muss erst dieses Wort Gottes werden.
Da können uns die Hunde viel lehren. Auch die Katzen übrigens und die Kühe. Wir können sehr viel von den Tieren lernen.
Wir müssen das Wort werden:
Das ist eine weitere Welt des Gebetes: ‹Vom Wort Gottes leben›.
(50:54) Und das dritte heißt traditionell ‹Contemplatio in actione›, das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun.
So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, Gottes Lebendigkeit, Gottes Schöpferkraft durch uns durchfließt.
Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten.
Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.
Und so wie das Gebet der Stille uns mit den Buddhisten verbindet, so verbindet uns, das Gebet: ‹Vom Wort Gottes leben›, mit den anderen ‹Amen-Traditionen›, mit den Juden und mit den Muslimen. Und die ‹Contemplatio in actione›, mit dem Hinduismus.
2.3. Audio-Vortrag Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(28:29) Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen in drei Gebetsformen: ‚Vom Worte Gottes leben‘: Wir selber sind Wort Gottes, ausgesprochen und angesprochen und müssen das werden, was wir sind / (31:08) Das Gebet der Stille und Gott im Tun finden (‚Contemplatio in actione‘) / (33:10) Die drei Bereiche der Sinnsuche, die drei Ausformungen der Religionen und die drei Gebetsformen eröffnen ein nachvollziehbares Verständnis des dreifaltigen Gottes in der Praxis dankbaren Lebens im Unterschied zum Pantheismus.
2.4. Audio-Vortrag Begegnung der Religionen (1993):
Vortrag:
(47:55) Die Traditionen schließen einander ein: Man kann nicht Christ sein ohne zugleich auch Buddhist und Hindu zu sein – Wie die Religionen einander ergänzen: Das ist es in drei verschiedenen Betonungen – Gott verstehen als den Unerkenntlichen (Dionysius Areopagita).
3. Weitere Texte:
3.1. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 67-78, 79-80:
In diesem Seminar geht Bruder David ebenfalls auf die drei Innenräume des Gebetes ein und setzt das Gebet der Stille in Beziehung zum Glauben, das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Beziehung zur Hoffnung und Kontemplation im Handeln in Beziehung zur Liebe.
3.2. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
«Dazu muss man zunächst auf die drei großen Welten des Gebetes hinweisen, die es in der christlichen Tradition gibt:
Das Gebet der Stille, von dem C.S. Lewis sagt, ‹wenn wir unsere Gedanken immer und ewig in diesen Abgrund der Stille hinabwerfen, der Gott ist, werden wir nie ein Echo zurückhören›. Das ist das Gebet der Stille, nichts darüber zu sagen. Aber eine ganze Welt des Gebets in der christlichen Tradition, eine ganz wichtige.
Die zweite ist, vom Worte Gottes leben, die Liebe Gottes durch alles zu erfahren, das ist vom Wort Gottes leben.
Und das dritte ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
Stillehalten Das Gebet der Stille in Beziehung zu Hoffnung
Kontemplation im Handeln in Beziehung zu Liebe
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67
In diesem Vortrag geht Bruder David grundlegend ein auf die drei Dimensionen Wort ‒ Schweigen ‒ Verstehen im Tun in denen wir Sinn erfahren. Bruder David führt uns ein in eine Gesamtschau, mit der wir die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten aller religiösen Traditionen erfassen können.
Die Gesamtschau, die Bruder David eröffnet, weitet unser Beten in einen Resonanzraum mit der Menschheit zu allen Zeiten und Religionen weltweit. Der Blick auf die Unterschiede und das Verbindende der Religionen weitet, vertieft und stärkt unser eigenes Beten.
Bruder Davids Gesamtschau weitet uns selber: wir spüren, wie sehr unser Durst nach Sinn uns in diese drei Erfahrungsräume zieht und wir aus ihrer Weite und Kraft leben wollen. Und in diesem Spüren werden unsere Gebete zum Gebet, nach dem wir uns sehnen.
Bruder David schließt mit den Worten: «Um Offenbarung zu verstehen, müssen wir in die Offenbarung eintreten; müssen dem Logos als Anführer des Reigens[2] folgen; müssen uns in liebender Ergriffenheit durch das Wort in das Schweigen führen lassen und aus dem Schweigen heraus gehorsam werden. Unser Thema geht über bloß akademisches Bemühen weit hinaus. Um im Wort der Offenbarung Sinn zu finden, müssen wir etwas tun ‒ das Wichtigste und zugleich das Schwerste ‒: uns dem Wort des Lebens stellen und ‒ mittanzen.»
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben.› Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)
«In Dankbarkeit vom Worte Gottes leben, das ist bei weitem die am vielfältigsten gepflegte Form unseres Gebetes in der biblischen Tradition. Aber es gibt auch bei uns, und darauf haben wir im Bezug auf den Buddhismus hingewiesen, das Gebet der Stille, das Sich-Versenken ins Mysterium. Buddhisten erkennen sehr gut, dass das Gebet der Stille in der christlichen Tradition unsere buddhistische Dimension sei. Sie sagen etwa von Johannes vom Kreuz: Das ist ein Buddhist! ‒ Warum auch nicht?
Nun kommt aber zu diesem Gebet der Stille und zu dem ‹Vom Worte Gottes leben› die meditatio in actione, das Gott im Tun finden hinzu. Diese drei sind ja gar nicht voneinander zu trennen.
Weil unser Gebetsleben Teilnahme ist am Leben des dreieinigen Gottes, sind diese drei Dimensionen bei aller möglichen Unterschiedlichkeit der Akzentsetzung untrennbar miteinander verbunden in unserem Gebet.
Nur so kann unser Herz in Wort, Schweigen und Verstehen[3] jenen tiefsten Sinn finden, nach dem es so dürstet.
Nur so können wir eintreten in das Geheimnis des lebendigen Gottes, von dem Paulus sagt, dass wir in ihm leben, uns bewegen und sind.» (56f.)]
______________________
[1] Martin Buber in der Erzählung von Rabbi Sussja
[2] «Das ist es, was die griechischen Kirchenväter den großen Reigentanz der Dreifaltigkeit nannten. Vielleicht ist dieses Bild des Tanzes das Sinnbild, das auf unsere Frage nach dem letzten Sinn antwortet, wenn alle anderen Antworten versagen. Alles, was es gibt, ist aufgenommen in diesen Tanz, der sich spielerisch in immer neuen Formen entfaltet. Tanz ist Fülle des Lebens, Feier, in der des Lebens Sinn zu sich selbst kommt: Ringelreihen, Hochzeitstanz, Totentanz, Reigen der Seligen im Paradies, großer Rundtanz des Lebens. Und der Logos war schon für die frühen Kirchenväter Vortänzer, Anführer im großen Tanz. Hier liegt die Vorrangstellung der Offenbarungstradition im Gefüge der religiösen Traditionen: Vorrangstellung hinsichtlich des Wortes. Im Buddhismus Vorrangstellung hinsichtlich des Schweigens. Im Hinduismus Vorrangstellung hinsichtlich der Ergriffenheit. Und die drei beinhalten einander.» (66)
[3] «… Das wahre Selbst ist also das erkennende Selbst, das selbst nicht mehr erkannt werden kann, denn das Erkennen kann zutiefst nur im Vollzug der Erkenntnis erkannt werden.
Das ist nun das Entscheidende; das Verstehen ist jene Tätigkeit, die wir nur im Vollzug verstehen können. Was es heißt zu verstehen, das müssen wir von innen her verstehen. Es von außen her verstehen ist noch kein richtiges Verstehen des Verstehens. Man versteht nur, was verstehen heißt, indem man eben etwas versteht. Aber dieses Etwas ist nicht das Verstehen selbst. Der Sehende sieht ja nicht sein Sehen. Es geschieht im Sehen, dass wir sehen, es geschieht im Verstehen, dass wir verstehen. Indem wir uns ergriffen dem Wort hingeben und uns so in das Schweigen führen lassen, erkennen wir im lebendigen Vollzug des Verstehens unser wahres Selbst. Das Verstehen ist unser innerstes Selbst als lebendiger Vollzug.» (53)
Geheimnis
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Was meinen wir eigentlich, wenn wir Gott sagen?
Ich vermeide so weit wie möglich dieses Wort, denn es wurde auf vielerlei Weise missbraucht und führt daher allzu leicht zu Missverständnissen. Was aber kann es ‒ richtig verstanden ‒ für Menschen heute noch bedeuten?
Eigentlich das, was von Anfang an damit gemeint war. Das kennt jeder Mensch aus eigener Erfahrung:
Das Wort «Gott» weist auf das Geheimnis hin, mit dem unser menschliches Bewusstsein unumgänglich konfrontiert ist.
Was «Geheimnis» bedeutet, das lässt sich recht klar umschreiben:
Es ist jene Wirklichkeit, die wir nicht begreifen, nicht in den Griff bekommen, die wir aber verstehen können, indem wir uns von ihr ergreifen lassen.
Der Unterschied zwischen begreifen und verstehen kann uns vielleicht am Beispiel von Musik bewusst werden. Es ist zugleich der Unterschied zwischen wissen und erleben.
Was wir über ein Musikstück wissen ‒ etwa wer es wann und unter welchen Umständen komponiert hat und wie es musiktheoretisch aufgebaut ist -, das kann uns in mancher Hinsicht nützlich sein, das Eigentliche der Musik aber bekommt solches Wissen nie in den Griff. Wir können ein Stück nur verstehen, wenn wir es hören und davon ergriffen werden.[1]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
DU rührst mich an durch alles, was mich berührt, am tiefsten aber berührt mich Musik. Sie lässt mich auch am deutlichsten erfahren, was es heißt, dich zu verstehen, DU unbegreifliches Geheimnis.
Begriffliches Begreifen ist etwas ganz anderes als dieses Ergriffenwerden durch Musik, das mich sie verstehen lässt, mich ganz drinstehen lässt durch meine Ergriffenheit.
Ich will heute wenigstens kurz irgendwann Musik anhören.
Letztlich ist aber alles, was es gibt, geheimnisvoll wie Musik.
Gib mir Mut, meine Rüstung abzulegen und mich ergreifen zu lassen.
Amen.»[2]
Was uns so in Bezug auf Musik bewusst werden kann, das gilt auch für das Leben als Ganzes:
Es bleibt unbegreiflich, aber in Augenblicken der Ergriffenheit - zum Beispiel bei Gipfelerlebnissen ‒ können wir den Sinn ahnend verstehen, weil wir mittendrin stehen und nicht als Beobachter davon abgesetzt. In dieser Hinsicht ist das Leben zugleich Bild für das große Geheimnis und mehr als Bild ‒ es ist unsere Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Geheimnis schlechthin, also mit Gott.
Weil ich wissen wollte, wie weit verbreitet ein solches Verständnis ist, machte ich ein Experiment: Ich gab bei Google die Worte ein: «Leben heißt …»
Dadurch ließ ich sozusagen einfach irgendjemanden zu Wort kommen. Was ich fand, waren Eintragungen wie «Leben heißt Veränderung», «Leben heißt kämpfen, leiden, lieben, loslassen, nicht zu warten, sterben lernen.»
Sind nicht all diese Erfahrungen Begegnungen mit einem letzten Geheimnis?
Wer das Wort Gott richtig verwendet, meint damit eben dieses überragende Geheimnis.
In diesem Sinn ist unser menschliches Leben unvermeidlich Gottesbegegnung, ganz gleich, ob wir das Wort «Gott» verwenden oder nicht.
An Gott glauben heißt ja nicht, für wahr halten, dass es Gott gibt. Welcher Mensch könnte denn das Geheimnis (und damit Gott) überhaupt leugnen?
Beim Glauben geht es nicht um die Frage, ob es Gott (= das Geheimnis) gibt.
Es geht vielmehr darum, ob Lebensvertrauen unsere Lebensangst überwindet.
Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Geheimnis ‒ auf Gott, auf das Leben.
Dieses Urvertrauen können wir aus Furcht verweigern, oder wir können es mutig verwirklichen durch ein immer neu gelebtes Ja zum Leben.[3]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Mit dir bin ich untrennbar verbunden und durch dich mit allem, was es gibt.
Doch ich erlebe Versuchung ‒ Bedrohung dieses Eingebettet-Seins:
Ich vergesse es manchmal. Aus Vergessen wird Entfremdung und die nimmt mir mein Lebensvertrauen.
Dann klammere ich mich aus Furcht an Vergangenes oder Zukünftiges.
Aber Lebensfülle ist nur in der Gegenwart.
Lass mich heute mangelnde Achtsamkeit schnell als Faulheit erkennen, rüttle mich wach und führe mich ins Jetzt zurück, wo DU mir entgegenwartest, um ‒ mitten im Alltag ‒ Leben in Fülle zu feiern.
Amen.»[4]
Das Ja zum Leben ist zugleich ein Ja zum DU ‒ zu jedem DU, das uns im Alltag begegnet, und darüber hinaus zum Geheimnis als dem großen letzten DU.
Ein Gottesverständnis, das nicht von Spekulation ausgeht, sondern von tiefster menschlicher Erfahrung, überwindet den Dualismus ‒ wir hüben, Gott drüben ‒, fällt aber deshalb nicht notwendigerweise in das Missverständnis des Monismus, der für liebende Beziehung zu Gott keinen Raum lässt, weil alles eins ist.[5]
Richtig verstanden ist menschliche Gotteserfahrung weder monistisch noch dualistisch, sondern trinitarisch.[6]
Gipfelerlebnisse, in denen uns bewusst wird, dass wir mit allem eins sind, können zugleich Höhepunkte unserer tiefsten DU-Bezogenheit sein.
So erleben wir das große Paradoxon: Das Eine hat in sich Platz für Beziehung.
Schon mein Ich-Sagen setzt ja ein DU voraus, das mir ebenso unergründlich ist wie mein Ich. Beide sind im Geheimnis verwurzelt.
Diese innerste Bezogenheit auf das Geheimnis als DU gehört zu unseren menschlichen Grunderfahrungen. Sie ist nicht an irgendeine Periode der Geschichte gebunden.
Bei Bruder Klaus drückt diese Erfahrung sich so aus, dass er Gott als DU anruft.[7]
Das ist auch für uns heutige Menschen erlebnismäßig nachvollziehbar.
Unsere DU-Beziehung zum göttlichen Geheimnis hat zeitlose Gültigkeit.[8]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Unergründlich bist DU mir. Darf ich dich trotzdem so vertraulich DU nennen?
Aber auch engste Freunde bleiben mir ja geheimnisvoll und letztlich unergründlich.
Und doch: Freunde stehen mir gegenüber; in dich aber bin ich ganz eingetaucht ‒ nicht nur wie der Fisch im Wasser, sondern wie der Tropfen im Meer.
Macht dies eine DU-Beziehung nicht unmöglich?
Logik bricht da zusammen Mein Ich-Sagen setzt dich voraus als mein Ur-DU.
Heute will ich also manchmal innehalten und einfach ‹DU!› sagen ins unbegreifliche Geheimnis als mein Gebet.
Amen.»[9]
Nun ist aber neben «Gott» und «DU» «bitten» ein drittes Schlüsselwort im ersten Satz des Gebetes von Bruder Klaus.
Da stellt sich die Frage: Können auch wir noch mit der gleichen, nicht hinterfragten Ursprünglichkeit Gott um etwas bitten?
Ich glaube, das können wir, solange wir dabei nicht in den Irrtum verfallen, dass Gottes Geben von unserem Bitten abhängig ist.
Echtes Bitten drückt eigentlich unser vertrauensvoll vorweggenommenes Danken aus.
Das zeigt sich schon, wenn wir einen Mitmenschen um etwas bitten. Wir sagen damit eigentlich: Ich vertraue darauf, dass du meine Bitte gewähren wirst, aber ich nehme das nicht als gegeben hin, sondern ich weiß es zu schätzen.
Mit der gleichen Haltung können wir das große DU um etwas bitten.
Alles, was «ES gibt», schenkt uns ja das große Geheimnis.
Denn worauf verweist das Wörtchen «ES», wenn nicht auf den geheimnisvollen Urgrund, der uns alles schenkt, was «ES gibt»?
Im Hinblick auf unsere persönliche Beziehung zum Geheimnis sehen wir es als DU an; im Hinblick auf alles, was es gibt, sprechen wir vom Geheimnis als Quellgrund und Mutterschoß von allem, was uns zufließt, zuwächst und geschenkt wird.
Ein und dasselbe Geheimnis (auch Gott genannt) begegnet uns als DU und als ES.
So leuchtet es ein, dass wir dem DU danken für alles, was ES gibt, und es, den Dank vorwegnehmend, um alles bitten.[10]
«DU großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt.
Schon beim Aufwachen rufe ich spontan Deine Hilfe an, wenn mir das Aufstehen schwerfällt.
Aber was meine ich damit eigentlich?
Ich weiß doch, dass DU mir alles schenkst, auch wenn ich nicht darum bitte.
Mein Vertrauen auf Deine Hilfe will ich ausdrücken.
Und Deine Hilfe ist nicht Mithilfe mit meiner Kraft.
Was ich meine Kraft nenne, ist nur mein Durchfließen-Lassen Deiner Kraft.
DU Lebensstrom meiner Lebendigkeit. Ströme DU also heute in allem, was ich tue, durch mich und durch alle, die mir begegnen.
Amen.»[11]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-4, 8-11]
[Ergänzend:
1. Video Vom Ich zum Wir (2021): «Menschenwürde und allgemeinmenschliche Religiosität»: Bruder David im Interview mit Egbert Amann-Ölz im Rahmen des Online-Pfingstkongresses (14.-24. Mai 2021), siehe auch Mitschrift Pfingstkongress, 4:
(16:10) «Es ist mir bewusst geworden – im Laufe meines Lebens –, dass die verschiedenen Religionen Ausdrücke, Ausdrucksformen einer einzigen allgemeinmenschlichen Religiosität sind:
Ich beginne mit der Einsicht – und es ist eine Einsicht, zu der jeder Mensch kommen kann –, dass wir als Menschen auf Religiosität – nicht auf Religion – angelegt sind.
Und unter Religiosität verstehe ich: Es macht uns erst zu Menschen, dass wir mit dem großen Geheimnis, das hinter allem steht, ringen müssen und uns mit ihm auseinandersetzen müssen im Lauf unseres Lebens.
Wir sind die religiösen Tiere, unter den Tieren jene, die sich dieses großen Geheimnisses bewusst sind und mit ihm umgehen lernen müssen und darin besteht unsere Lebensaufgabe.
Und wenn ich sage: das große Geheimnis, so meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern etwas, was jeder Mensch kennt und mit dem jeder Mensch täglich umgeht, und es kann fast definiert werden auf diese Weise – natürlich keine echte Definition, sondern eine Beschreibung:
Wir müssen uns täglich mit etwas auseinandersetzen, was man nicht begreifen kann, was man aber verstehen kann, wenn es einen ergreift.
Also da muss man zunächst auch die wichtige Unterscheidung zwischen Verstehen und Begreifen machen: Begreifen heißt in den Griff bekommen. Durch Begriffe machen wir uns die Welt untertan: Wir wollen begreifen.
Wir können aber – so groß auch unsere Hände sind – immer nur einen begrenzten Teil der Wirklichkeit in den Griff bekommen.
Die ganze Wirklichkeit, das Ganze, können wir aber verstehen, wenn es uns ergreift.
Und das Beispiel, das vielen Menschen leicht zugänglich ist, ist das Beispiel von Musik:
Niemand kann begrifflich das Wesen von Musik analysieren.
Wir können vieles über Musik sagen, aber was Musik wirklich ist, geht weit über alles hinaus, was man begrifflich erfassen kann.
Aber jeder von uns – oder gottseidank die meisten von uns – können Musik verstehen und sagen ganz ehrlich: Das verstehe ich – und sogleich: Das ergreift mich.
Wenn die Musik mich nicht ergreift, verstehe ich sie auch nicht.
Also, was mich ergreift, verstehe ich, und Musik ist ein gutes Beispiel unserer Begegnung mit diesem großen Geheimnis.
Es ist nur ein Teil, ist nur ein Beispiel, aber das ereignet sich in unzähligen Varianten jeden Tag und das lebenslang, dass wir immer wieder auf etwas stoßen, besonders natürlich in der Begegnung mit andern Menschen, was wir unter keinen Umständen begreifen, aber zutiefst verstehen können, wenn wir uns davon ergreifen lassen.
Und diese Auseinandersetzung mit dem Geheimnis also ist, was ich Religiosität nenne. Und die drückt sich jetzt in Religionen aus.
Und zwar kommen im Lauf der Geschichte tiefreligiöse Menschen immer wieder, die ihre – unsere – Begegnung mit dem großen Geheimnis durch Worte, durch eine Lehre, durch Moral – eine Ethik – und durch Rituale ihren Zeitgenossen zugänglich machen.
Und eine Religion ist die kulturelle Zugänglichmachung unserer allgemeinmenschlichen Religiosität durch eine Religion eben.»
2. Audios
2.1. Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018)
Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast:
(11:26) «Jeder Mensch ist auf die Begegnung mit dem großen Geheimnis angelegt. Und das große Geheimnis begegnet uns zum Beispiel im Leben: Das Leben selber. Wir müssen das Leben meistern. Das heißt, wir müssen irgendwie auskommen mit diesem geheimnisvollen Ding, das uns da begegnet.
Und geheimnisvoll heißt: Wir können es nicht begreifen ‒ sonst ist’s nicht Geheimnis ‒, wir können es nicht begreifen: Kein Mensch kann das Leben begreifen, das heißt in den Griff bekommen, analysieren, begrifflich erfassen, aber wir müssen uns bemühen, das Leben zu verstehen: Das Geheimnis kann nicht begriffen, aber verstanden werden, und verstehen heißt, sich hineinstellen und sich ergreifen lassen.
Begriffe ergreifen. Und Bernhard von Clairvaux sagt ja: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›
Und diese Ergriffenheit vom göttlichen Geheimnis erleben viele Menschen in der Natur, viele auch im Ritual in der Kirche, und sehr viele in der Musik.»
(13:52) «Wir verstehen das Unbegreifliche. Das erfahren wir und erlebt jeder Mensch an der Musik. Also eine wichtige Unterscheidung zwischen begreifen und verstehen.
Und mit jedem Menschen kann man darauf hin kommen zum Beispiel im Gespräch: Was ergreift dich?
Sehr häufig ist es die Natur, sehr häufig. Natürlich in unsern Gipfelerlebnissen: die Geburt eines Kindes, der Tod eines nahestehenden Menschen, Freundschaft usw..»
(18:02-21:09) «Und das erlebt aber jeder Mensch:
Das Leben spricht zu mir, wenn ich nur die Ohren aufmache.
Das Leben brüllt mich an, aber ich habe andere Ideen oder andere Pläne oder so.
Es schreit mich nur so an.
Und jetzt hinzuhorchen und zu antworten; und auf Gott hinhorchen ist immer ein Thema von der Bibel: auf Gott horchen: ‹Verhärtet Eure Herzen nicht.› Immer geht’s darum. ‹So spricht der Herr›, sagt jeder Prophet immer wieder: ‹Spruch des Herrn›: Also sich ansprechen lassen und sich diesem Anruf zu stellen, verantwortlich zu stellen, darum geht’s im Leben. Das Leben ist unser persönliches Leben ‒ also nicht so abstrakt ‒, unser persönliches lebendig sein, und Leben ist die Form, in der jeder Mensch die Gottesbegegnung erlebt.
(19:05) Wenn man sagt ‹Gott› ist man schon auf dem falschen Weg eigentlich ‒ meistens ‒, weil man dann oft immer dran denkt, das ist sowas da draußen. Und die wichtigste Aussage über Gott macht Paulus auf dem Areopag, im 17. Kp. der Apostelgeschichte, wo zu den Athenern sagt: ‹Eure eigenen Dichter haben Euch das ja schon gesagt› ‒ also nicht was Christliches oder Jüdisches: Das ist menschlich. Der Dichter hat Euch das gesagt: ‹In Gott leben wir, bewegen uns und sind›.
Also wenn irgendjemand von uns ‒ mich eingeschlossen, ich muss mich auch bemühen ‒, das Wort ‹Gott› hört:
Dass wir in Gott leben, uns bewegen und sind, fällt uns nicht als Erstes ein. Als Erstes ist das irgendwer da draußen. Da kann man sich nicht helfen. Aber wenn man ‹Leben› sagt, weiß man: ‹Im Leben leben wir, bewegen uns und sind›. Und das ist es, worum es geht, wenn Paulus über Gott spricht. So begegnen wir Gott, nicht irgendwo draußen. In allem, was wir erleben.
(20:27-21:09) Indem ich das gesagt habe, habe ich schon irgendwie gezeigt, wie die Religiosität ‒ also die Auseinandersetzung mit dem Geheimnis, typisch durch das Leben ‒, wie das verbunden ist und uns erst so richtig aufmerken lässt auf ganz wichtige Bilder und Einsichten aus unserer jüdisch-christlichen Tradition. Und so geht das Leuten mit anderen Religionen auch. Aber diese Auseinandersetzung mit dem Leben, die bleibt keinem Menschen erspart. Das hat man mit allen Menschen gemeinsam.»
(21:37) Frage: «Diese persönliche Beziehung zu diesem Geheimnis, zu diesem Gott: Ist sie mir geschenkt ‒ oder?»
Bruder David: «Nein, alles ist geschenkt, sagt ja auch Augustinus: ‹Alles ist geschenkt›, sagt er.»
Frage: «Und warum kriegen es dann manche nicht geschenkt?»
Bruder David: «Das gehört zum Geheimnis.»
2.2. Audio-Interview Das glauben wir – Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Gott nicht begreifen, aber verstehen
Gott mit Blick auf das Leben
Gott mit Blick auf Beziehung – das ‹ES›
Große Fragen: warum ‒ was ‒wie?
Gott ‒ ein DU
Sich diesen Fragen stellen!
3. Texte
3.1. Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 43, 45:
«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? und Wie?» (43)
«Alle drei werden uns also, wenn wir beharrlich genug fragen, ins Geheimnis hineinführen, aber auf drei verschiedenen Wegen. Das Warum fragt nach den Wurzeln, dem Ursprung von allem und führt uns so hinunter in den unaussprechlichen Abgrund des Seins ‒ ins Geheimnis als Schweigen.
Das Was fragt nach dem innersten Wesen der Dinge und hört es am Ende heraus aus der geheimnisvollen Art und Weise, in der jedes Ding seine Einmaligkeit ausspricht, indem es ‹selbstet›[12] ‒ Geheimnis als Wort.
Das Wie fragt nach dem dynamischen Aspekt, nach der Kraft, die das Leben antreibt. Aber diese Kraft lässt sich von außen nur beobachten. Verstehen können wir sie nur, indem wir sie in uns selbst erfahren, indem wir ‹das Leben leben› ‒ Geheimnis als Verstehen durch Tun.
Diese drei Zugangswege zum Geheimnis werden aufmerksame LeserInnen in diesem Buch in immer neuen Abwandlungen wiederfinden.» (45)
3. 2. Ethik oder Religion (2018), 2f., die Antwort von Bruder David auf den Appell S. H. des Dalai Lama im Buch Ethik ist wichtiger als Religion (2014):
«Es gehört zum Geheimnisvollsten am Geheimnis, dass wir Menschen es als Gegenüber erfahren können, obwohl wir ihm angehören.
Paulus zitiert einen griechischen Dichter, wenn er von Gott sagt, ‹in ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg. 7,27). Und nicht nur wie Fische im Wasser sind wir in Gott, sondern wie Wassertropfen im Meer.
Zugleich aber verstehen wir unter Gott unser Ur-DU, unser Ur-Gegenüber, das uns erst ermöglicht, ‹ich› zu sagen.»
«‹Gott› ist gleichbedeutend mit ‹Geheimnis› unter dem Gesichtspunkt unserer persönlichen ‒ gegenseitigen - Beziehung zur letzten Wirklichkeit. Und diese Beziehung ist unsere Religiosität.
(Obwohl wir schon gesehen haben, dass es bei Spiritualität um das Selbe geht, hat es Vorteile, hier von Religiosität zu sprechen, weil dadurch der innige Zusammenhang mit den Religionen anklingt.)»
3.3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 23f.:
«Das Wort ‹heimlich› hängt eng mit Geheimnis zusammen. Wir als Menschen sind im Geheimnis beheimatet. Das macht uns zu Menschen.[13]
Geheimnis in diesem Sinn hat nichts mit Geheimnistuerei zu tun, mit Geheimhaltung, sondern mit dem, was uns so heimlich vertraut ist, dass man nicht darüber sprechen muss.
In jeder Familie, in jedem Heim gibt es Dinge, die einfach so, ohne erklärt zu werden, verstanden sind.
Und darum geht es beim Geheimnis: Es ist etwas, das man auch kaum sagen könnte, das eben diese Familie zu dieser Familie macht, das ist ihr Geheimnis, nicht das Skelett im Kasten, (das ist wieder anders! Jede Familie hat ihr Skelett im Kasten, worüber niemand sprechen darf, das ist so ganz geheim).
Was uns daheim fühlen lässt, warum man sich dort daheim fühlt, und woanders nicht ganz so, und das lässt sich nicht in Worten ausdrücken und das große Geheimnis ist das im Wort nicht Aussprechbare, das zum Daheimsein in der Welt gehört, zum Daheimsein im Leben und daher zum Daheimsein im Geheimnis des Lebens, im Geheimnis des Seins.
Rilke spricht da von einer ‹heimlichen leisen Gewahrung, die uns im Innern schweigend gewinnt›.[14]
Die gewinnt uns, diese heimliche leise Gewahrung, diese Stille.
Diese Stille, diese Dunkelheit, in die wir uns hinunterlassen, sie ergreift uns.
Das wäre auch so eine Anweisung, etwas, das man heute machen könnte:
Eine Blume, einen Berg, die eigene Hand, seinen Fuß lange anschauen, dass da etwas uns ergreift.
Das Leben ist ergreifend, nicht weil irgendetwas Besonderes geschieht, sondern … ganz still innehält und sich hinein versenkt, wird es ergreifend, kann bis zu Tränen rühren.
In Filmen manchmal, ist es nicht die Handlung, die uns zu Tränen rührt, sondern einfach die Darstellung des Lebens, und da braucht man so Milchkannen oder ein gedeckter Tisch und plötzlich kommen einem die Tränen, wirklich:
Das Daheimsein im Geheimnis berührt und ergreift.»]
__________________________
[1] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 112f.
[2] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 35
[3] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 113f.
[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 81
[5] TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 99:
«Der Dualismus wird der Welt, wird dem Leben nicht gerecht und der Monismus wird auch dem Leben nicht gerecht.»
[6] Siehe Abschnitt «Bruder Klaus: Dreifaltigkeitsmystiker», 120-122
[7] Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.
[8] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 114
[9] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 13
[10] Kann ich heute noch so beten wie Bruder Klaus? (2016), 115
[11] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), 51
[12] Bruder David bezieht sich auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889), in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ «to selve›, was man Deutsch mit «selbsten» wiedergeben kann. Etwas «selbstet», indem es durch sei Tun aussagt, was es ist. Jede Glocke, jede angezupfte Saite «selbstet» so durch ihren ganz eigenen Ton. [Credo: «Ein Glaube, der alle verbindet» (2015), 66]
[13] Orientierung finden (2021): «Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›», 46:
«‹Geheim› bedeutet ursprünglich ‹zum Heim gehörig›.
Geheimnis bezeichnet dann, was der Hausgemeinschaft selbstverständlich ist, Fremden oder Entfremdeten aber unverständlich bleibt, also ‹geheim›.
Das Wort eignet sich dazu, auf jenes allverbindende Unaussprechliche hinzuweisen, das uns Menschen zuinnerst vertraut ist, uns aber nur in dem Maße bewusst wird, in dem wir als Angehörige des allumfassenden Erdhaushaltes denken, fühlen und handeln. Ein solches Denken ist nichts andres als gesunder Menschenverstand und heißt im süddeutschen Sprachraum mit einem treffenden Wort auch Hausverstand: Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim.»
[14] Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 4: «Rühmt euch, ihr Richtenden, nicht der entbehrlichen Folter» (Rilke, Die Sonette 2. Teil IX)
Gehorsam
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Mönche geloben Gehorsam. Gehorsam im klösterlichen Rahmen heißt mehr als zu tun, was einem befohlen wird; das wäre die Art des Gehorsams, die ein Hund in der Dressurschule lernt. Wahrer Gehorsam ist vielmehr ein liebendes Hinhören, ein Hinhorchen auf Gottes Wort, das uns jeden Augenblick erreicht, ein Lauschen auf die Botschaft des Engels, der Stunde um Stunde zu uns spricht.
lm Wort «Gehorsam» selbst steckt die Bedeutung des intensiven Hörens. Das Gegenteil dieses Gehorsams ist Absurdität, vom lateinischen surdus, taub. Wir haben die Wahl zwischen liebevollem Zuhören oder einem Leben, in dem wir alles absurd, widersinnig finden. Diese Absurdität ist nicht außerhalb von uns, sie ist in uns. Wir sind nur taub, wenn wir nicht gehorsame Zuhörer sind. Wenn wir uns also das nächste Mal bei der Bemerkung ertappen: «Das ist absurd, so könnten wir uns die hilfreichere Frage stellen: «Wem oder was gegenüber bin ich hier taub?»
Ungehorsam ist weniger ein Unterlassen dessen, was wir nach besserem Wissen tun sollten, als vielmehr, nicht einmal auf das zu hören, was die Situation erfordert und wozu sie uns aufruft. Ein sturer Gehorsam kann ein Nicht-Hinhören sein. Einfach nur die Regeln einzuhalten verdient nicht, wahrer Gehorsam genannt zu werden. Alles, was geschieht, jede Situation, in der wir uns befinden, ob sie uns nun gefällt oder nicht, will uns etwas sagen. Wenn wir richtig darauf antworten, wird es lebensbejahend und lebensspendend für uns und andere sein. Solche Augenblicke sind entscheidend für unseren Charakter. Genau da findet eigentliche Moral statt. In jedem Augenblick haben wir die Wahl, aus ganzem Herzen und echt zu antworten oder uns zu drücken und unser wahres Selbst zu verraten. [ST 50f., Quelle: MS 5) 70f.]
[Ergänzend:
1. Der Mönch in uns (1981):
«Gehorsam heißt wörtlich «aufmerksames Horchen»; es kommt vom lateinischen ‹ob-audire›, aufmerksam horchen, oder wie es in der jüdischen Tradition heißt ‹sein Ohr entblößen›: Die Schläfenlocken müssen zurückgestrichen sein, um wirklich aufmerksam hören zu können. Das bedeutet Gehorsam im Alten Testament.
In vielen Formen, in vielen Sprachen ist das Wort für Gehorsam eine intensive Form des Wortes horchen, gehorchen, ‹audire›, ‹ob-audire›.
Anders ausgedrückt kann Gehorsam: ‹tun-was-einem-gesagt-wird› ein streng mönchisches Mittel sein, diesen Eigensinn zu überwinden, diese eigenen Ideen und eigenen kleinen Pläne. Dies ist eine Möglichkeit, all dies loszulassen und das Ganze anzuschauen und das Ganze zu lobpreisen, wie Augustinus sagt.
Aber das Entscheidende ist, das Horchen zu lernen.
Dabei kann es ein Hindernis sein, oft ‹den Willen eines andern zu tun›; dadurch wird man nur eine an Fäden gezogene Marionette. Im Hinblick auf Sinnfindung ist der Zusammenhang, in welchem wir die mystische Erfahrung sehen, sehr wichtig.
Wenn du etwas sinnlos findest, sagst du, es sei ‹absurd›. Aber wenn du ‹absurd› sagst, hast du dich verraten, denn der Ausdruck ‹absurdus› ist das genaue Gegenteil von ‹ob-audiens›.
‹Absurdus› bedeutet ‹absolut taub›.
Wenn du also sagst, dass etwas absurd ist, sagst du schlechthin ‹ich bin absolut taub für das, was mir dadurch gesagt werden will. Das Absolute spricht zu mir und ich bin völlig taub›.
Dabei ist hier gar nichts taub; Taubheit lässt sich nicht auf die Quelle des Klangs zurückführen. Du bist taub. Du kannst nicht hören.
Die einzige Alternative zu dem, was alle von uns in irgendeiner Lebensform haben, ist deshalb eine taube Haltung durch eine aufmerksam Horchende zu ersetzen. Um dabei ein wenig weiterzukommen, braucht es ein ganzes Leben.»
2. AH 1-2) 15; 3-5) 15 und Auf dem Weg der Stille (2016), 58f.]
Gelegenheit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Der Sonnenaufgang kommt unaufgefordert und kann uns daran erinnern, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Nicht wir führen ihn herbei. Das Licht wird uns gegeben. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren und bringt uns eine Zeit voller neuer Gelegenheiten. Auch wenn die Schwierigkeiten dieselben sind wie gestern, so können wir sie doch ganz neu anpacken. [ST 52, Quelle MS 5) 53]
Wir können nicht dankbar sein für Verletzungen, Krankheit, Ungerechtigkeit und andere Schwierigkeiten. Wir können nicht für alles dankbar sein, was ein gegebener Moment uns bringt; aber in jedem gegebenen Moment können wir für etwas dankbar sein ‒ für die Gelegenheit, die er uns bringt. Gelegenheit wofür? Nur in diesem bestimmten Moment kannst du die Antwort auf diese Frage hören, die zu deinen speziellen Bedürfnissen passt. Und du wirst sie hören, wenn du deine Ohren durch Dankbarkeit einstellst.
Unsere Schwierigkeiten erzeugen eine Menge Lärm. Inmitten dieses Lärms ist es nicht einfach, die sanfte Stimme der Gelegenheit zu hören. Wir brauchen geübte Ohren. Darum müssen wir unsere Ohren lange vorab trainieren, bevor Schwierigkeiten uns überfallen. [ST 52, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
(Video gelesen von Bettina Buchholz): Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten nie genug auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen an der Sonne, die durch die Bäume scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Säuglings oder über eine lang erwartete Umarmung. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: erst dann werden wir wachgerüttelt. Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund geben zur Freude am Geschenk des Lebendigseins, dann sind wir vorbereitet, wenn die Zeit kommt, die etwas Schwieriges von uns verlangt. Dann werden wir auch in dieser Herausforderung eine Gelegenheit erkennen und ihr dankbar gerecht werden. Das Leben ist uns gegeben; jeder Augenblick ist uns gegeben. Dafür ist Dankbarkeit die einzige passende Antwort. Wenn uns die Tatsache dämmert, dass alles ein Geschenk ist, dann wird Dankbarkeit selbstverständlich. [ST 52f., Quelle: MS 5) 49f.]
Gewissen
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!Als Kind hat man mir eingedrillt,
dass Du richtest, verurteilst und bestrafst.Millionen sind noch in diesem Irrtum gefangen.
Aber wenn unser Gewissen uns anklagt,
bist Du größer, großzügiger als unser Gewissen.Was wir Bestrafung nennen,
ist letztlich nur beschönigte Rache.Du rächst nicht. Du heilst.
Du richtest Verkrümmtes gerade.Je krummer die Verkrümmung,
umso mehr schmerzt freilich die Heilung.Lass mich heute auf etwas hinhorchen,
das scheinbar nach Strafe schreit ‒
vielleicht in mir selbst ‒, und hören,
dass es eigentlich um Heilung bittet. Amen.»[1]
Jesus beruft sich nicht auf seine persönliche, charismatische Autorität. Auch beruft er sich nicht direkt auf Gottes Autorität, als stehe Gott hinter ihm.
Anders als die Propheten sagt Jesus niemals: «So spricht der Herr …»
Auf welche Autorität beruft er sich also?
Natürlich auf die göttliche Autorität, jedoch die im Herzen seiner Zuhörer.
Das ist etwas vollkommen Neues. Seine gesamte Lehre gründet auf der Tatsache, dass in jedem einzelnen seiner Zuhörer ‒ selbst den Dirnen, den Steuereinnehmern, den Ausgestoßenen, den Hirten, die keine Rechte, und den Frauen, die keine Stimme hatten ‒, dass in den Herzen aller Menschen Gottes eigene Stimme spricht.
Er geht nicht umher und spricht: «Ich will dir sagen, was du tun musst. Höre mir zu, und ich werde dir einen Rat geben.»
Er geht vielmehr um und erzählt Parabeln. Das ist seine typische Lehrmethode. Typisch für die von Jesus gebrauchten Parabeln ist, dass sie wie Scherze wirken.
Sehr oft beginnt er mit einer Frage wie: «Wer von euch Fischern wüsste nicht; wer von euch Brot backenden Frauen wüsste nicht; wer von euch Sämännern wüsste nicht?» und so weiter. «Natürlich wisst ihr, nicht wahr?»
Das ist der erste Schritt. Wir, die Zuhörer, antworten:
«Natürlich wissen wir es.
Das sagt uns doch der gesunde Menschenverstand.»
Nun aber fällt der Scherz auf uns zurück, denn Jesus fragt:
«Ach so, wenn euch das der gesunde Menschenverstand sagt,
warum handelt ihr dann nicht entsprechend?»
Jesus hängt seine Parabeln am gesunden Menschenverstand auf, an jenem Geist, der uns gegeben wurde, damit wir Gott von innen heraus erkennen.
Die Parabeln setzen voraus, dass wir Gottes Geist durch so simple Tätigkeiten wie Fischen, Brot backen oder Saaten aussäen kennen können ‒ und dementsprechend unser Leben gestalten können.
Warum aber sollte jemand nicht dem gesunden Menschenverstand folgen, den wir mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum und seinem göttlichen Urgrund teilen? Warum leben wir nicht nach jenem Geist, den wir alle gemeinsam haben und der allein Sinn gibt?
Weil wir eingeschüchtert sind vom Druck der Öffentlichkeit, von der öffentlichen Meinung. Jesus treibt einen Keil zwischen gesunden Menschenverstand und Druck der Öffentlichkeit.
Mit seinen Parabeln sagt er den Menschen:
«Gebt diesem Druck nicht nach.
Ihr wisst es doch besser.»
Er baut die Menschen auf, lässt sie auf eigenen Füßen stehen. Manchmal geschieht das buchstäblich. Wenn die Menschen sich begeistern, dann vertrauen sie so stark auf diese Kraft, dass sie aufstehen und gehen können, obwohl sie vorher lahm waren.
Solche Geschichten in den Evangelien haben noch heute die Kraft, das Leben der Menschen zu ändern.
Nun gerät aber jeder, der anderen auf diese Art Kraft verleiht, in Schwierigkeiten mit den Autoritäten, die Menschen unterdrücken, mit religiösen wie mit politischen Autoritäten.
In den Evangelien lesen wir ausdrücklich, wie verblüfft die einfachen Menschen waren.
«Der spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten»,
sagten sie. Natürlich kommt so etwas bei Autoritäten, die zur Unterdrückung neigen, nicht gut an.
Was wirkt befreiender als der gesunde Menschenverstand?
Gandhi wird von vielen Christen als christusähnliche Gestalt angesehen. Er tat genau das, was ganz typisch für Jesus war, nämlich andere zum Handeln zu ermuntern. Dadurch geriet Jesus in Schwierigkeiten, und genau das war auch bei Gandhi der Fall.
In beiden Fällen wollten die Menschen nicht wirklich die Macht, die ihnen zugestanden wurde, jedenfalls nicht in dem Ausmaß. Einige wollten sie schon, aber viele andere sagten: «Uns ging es doch viel besser, als uns gesagt wurde, was wir zu tun haben.»[2]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt ‒So rede ich Dich in Wasserbildern an, ich aber bin Erde.
Jeses Atom in mir ist ‹Sternenstaub›,
heißt es, hervorgegangen aus unvorstellbaren kosmischen Ereignissen
und schließlich auf unserem Planeten zu Erdreich geworden.Alles auf meinem Teller war einmal Erde,
ich esse es, und es wird wieder Erde.Auf der Autobahn fährt dicht hinter einem Kühltransporter
mit Lebensmitteln ein Klärgruben-LKW. Ich lache.Aber in diesem Kreislauf stehen wir mitten drin ‒ wir alle.
Möge mir dieses Geerdet- und Eingebunden-Sein
heute bei jedem Bissen bewusstwerden. Amen.»[3]
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!» ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung.
Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht. Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent. Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösem Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt.[4]
«Gehorchen will ich letztlich nur Dir,
Du ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften,
da wir mit ihm rangen›.Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit Deiner dunklen Gegenwart,
so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit
mit Dir schon von Anbeginn.Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen,
obwohl ich Dich hören kann tief im Herzen.Siege Du über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann,
sondern so hingegeben horchen,
dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒
und zum Überschreiten:
zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten;
zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun;
zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf Dich ‒
von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich Dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar,
dass Du die Freiheit bist,
nach der ich mich sehne. Amen.»[5]
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams vom Wort Gottes leben, und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?[6]
«Zauberkraft begegnet uns auf Schritt und Tritt,
daran zweifle ich keinen Augenblick.
Wie oft habe ich sie doch erlebt.
Zuerst mein ganz automatisches Dahintrotten
auf dem heißen Gehsteig,
dann ein kühler Zugwind aus einer Seitenpassage ‒
und plötzlich hat das Straßenbild Farben, Klänge, Bewegung.Oder bei Tisch: Mein unaufmerksames Hinunterlöffeln
durch das Klirren eines Wasserglases
in wache Freude an der warmen Suppe verwandelt.Sogar mein untätiges Daliegen im Bett
kann durch ich weiß nicht, was,
auf einmal zum wohligen Wahrnehmen
von Decke und Polster werden,
zu einem letzten Aufleuchten
aller Sinne vor dem Einschlafen.Ich weiß nicht, was diese geheimnisvolle Kraft ist,
die da so unvermittelt alles verzaubert ‒
ja, die eigentlich m i c h bezaubert,
indem sie mich belebt.Jedenfalls nehme ich sie dankbar an;
sie muss ja von Dir kommen.
Und Dankbarkeit legt mir auch das Zauberwort
in den Mund, das Zauberwort,
das mich und die Welt belebt:
‹Danke!› ‒ Amen.»[7]
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess,[8] unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[9]
«Weg und Ziel zeigst Du mir nicht nur an,
Du großes Geheimnis im Herzen des Lebens,
Du b i s t mir beides.Als Weg erfahre ich Dich am richtungsweisenden Fließweg des Lebens,
dem ich mich anvertrauen darf wie ein Schwimmer dem Strom.Als Ziel erkennt Dich die Strömung in meinem Inneren mit ihrem
geheimnisvollen Sog, der mir zuraunt: ‹Heim zum Vater!›Lass mich nicht erschlaffen beim Schwimmen,
nicht schlapp dahintreiben wie Schwemmholz,
sondern wendig werden wie ein Fisch.Mach mich achtsam für den leisesten Hinweis,
den mir das Leben ‒ den D u mir gibst.
Und lass mich täglich fröhlicher werden,
weil ich ja auf dem Heimweg bin zu Dir. Amen.»[10]
[Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast]:
(26:28) «Das Wesentliche an der Ethik ist, Augenblick für Augenblick hinzuhorchen: Was will das Leben jetzt von mir? ‒ und verantwortlich das zu tun.
Sehr häufig wird diese Verantwortung nicht so klar gesehen. Aber wenn man das übt, wenn man sich dessen bewusst ist: Also ich möchte in Gott und mit Gott leben, das heißt: in diesem Augenblick begegnet mir Gott, da muss ich ja mich immer wieder bemühen, zunächst einmal aufzuwachen:
Was will jetzt dieses Leben von mir?
Und das ist manchmal nicht so klar zu sehen, das ist auch schwierig. Da muss man halt das Beste tun, und wenn’s ein Fehler war, dann den ändern. Das zeigt ja dann der nächste Augenblick schon, dass es ein Fehler war. Da kann man dann den nächsten Augenblick verwenden.
Aber doch hinhorchen und vertrauen, dass das Leben ‒ da kommt wieder der Glaube herein ‒, etwas von uns verlangt. Jeden Augenblick. Und zwar oft sehr angenehme Sachen.
Das Leben ist ja nicht so ganz ein strenger Lehrer, der jeden Augenblick etwas verlangt. Das Leben verlangt von uns: ‹Freu dich doch dran›! ‒ und wir sind anderweitig beschäftigt. Das Leben sagt ja fast in jedem Augenblick: ‹Freu dich doch dran›, und auch noch, wenn andere Sachen dazukommen ‒, es sagt ja nicht nur eines ‒:
‹Ja das ist wirklich schwierig, aber schließlich kannst du doch noch tief durchatmen. Das ist ja auch ein Geschenk. Viele Menschen können nicht anständig atmen: du kannst jetzt atmen und trotzdem, mit der ganzen Belastung: Tu’s doch›! Das ist auch eine Antwort auf die Herausforderung des Lebens.»[11]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-7, 9-11]
[Ergänzend:
1. Berufung
3. Würde, Rückgrat, Scham, in Ergänzend: 2.2.:
Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David; siehe auch Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David: Anm. 1 und 7:
Gerald Hüther nennt Würde in seinem Buch Würde einen inneren Kompass, etwas, das in uns wach wird und von innen heraus kräftiger und verhaltensbestimmender wirkt als die von außen auf uns einstürmenden Verlockungen, Angebote und scheinbaren Notwendigkeiten:
«Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, also um ein in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Es geht dabei um eine innere Vorstellung davon, was für ein Mensch jemand sein will. Für diese Orientierung bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Hirn schützende und deshalb den Energieverbrauch dauerhaft reduzierende Vorstellung gibt es im Deutschen einen wunderbaren, wenngleich fast schon vergessenen Namen: Würde.» (19f.)
«… Und dabei bin ich auf diesen inneren Kompass gestoßen, der uns dabei hilft, nicht nur so zu handeln, dass andere dadurch nicht verletzt werden, sondern wir uns dabei nicht selbst verletzten: unsere Würde.» (44)
«Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (45)
«Die Kernthese dieses Buches lautet: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.» (21)
«Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, braucht weder den Erfolg beim Kampf um begrenzte Ressourcen noch irgendwelche Ersatzbefriedigungen, die ihm von Werbestrategen angeboten werden. Eine solche Person leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit. Sie ist sich ihrer Bedeutung bewusst. Deshalb ist sie nicht mehr verführbar. Weder hat sie einen Gewinn davon noch ein Interesse daran, andere Personen zu Objekten ihrer Absichten und Erwartungen, ihrer Ziele und Maßnahmen oder gar ihrer Verführungskünste und Versprechungen zu machen.
Weil sie sich ihrer eigenen Würde bewusst ist, kann sie die Würde anderer Menschen nicht verletzen. Das wäre unter ihrer Würde.» (130)
«Beispielsweise sind Menschen, die sich ihrer Würde bewusst werden, nicht mehr verführbar. Sie verfügen dann ja über einen inneren Kompass, der ihr Denken und Handeln leitet, und sie passen auf, dass er ihnen nicht abhandenkommt.
Solche Personen lassen sich von niemandem einreden, dass sie dies oder das noch brauchen, um glücklich zu sein. Plakate, Werbespots, Ratgeber und Angebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zu behandeln, als könnten sie nicht selbst denken und eigene Entscheidungen treffen.» (174)]
________________
[1] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹17 ‒ Strafe›, 26
[2] Wendezeit im Christentum, Teil IV (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 259-261 und 276
[3] Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹12 ‒ Erdung›, 21
[4] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261f.: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-15; siehe auch Horchen und Gehorchen
[5] Erwachende Worte (2023): 5 ‒ Gehorchen, 27
Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch: Vom mönchischen Leben:
«Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen.»
Bruder David zum Ringen Jakobs mit einem Unbekannten am Grenzfluss Jabbok (Gen 23,32-33) in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f
[6] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 263: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 15f.
[7] Erwachende Worte (2023): 55 ‒ Zauberkraft, 127
[8] Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024); siehe auch die Mitschrift Sinnvoll leben, dankbar leben:
(34:58) «Der Satz steht im Zusammenhang mit einer Geschichte aus dem Evangelium, der sogenannten Versuchung Jesu. Jesus war in der Wüste und hat 40 Tage gefastet. Als er hungrig war, sagte der Versucher: ‹Wenn du der Sohn Gottes bist, dann sag doch zu diesen Steinen, dass sie Brot werden›. Steine schauen für den Hungernden aus wie Brotlaibe. Jesus antwortet darauf: ‹Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort aus Gottes Mund›. Ich habe dann gesagt: Offensichtlich sind auch die Steine – also nicht nur alles Angenehme, sondern auch das Unangenehme – ein Wort aus Gottes Mund. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass sich hier und da auch in einem Rosinenbrot eine Rosine als Steinchen herausstellt, auf das wir manchmal beißen. Am Ende unseres Lebens kommt der Tod, das Sterben, das wir eigentlich nicht wollen, wogegen sich alles in uns auflehnt – und da sollten wir schon so in Übung sein, dass wir erkennen: Auch dieser große Stein ist ein Wort aus Gottes Mund.»
[9] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 17; siehe auch Vom Worte Gottes leben (2021)
[10] Erwachende Worte (2023): 11 ‒ Weg, 39
[11] Auszüge aus dem Audio Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamingespräch mit David Steindl-Rast, in Religiosität ‒ ethische Urquelle
Gipfelerlebnis
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Unser wahres Selbst ist nicht das kleine individualistische Selbst neben anderen. Dies entdecken wir in jenen Augenblicken, in denen wir zu unserer großen Überraschung eine tiefe Kommunion mit allen anderen Wesen erfahren. Diese Momente gibt es in unser aller Leben. Vielleicht erinnern wir sie als «Hochwassermarken» der Bewusstheit, der Lebendigkeit, als Momente unserer besten Verfassung, als jene Augenblicke, in denen wir am meisten wir selbst waren.
Vielleicht aber versuchen wir auch die Erinnerung an jene Momente zu verdrängen, denn jene Springflut der Kommunion ist eine Bedrohung der defensiven Isolation, in der wir uns geschützt vorkommen.
Die Mauern, hinter denen wir uns verstecken, mögen dem Ansturm des Lebens lange standhalten. Aber ganz plötzlich, an irgendeinem Tag, wird, wie in dem folgenden Bericht aus «The Protean Body» von Don Johnson, die große Überraschung über uns einbrechen:
«Ich ging hinaus auf eine Mole im Golf von Mexico. Ich hörte auf zu sein. Ich erfuhr mich als Teil des Windes, der von der See hereinkam, als Bestandteil der Bewegung von Wasser und Fischen, der Sonnenstrahlen, der Farben der Palmen und tropischen Blumen. Es gab keine Vorstellung mehr von Vergangenheit oder Zukunft. Und es war kein besonders seliges Erlebnis: es war furchterregend. Es war die Art ekstatischer Erfahrung, die ich mit einigem Aufwand an Energie zu vermeiden versucht hätte. Ich erlebte mich nicht als identisch mit Wasser, Wind und Licht, sondern als nähme ich teil am gleichen Bewegungssystem. Wir tanzten alle miteinander.»
In diesem großartigen Tanz sind Gebende und Empfangende eins.
Ganz plötzlich können wir erkennen, wie unwesentlich es ist, welche der beiden Rollen man in einem gegebenen Moment zu spielen hat.
Jenseits aller Zeit ruht unser wahres Selbst in vollkommener Stille in sich selbst.
Verwirklicht wird dies in der Zeit durch ein anmutiges Geben und Nehmen im Tanz des Lebens.
Wie bei einem sich schnell drehenden Kreisel sind Stille und Tanz eins.
Nur in jenem Einssein von Geben und Nehmen findet sich wahre Selbständigkeit. Jede andere Selbständigkeit ist Illusion. Das Wirkliche aber erweist sich am Ende immer als jeder Illusion überlegen.
Früher oder später wird es durchscheinen wie die Sonne durch den Nebel.
Das Leben, unser Lehrer, wird das besorgen. [FN 1) 24f.; 2-5) 24f.; 6) 27f.; ebenso: Geben und Empfangen (2008), in: Das Inspirationsbuch 2009]
Wer kennt nicht diesen Wendepunkt von denken zu danken aus eigener Erfahrung? Wir müssen nur an einen jener Augenblicke denken, die wir alle manchmal erleben, obwohl wir sie nur den Mystikern zutrauen.
Ganz unerwartet werden wir da plötzlich wach, fallen aus Zeit und Raum in eine unauslotbare Stille hinein und fühlen überwältigende Dankbarkeit in uns aufsteigen.
Ganz gleich wo uns das widerfährt ‒ auf einem Berggipfel, in einer Kathedrale, oder mitten im Verkehrsstau ‒ das ist ein mystisches Erlebnis.
Abraham Maslow erforschte solche «peak experiences», wie er sie nannte, vom Standpunkt der Psychologie.
Er fand, dass solche Erfahrungen bei ganz gewöhnlichen Menschen häufig sind und sich in keiner Weise von denen der Mystiker unterscheiden.
Ein Unterschied liegt vielmehr darin, dass die meisten von uns weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, und bald wieder «das Zufällige und Ungefähre» laut werden lassen, während die Mystiker aus der Stille leben.
Es steht auch uns frei das zu tun, und so unser Leben im Bleibenden zu verankern. Der Schlüssel dazu ist dankbares Leben. [Lebenskunst ‒ Leben aus der Stille (1982), 182 und AH 3-5) 156]
Denken Sie einmal an eine Erfahrung zurück, von der Sie sagen können: «So etwas macht das Leben lebenswert.»
Oder denken Sie an den Begriff «Gipfelerfahrung», ein ausgezeichneter Begriff, der unter anderem andeutet, dass es sich um etwas handelt, das aus Ihren normalen Erfahrungen herausragt, darüber steht.
Es ist ein Augenblick, in dem Sie sich irgendwie erhaben fühlen, oder wenigstens erhabener als sonst.
Und es ist nur ein Augenblick, auch wenn er lange dauern kann, vielleicht sogar eine Stunde; selbst dann erscheint so eine Erfahrung wie ein Augenblick. Immer wird sie als ein Punkt innerhalb der Zeit empfunden, so wie auch ein Berggipfel immer ein Punkt ist.
Es kann ein hoher oder ein niedriger Gipfel sein; worauf es jedoch ankommt, ist, dass ein Gipfel erreicht wird.
Wenn Sie nun Ihren Tag oder Ihr Leben oder irgendeine Zeitspanne überblicken, dann sehen Sie diese Gipfel herausragen, und es sind Punkte einer erhabenen Erfahrung, Punkte einer Erfahrung des Schauens, einer Erkenntnis, wenn Sie so wollen.
Das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dieser Vorstellung vom Gipfel:
Wenn Sie sich auf einem Gipfel befinden, dann haben Sie eine bessere Sicht. Sie können nach allen Seiten sehen. Solange Sie noch aufsteigen, wird ein Teil Ihrer Sicht, ein Teil des Horizonts, von dem Gipfel verdeckt, den Sie ersteigen. Aber einmal auf dem Gipfel angekommen, erhalten Sie einen Einblick in den Sinn, in die Bedeutung.
Es ist ein Augenblick, in dem Sie vom Sinn wirklich berührt werden. Das ist die Art des Erkennens, von der jetzt die Rede sein soll.
Es bedeutet nicht, die Lösung für ein Bündel konkreter Probleme zu finden; es ist vielmehr ein Augenblick uneingeschränkten Erkennens. Sie setzen Ihrem Erkennen keine Grenzen.
Versuchen Sie nun einmal, an solch einen Augenblick zu denken und ihn sich zu vergegenwärtigen, und zwar sehr präzise und fest umrissen. Verallgemeinerungen werden uns hier nichts nützen.
Es braucht kein riesiger Gipfel zu sein, das ist sowieso sehr selten im Leben. Ein Ameisenhügel ist auch ein Gipfel, also genügt uns alles, was einen Gipfel darstellt.
Versuchen Sie es einfach, erinnern Sie sich ganz konkret an eine Erfahrung, in der Sie etwas sehr tief berührt hat, eine Erfahrung, in der Sie auf irgendeine Weise über die normale Ebene erhoben wurden. [Der Mönch in uns (1978); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2016), 49f.]
[Ergänzend:
1. GIPFELERLEBNIS, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 140f.:
«Peak Experience» nannte Abraham Maslow (1908-1970) Höhepunkte, also ‹Gipfel› menschlicher Erfahrung, Augenblicke bewussten All-Einsseins, wie wir sie aus Berichten der großen Mystiker kennen. Maslows Forschung konnte aber zeigen, dass jeder psychisch gesunde Mensch gelegentlich Gipfelerlebnisse hat, oft unbeachtet oder sogar aus dem Bewusstsein verdrängt. Was hingegen die großen Mystiker auszeichnet, ist, dass sie ihren Alltag dem All-Einheitsbewusstsein gemäß gestaltet haben. Maslow zeigte, dass uns in Gipfelerlebnissen alle großen Werte ‒ wie etwa das Schöne, Wahre, Gute ‒ gegenwärtige Wirklichkeit sind. Es gilt nun, diese Werte, dem Beispiel der Mystiker folgend, in unser tägliches Leben einfließen zu lassen. Gipfelerlebnisse sind immer ein überraschendes Geschenk. Wir können uns nur auf sie vorbereiten, sie aber nicht erzwingen. Aufreizenden psychischen Erfahrungen nachzujagen, das stellt immer wieder eine Gefahr für spirituell suchende Menschen dar. Die große Aufgabe ist es, uns genügsam für das Empfangene dankbar zu erweisen. Dies tun wir dadurch, dass wir alle Energie darauf verwenden, unser Leben dem uns bereits Geschenkten gemäß zu gestalten.»
2. GIPFELERLEBNIS in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 170f.; 2-5) 174; 6) 173):
«Abraham Maslow, der den Begriff Gipfelerlebnis in die Psychologie einführte, bestand darauf, dass es keine Möglichkeit gäbe, es von der mystischen Erfahrung, wie sie die Mystiker beschreiben, zu unterscheiden. Und doch haben die meisten (wenn nicht alle) von uns Gipfelerlebnisse, Momente, in denen wir überwältigt sind von einem Bewusstsein der Zugehörigkeit, universellen Heil- und Heiligseins, Augenblicke, in denen das Leben Sinn hat. Annehmen ist ein Wort, das häufig bei der Beschreibung von Gipfelerlebnissen benutzt wird. Einen Moment lang, der jenseits von Zeit zu sein scheint, fühlen wir uns ganz und gar angenommen und können alles, was ist, voll und ganz akzeptieren, annehmen. Dankbarkeit durchdringt jeden Aspekt dieser Gipfelerlebnisse. Das Religiöse an jeder Religion wird durch diese Momente überwältigender Dankbarkeit genährt. Wenn wir unsere eigene Religion als gültig betrachten, so können wir jenes Urteil nur auf jene Erfahrungen gesteigerter Bewusstheit gründen. Jede Religion wird gemessen an Standards, die man von jenen Gipfeln dankbaren Annehmens erspähte. Und darum können wir Dankbarkeit die Wurzel aller Religion nennen.»
3. Mehr als alles (2010): Toni Zimmermann zitiert David Steindl-Rast.
4. Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Ein Jahrzehnt später zeigte Abraham Maslow von der Psychologie her, dass Gipfelerlebnisse (‹Peak Experiences›) praktisch im Leben jedes Menschen vorkommen, und von klassischen mystischen Erlebnissen in keiner Weise unterscheidbar sind. Welche Tragweite Maslows Pionierarbeit für die Geistesgeschichte besitzt, wird auch heute noch nicht voll gewürdigt.»
5. Die Begebenheit auf einer Mole im Golf von Mexiko findet sich nicht nur im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018), 28 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 25], sondern auch im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 114f.:
Bruder David: «Es handelt sich um die Schilderung eines Freundes von mir, Don Johnson, in seinem Buch ‹The Protean Body›.»
Hinweis: Kapitel 8 «Auf heiligem Grund stehen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 112-119, übersetzt von Bernardin Schellenberger, ist inhaltlich identisch mit Sakramentales Leben ‒ «Zieh' deine Schuhe aus! (1979), übersetzt von Eve Landis.
6. Audios:
Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Mitschrift:
(09:36) «Jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker» (Abraham Maslow): Gipfelerfahrungen im Alltag
Das Gottesbild des modernen Menschen (2009):
Teil 1:
(10:16) Abraham Maslow nennt die mystischen Erlebnisse des All-Einsseins Gipfelerlebnisse / (13:18) Der Mystiker ist nicht ein besonderer Mensch, jeder Mensch ist ein besonderer Mystiker. Die großen Mystiker lassen diese Erlebnisse in den Alltag einfließen ‒ Thomas Mertons Gipfelerlebnis und Beispiele in unserem Alltag
Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Spiritualität, volle Lebendigkeit, Peak Experience (Maslow) und Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 02-03
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Audio: Mystische Erfahrung ‒ Anstoß zur Praxis dankbaren Lebens und Audio: Wir alle haben diese Gipfelerlebnisse]
Glaube
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wir haben falsche Vorstellungen vom Glauben; wir meinen, Glaube bedeutet: etwas glauben. Ja, Glaube bedeutet tatsächlich: etwas zu glauben. Wenn wir jemandem wirklich vertrauen, wenn wir wirklich an einen Freund glauben, dann bedeutet das auch, dass wir bestimmte Dinge über diesen Freund glauben. Aber das ist allenfalls zweitrangig, und wenn wir daran hängenbleiben, dann werden wir nie die Wurzeln des Glaubens erkennen. Das ist es nicht, was Glaube bedeutet. Glauben heißt nicht, einigen Dogmas oder Glaubensartikeln oder etwas Ähnlichem beizupflichten.
Letztlich ist Glaube mutiges Vertrauen ins Leben,[1]
ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns,
das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.So dem Leben zu vertrauen heißt:
fest damit rechnen,
dass jeder Tag uns genau das bringen wird,
was wir brauchen ‒
wenn es auch nicht immer das ist,
was wir uns wünschen.
Daher werden wir keine Energie an inneren Widerstand verschwenden oder an Wunschträume; dann haben wir mehr Energie verfügbar, um mit der gegebenen Lage umzugehen – genau dort, wo das Schicksal uns hingestellt hat.
Wir verlassen uns eben darauf, dass die Lebensquelle uns schon gibt, was für uns gut ist, ob wir es immer gleich erkennen oder nicht.
Menschen, die so leben, gleichen Schwimmern in einem reißenden Strom. Sie liefern sich der Strömung nicht willenlos aus, aber sie widerstehen ihr auch nicht; sie passen sich vielmehr mit jeder Bewegung dem Trift oder Sog an, und nützen den Lauf des Wassers zielstrebig und geschickt so aus, dass sie sich an dem Abenteuer richtig freuen können.
Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als solch gläubiges Vertrauen? Je bewusster wir leben, umso klarer erkennen wir, was für ein unfassbares Geschenk es ist, überhaupt lebendig zu sein. Diese Einsicht löst mit jedem Atemzug tiefe Dankbarkeit aus und öffnet dadurch unser Herz für immer größere Lebensfreude.[2]
Die jeweilige Ausprägung, die unser religiöser Glaube annimmt, hängt völlig vom Ort und der Zeit und den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen ab, in die wir hineingeboren werden, und davon gibt es eine unendliche Vielfalt. Aber die Essenz unseres Glaubens ist immer und überall dieselbe, nämlich ein mutiges Vertrauen in das Leben.
Glaube gegen Furcht ‒ das ist der Zentralpunkt der Religion. Das ist auch der Schlüssel zu unserem Verhältnis zur Wahrheit. Wir wissen wohl, dass Religion etwas mit Wahrheit zu tun hat, aber es ist keine Wahrheit, die wir an uns raffen und nach Hause tragen könnten. Wenn wir gewisse Wahrheiten an uns reißen und festhalten, dann geraten wir mit all denen in Konflikt, die diese Wahrheiten nicht besitzen. Wenn man es genau betrachtet, besitzt jeder eine andere Wahrheit; es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt. Wenn wir also darauf bestehen, dass Wahrheit etwas sei, was wir besitzen können, dann befinden wir uns im Widerspruch mit der ganzen Welt.
Aber die wirkliche Wahrheit,
um die es uns geht,
ist etwas, das uns besitzt;
sie besitzt uns,
wenn wir uns hingeben,
in jenen Augenblicken,
in denen wir uns wirklich öffnen.Es gibt nur eine Wahrheit,
und sie nimmt jeden
auf eigene Weise in Besitz.Es muss eine unendliche Vielfalt von Wegen geben,
auf denen die Wahrheit
jeden von uns in Besitz nimmt,
denn in dieser Vielfalt blüht die Einheit der Wahrheit auf.
Und das ist schön, und wir müssen es bejahen, und wir müssen es feiern. Das ist Leben, und das ist auch religiöses Leben. Es bedeutet, sich selbst der Wahrheit hinzugeben, nicht, die Wahrheit zu nehmen, nach ihr zu greifen, sie festzuhalten.
Nur die Wahrheit, der wir uns hingeben, wird uns frei machen.
Die eine Wahrheit, die für jeden von uns gilt, lautet, den Mut aufzubringen, uns der Wahrheit hinzugeben. Furcht klammert sich fest.[3]
Glaube ist Vertrauen und Mut.
Sein Gegenteil ist Furchtsamkeit.
Glaube ist der Mut loszulassen.
Furcht hält fest.[4]
Wenn wir in uns gehen und uns fragen, was uns auf dieser Ebene des An-etwas-Glaubens am schwersten fällt, dann werden wohl viele von uns zugeben müssen: Das Schwierigste ist es, an die Liebe eines anderen Menschen wirklich zu glauben. Ja, es gibt Liebesbeweise und Proben, an denen sich die Liebe eines Anderen zeigt, aber letztlich müssen wir uns doch darauf verlassen.
Es kommt alles auf dieses Sich-verlassen an.
Und damit weist die Sprache schon hin auf den entscheidenden Punkt:
Was wir verlassen müssen, ist unser kleines Ich, das sich in die Illusion des Abgetrenntseins verkapselt; und wir verlassen uns a u f
etwas ‒ bewegen uns a u f etwas anderes hin ‒, nämlich auf unser großes Selbst, in dem Du und Ich eins sind, obwohl sie unterschieden bleiben.[5]
«Ich bin durch dich so ich» (E. E. Cummings.)
Nur einem Du gegenüber hat es überhaupt Sinn, Ich zu sagen. Dass ein Du mir vertraut, macht mein Selbstvertrauen erst möglich. Die Begegnung von Ich und Du ist der Quellgrund, aus dem gläubiges Vertrauen entspringt.
Ich werde ich, indem ich dir vertraue.
Das Ich,
das diesem Vertrauen entstammt,
glaubt eben;
es ist unser wahres Selbst,
das Ich, das im Credo sagt:
Ich glaube.
Und du, Leserin oder Leser? Wann und wie bist du diesem Paradoxon begegnet? Krame nicht in deinen Erinnerungen nach äußerlich auffallenden Erlebnissen. Unter denen wirst du kaum finden, worum es hier geht. Vielleicht hat auch dich ein spielerischer Augenblick in deiner Kindheit jenen tiefen Glauben erleben lassen, den man nie vergisst, oft vernachlässigt, aber doch jederzeit neu erwecken kann.[6]
Vielleicht erinnerst du dich an einen Augenblick, in dem du das Gefühl hattest, wirklich du selber zu sein, gerade deshalb, weil du irgendwie über Dich hinausgehoben wurdest ‒ von Musik, vom hochgewölbten Himmel einer sternklaren Nacht, vom Anblick eines schlafenden Kindes, das an seinem Daumen saugt.
Plötzlich verblassen, verschwimmen, verschwinden die scharfen Grenzen zwischen dir und der Welt rundum, ja zwischen dir und dem Urgrund, aus dem alles aufsteigt und in den alles zurückfließt.
In solchen Augenblicken verkosten wir flüchtig, was Mystiker die Erfahrung des All-eins-seins nannten.
Es scheint fast unmöglich, solches auch nur einmal zu erleben, ohne fürs Leben dadurch bestimmt zu sein; unser innigstes Verlangen weist ja in dieser Richtung. Doch Gipfelerlebnisse gehen vorüber und verblassen in der Erinnerung; das lässt sich nicht aufhalten.
Wir haben dann aber die Wahl: Wir können das Erfahrene vergessen oder wir können danach handeln und das heißt, gläubig leben.
Je mehr unsere Haltung im täglichen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen unserem Bewusstsein innerster Verbundenheit mit dem Urgrund allen Seins entspricht, umso höher entwickelt sich unsere Gottverbundenheit und umso klarer finden wir Sinn im Leben.
Solcher Glaube verlangt, wie die Pflege jeder persönlichen Beziehung wache Kreativität. Ohne sie sinkt unsere Gottesbeziehung zu einer Art Halbschlaf ab. Unsere existentielle Bezogenheit auf Gott kann sogar als eine lästige Abhängigkeit missverstanden werden, von der wir uns dann zu «befreien» suchen.
Im innersten Herzen vertrauend anzuerkennen
«ich bin Dein, Du bist mein»,
das ist der Glaube, der uns frei und lebendig macht.[7]
Mit anderen g e m e i n s a m diesen tiefsten, alle Menschen verbindenden Glauben zu bekennen, stärkt das Bewusstsein weltweiter Gemeinschaft.
Die Erfahrung unserer Zugehörigkeit zum gemeinsamen Seinsgrund (den freilich nicht alle Gott zu nennen brauchen) haben wir mit allen Menschen gemein. Sie ist auch die Grundlage für unsere gegenseitige Zusammengehörigkeit.
Nichts dürfte heute notwendiger sein als dieses weltweite Gemeinschaftsbewusstsein aller Menschen zu fördern, das sich dann auf Tiere, Pflanzen und selbst auf die unbelebte Natur ausweitet.
Es gibt viele Glaubensüberzeugungen, aber nur einen Glauben.
Wir müssen lernen, unsere Überzeugungen weniger wichtig zu nehmen als die Urgebärde gläubigen Vertrauens.
Glaubensüberzeugungen haben die Kraft,
uns zu entzweien,
Glaube aber hat die noch größere Kraft,
uns zu einen.[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-8]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Anlässlich der Präsentation seines neuen Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet in Freiburg, München und Wien hielt Bruder David die Vorträge in den Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010); siehe auch die Mitschrift des Vortrags in Freiburg und die Mitschrift des Vortrags in Wien.
Bruder David im Vortrag in Wien am 27. Oktober 2010:
(11:31) «Credo: Das lateinische Wort kommt von zwei Wurzeln her; das eine ist Cor ‒ das Herz ‒, und das andere do, dare ‒ ‹ich gebe› ‒ ‹ich schenke mein Herz.› Wer also Credo sagt, der sagt nicht: ‹Ich glaube an etwas, was man glauben kann oder nicht glauben kann.›
Es heißt: ‹Ich drücke mein tiefstes Vertrauen aus. Ich setzte mein Herz auf das, was ich jetzt da aussprechen werde. Ich verlasse mich vollkommen darauf. Ich verlasse mich.›
Worauf kann ich mich denn wirklich letztlich verlassen? Das ist die Grundfrage, wenn es um den Glauben geht.»
(47:27) «Für uns ‒ ich nenne die drei Traditionen [Judentum, Christentum und den Islam] gerne die Amen-Traditionen, denn sie haben das Wort Amen gemeinsam, und das ist ja kein Zufall, denn Amen ist die Antwort auf die Amunah Gottes, und die Amunah ist die Verlässlichkeit Gottes. Wir verlassen uns auf die Verlässlichkeit Gottes:
In diesem einen Wort A m e n liegt schon der ganze Glaube drinnen:
Ich verlasse mich auf die Verlässlichkeit Gottes.»
1.2. Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:
(43:06) «Die Glaubenssätze sind Sätze, in denen sich der Glaube ausdrückt, im Laufe der Tradition, zu verschiedenen Zeiten, ganz verschieden; die vertragen sich nicht miteinander, da sie sich ganz verschieden voneinander verhalten.
Wir können aber durch diese Glaubenssätze, weil sie eben Ausdrücke des Urglaubens sind, zu diesem Urglauben durchstoßen.
Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.
Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.
Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.
Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.
Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.
Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»
1.3. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag: Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch:
(27:54) Sich auf das große Geheimnis verlassen, heißt glauben
1.4. Im Eröffnungsvortrag ‹Stärke unsern Glauben› (Lk 17,5) in der Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David hin, wie glauben innigst verbunden ist mit loben, geloben, bezeugen, tragen und getragen werden ‒ die Wahr-Empfangende Seite des Glaubens. Wir müssen diese Seite des Glaubens wieder entdecken und leben. Sie ist uns verloren gegangen durch die Überbetonung der Seite, die begreifen, wahr-nehmen, besprechen, versprechen, wahr-halten will.
2. Weitere Texte
2.1. Vertrauen; Lebensvertrauen; Lebensvertrauen und Dankbarkeit; Gottvertrauen im Leiden und Sterben; Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück; Seien wir offen für das Unvorstellbare: Lebens- und Gottvertrauen als Quelle wahrer Hoffnung (2024); siehe auch Hoffnungsfroh leben
2.2. Bruder David im Gespräch mit Anselm Grün zu Glaubensfragen im Buch Das glauben wir (2015): ‹Spiritualität für unsere Zeit›; siehe auch das Gespräch von Johannes Kaup, der das Buch herausgegeben hat, mit Bruder David in den Audios Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
2.3. Im Buch Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 82f., 88, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 81, 86f.], im Kapitel «Glaube: Vertrauen auf den Geber»:
«Es mag überraschend sein, aber gerade diese Bedeutung von Glaube wird von der authentischen christlichen Tradition bezeugt.
In den Evangelien, so sagen uns die Sprachgelehrten, gibt es keine einzige Stelle, in der das griechische Wort für ‹Glaube› Überzeugungen bedeutet. Wenn Jesus beispielsweise den ‹Glauben› des römischen Beamten bewundert, dann heißt das, dass er beeindruckt ist von dem tiefen Vertrauen des Mannes, und nicht etwa von dessen religiösen Überzeugungen. Und als Jesus die Jünger für ihren ‹Mangel an Glauben› tadelt, da meint er ihren Mangel an mutigem Vertrauen; es war keine Rüge für den Abfall von einem oder dem anderen Glaubenssatz.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: ein Glaubensbekenntnis existierte noch gar nicht. Glaube bedeutete das mutige Vertrauen auf Jesus und die frohe Botschaft, die er lebte und predigte. Später zwar sollte sich dieses Vertrauen zu expliziten Glaubenssätzen kristallisieren. Der Ausgangspunkt aber ist vertrauender Mut, nicht ein für wahr halten, sondern Glaube schlechthin.
Ausgangspunkte sind in der Bibel von allergrößter Bedeutung. Der erste Vers, das erste Bild, der Anfang einer Geschichte drücken oft in Kurzform das Wesentliche der ganzen Geschichte aus. Diese Tatsache sollten wir beim Bibellesen nicht vergessen. Was ist beispielsweise der eigentliche Anfang der Geschichte unseres Glaubens, wie die Bibel sie erzählt? Es beginnt mit Abraham, den wir ‹unseren Vater im Glauben› nennen. Wenn Glaube zuallererst darin bestünde an i r g e n d e t w a s zu glauben, dann hätte Gott sicherlich damit begonnen, Abraham eine Reihe von Glaubenssätzen zu vermitteln. Glauben heißt aber in erster Linie, an j e m a n d e n
zu glauben. Gott gibt zwar Abraham Versprechungen, an die er glauben soll, aber zuerst fordert Gott sein Vertrauen heraus. Glaube ist am Anfang praktisch ohne jeden Inhalt. Es ist reines Vertrauen.» (82f., bzw. 81)
«Jener ursprüngliche Herzensmut, den wir aus Momenten aufrichtiger Dankbarkeit kennen, kommt vollendetem Glauben im biblischen Sinne näher, als wir erhofft hätten. Es ist jedoch eine Sache, jenen Glauben in einem enthusiastischen Augenblick zu erleben, eine ganz andere aber, unseren Mut im Wellengang des täglichen Lebens ‹seetüchtig› zu erhalten. Dies ist der Punkt, an dem unsere Glaubensüberzeugungen ins Spiel kommen. Sie sollen helfen, unseren Glauben über Wasser zu halten, sollen unseren Mut erneuern. Bedauerlicherweise erfüllen unsere Überzeugungen diese Funktion häufig nicht. Anstatt unseren Glauben wieder aufzurichten, ziehen sie ihn oft in die Tiefe.» (88, bzw. 86f.)]
____________________
[1] Der Mönch in uns, Beitrag von Bruder David im Buch Antwort der Erde (1978), 35. Das Zitat: «Glauben heißt nicht, einigen Dogmas oder Glaubensartikeln oder etwas Ähnlichem beizupflichten. Letztlich ist Glaube mutiges Vertrauen ins Leben.» ‒ in der Übersetzung von Eve Landis ‒ ist dem Buch entnommen: Einfach leben ‒ dankbar leben (2014): ‹365 Inspirationen›, hrsg. von Rudolf Walter, 90 (= 8. Juni).
[2] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube an den Heiligen Geist», 184; siehe auch in Einfach leben ‒ dankbar leben (2014), 95 (= 20. Juni): «Was wäre für ein erfülltes, geglücktes Leben wichtiger als gläubiges Vertrauen? …»
[3] Der Mönch in uns (1978), 35f., Forts. des Textes in Anm. 1
[4] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 88, [bzw. Fülle und Nichts (2015), 87]; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben (1978):
«Glauben ist der Mut loszulassen. Furcht hält fest.» (92, = 14. Juni)
«Glaube ist Loslassen. Sogar in religiösen Traditionen, welche den Ausdruck Glauben vielleicht nicht benützen, finden wir diese Grundlage, nämlich: das Loslassen.» (88, = 3. Juni, Quelle: Der Mönch in uns (1978), übersetzt von Eve Landis)
[5] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube», 22f.
[7] Ebd. «Ich glaube an Gott», 28f.
[8] Ebd. 30f.; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben (2014): ‹365 Inspirationen›, 94 (= 19. Juni): «Es gibt viele Glaubensüberzeugungen, aber nur einen Glauben. …»
Glaube, Angst, Zweifel
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Durch alle Buddhisten, durch alle Hindus, durch alle Christen, und durch jeden Einzelnen von uns, verläuft die Linie zwischen der richtigen Weise, religiös zu sein, und der falschen Weise, religiös zu sein.
Furcht in ihrer religiösen Ausdrucksweise nimmt verschiedenste Gestalt an, sei es Dogmatismus, wo es am offensichtlichsten ist, oder Szientismus, der eigentlich nur eine andere Form des Dogmatismus ist, oder sei es Fundamentalismus.
Auch der Moralismus[1] ist eine Gestalt der Furcht; denn er bedeutet, dass man sich an etwas festhält, das man tun kann ‒ es ist das, was Paulus das Gesetz im Gegensatz zur Gnade genannt hat, oder die Werke im Gegensatz zum Glauben.
Man tut etwas: solange man es tun kann, hat man etwas im Griff. Man braucht auf nichts zu vertrauen; man vertraut auf das, was man erreichen und handhaben kann.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten gibt, religiös zu sein.
Wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, dann will ich die eine Art die fundamentalistische nennen, das ist die Religion der Furcht.
Es ist zwar ganz offensichtlich, dass sie in meinem Sinne eigentlich gar keine Religion ist, aber sie wird nun einmal Religion genannt, und so wollen wir es bei diesem falschen Ausdruck belassen: es ist die Affenreligion, die äffende Religion, die Religion der Furcht.
Und im Gegensatz dazu steht die katholische Religion, aber wir wollen katholisch bitte mit einem kleinen «k» schreiben, denn das große Problem der Katholiken besteht darin, dass sie nicht katholisch genug sind. Es gibt katholische Buddhisten, die viel katholischer als die Katholiken mit dem großen «K» sind,[2] und es gibt katholische Juden und katholische Muslims und katholische Hindus. Es gibt sogar katholische Atheisten, aber auch fundamentalistische Atheisten. Hier eben verläuft die Trennungslinie.[3]
Richtig verstanden ist katholisch nicht das Markenzeichen einer bestimmten Gruppe von Christen ‒ «allumfassende Teilgruppe» ist ein offensichtlich widersinniger Begriff ‒, sondern kennzeichnet die Gemeinschaft aller, die mit dem uns Menschen angeborenen Ur-Glauben dem Leben vertrauen.
Wer sollte da ausgeschlossen sein?
Selbst Tiere und Pflanzen haben ja auf ihre eigene Art dieses Ur-Vertrauen. Auch wenn dieser Glaube manchmal einem Menschen selber nicht bewusst ist, im tiefsten Herzen bleibt er immer lebendig.
Schon früh hat man eine Definition für katholischen Glauben gefunden, die sich für uns heute in einem neuen Licht gültig erweist. Wahrhaft «katholisch» sei, so definierte um etwa 450 der Kirchenvater Vinzenz von Lérins,
jener Glaube, der
«überall, immer, von allen geglaubt wurde».
«Alle» bedeutete damals alle Christen, heute aber ist unser Horizont weiter geworden. Dürfen wir da gläubige Nicht-Christen noch ausschließen?»[4]
[Audio 00:00] «Ich glaube, dass viele von uns zugeben werden, dass das Gottesbild, das uns in unserer Kindheit gegeben wurde, das zeitbedingte Gottesbild, heute in Krise geraten ist. Aber ich möchte diese Krise als Wachstumskrise sehen. Denn wir können ja nur wachsen und uns entwickeln von Krise zu Krise.[5] So entwickeln wir uns eben im menschlichen Leben. Ich möchte dieser Krise in unserem Gottesverständnis ein sehr positives Vorzeichen geben.
Wenn wir über Glaubensschwierigkeiten hier sprechen, so ist natürlich der Glaube selbst immer mit der einen ganz großen Schwierigkeit verbunden, wenn wir Glauben richtig verstehen, nämlich uns auf Gott zu verlassen.
Uns zu verlassen, uns selbst zu verlassen auf Gott hin.
Das ist die eigentliche Glaubensbewegung und die innere Bewegung des Gläubigen, und das ist immer schwierig. Und über diese Schwierigkeit kann uns niemand hinweghelfen, nur Gott selbst. Es ist die Schwierigkeit, die in der Geschichte so schön ausgedrückt ist von dem Bergsteiger, der beim Klettern abrutscht und sich gerade noch mit den Fingerspitzen festhalten kann und hier über dem Abgrund hängt, wie wir alle manchmal im Leben, und aufschreit zum Himmel:
‹Höre mich doch dort oben, Hilfe, Hilfe›!
Und von oben kommt die große Stimme:
‹Ja, hier bin ich, lass dich in meine Hände fallen.›
Er überlegt sich das und ruft dann noch einmal:
‹Ist vielleicht sonst noch jemand dort oben›?
Das ist die Glaubensschwierigkeit, mit der wir ringen müssen, und über die uns eben sonst niemand hinweghelfen kann.»
(38:29) «Die Frage ‹Zweifel›, das ist eine ganz grundlegende Frage. Der Zweifel gehört zu dem Glauben, in dem man sich auf Gott verlässt, ich mich verlasse auf Gott hin. Dazu gehört der Zweifel. Zweifel im Sinne von Angst zum Beispiel. Zweifel ist eine Form von Angst: Kann ich mich da wirklich darauf verlassen? Kann ich mich wirklich darauf einlassen?
Und dieser Zweifel soll uns nicht stören.
Er gehört zum Glauben dazu.
Und zwar, je größer der Glaube,
und je tiefer unser uns auf Gott verlassen ist,
umso größer wird der Zweifel.
Wenn ich hier am Boden stehe, habe ich keine Angst, irgendwo herunterzufallen. Wenn ich auf den Stuhl steige, gehört dazu schon eine gewisse Angst, vielleicht herunterzufallen. Wenn ich auf eine hohe Leiter hinaufklettere, wird die Angst immer größer. ‹Ausgesetzt auf den Bergen›[6] usw.
Unsere Angst, unser Zweifel zeigt uns nur, wie hoch wir schon im Glauben gekommen sind. Oder das andere Bild vom Fahrradfahren:
Je schneller ich fahre,
umso stärker der Gegenwind.
Der Zweifel ist der Gegenwind.
Unser Glaube erzeugt den Zweifel.
Und wir sollen stolz sein auf unsern Zweifel.
Ich habe so viel Zweifel:
Solange der Glaube noch eine Nasenlänge voraus ist,
kann der Zweifel gar nicht groß genug sein.»[7]
Glauben ist für das Ich, um das es hier geht, unendlich mehr als ein Für-wahr-halten; und nur das Ich, das in diesem Vollsinn glaubt, ist unser wahres menschliches Selbst.
Das kleine Ich ‒ unser Ego, das letztlich aus einer Täuschung entspringt ‒ kann bestenfalls etwas als tatsächlich anerkennen; glauben kann es nicht.
Und warum nicht? Weil der Glaube nicht eine Ansammlung von Behauptungen ist, die ein gläubiger Mensch für wahr hält;
der Glaube ist vielmehr tiefstes, wagemutiges Vertrauen.
Sein Gegenteil ist nicht Zweifel, sondern Furchtsamkeit.
Angst und Furchtsamkeit aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt.
Kein Wunder, dass es in seiner Vereinzelung den Rest der Welt als drohend und beängstigend erlebt.
Unser wahres Ich ist im Ganzen des Seins eingebettet ‒ wovor soll es da Angst haben?
Wenn wir also sagen «Ich glaube» und beiden Wörtern ihre volle Bedeutung geben, treten wir damit in die Größe und Tiefe wahren Menschseins ein.
Wir können das zur Verdeutlichung etwas dramatisch ausmalen: Da tritt ein Menschlein in ein Kirchlein ‒ alles recht zahm und alltäglich, bis es zum Credo kommt und zum «ich glaube».
Für Augen, die sehen könnten, was sich da in Wirklichkeit ereignet, flögen plötzlich Dach und Kirchturm davon, die Mauern würden zerstieben, Raum und Zeit wären nicht mehr.
Es betet jetzt das eine,
allumfassende menschliche Ich
im ewigen Jetzt.[8]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 3f. und 7f.]
[Ergänzend:
1. Audios
Anlässlich der Präsentation seines neuen Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet in Freiburg, München und Wien hielt Bruder David die Vorträge in den Audios Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010); siehe auch die Mitschrift des Vortrags in Freiburg und die Mitschrift des Vortrags in Wien.
Im zweiten Teil seiner Vorträge fragt Bruder David: «Wer sind a l l e , die dieser e i n e Glaube verbindet?» und spricht vom religiösen Glauben:
«Dieser Glaube, der uns mit a l l e n verbindet, ist daher der wahrhaft religiöse Glaube.»
Religiosität ist aber etwas anderes als die Religionen.
Im dritten Teil fragt Bruder David, wie wir diesen e i n e n Glauben, der a l l e verbindet, pflegen und vertiefen können. Und sein erster Vorschlag ist:
«Furchtlos umgehen mit andern.»
2. Weitere Texte
2.1. Orientierung finden (2021): «Schlüsselworte für ein erfülltes Leben», Kapitel «Vertrauen ‒ unsere Antwort auf Angst», 73-75:
«Glauben ‒ im spirituellen Sinn ‒ heißt nicht ‹etwas für wahr halten›, sondern sich vertrauend ‹auf etwas oder jemanden verlassen.›
Diese Unterscheidung wird gewöhnlich übersehen, wenn jemand die Frage ‹Glaubst du an Gott›? nicht anders stellt als etwa die Frage ‹Glaubst du an Gespenster›? Gibt es sie oder nicht? Es geht hier um bloße Meinung. Der Glaube an Gott jedoch ist nicht Behauptung einer Meinung, sondern Ausdruck von tiefstem Vertrauen.
‹Glaubst du an Gott›? heißt:
‹Schenkst du dem Leben
und dem Geheimnis des Lebens Vertrauen›?
Diese beiden Fragen bedeuten genau das Gleiche. Aber die zweite Form der Fragestellung macht deutlich, dass es hier nicht um Meinung geht, sondern um Vertrauen.
Wir können dem Leben Vertrauen schenken oder uns fürchten.
Die Wahl zwischen diesen beiden Grundhaltungen steht uns frei.
Zu welcher Option wir neigen, erweist sich ganz praktisch an unsrem Lebensmut im Alltag.
Das Gegenteil von Glauben
ist ja nicht
Zweifel oder Unglaube,
sondern Furchtsamkeit.
Hier müssen wir wieder eine wichtige Unterscheidung beachten ‒ nämlich zwischen Angst und Furcht.
Im Rückspiegel unsres Lebens können wir sehen, dass aus Schicksalsschlägen, die uns erst große Angst bereiteten, dann doch ganz unerwartet gutes Neues geboren wurde.
Wir können, rückblickend auf solche Erfahrungen, Mut schöpfen, wenn unser Blick nach vorne keinen Ausweg erspähen kann.
Letztendlich läuft alles darauf hinaus, entweder darauf zu bestehen, dass das Leben so sein müsste, wie wir es uns wünschen, oder uns der Strömung des Lebens, wie es ist, anzuvertrauen ‒ nicht aber willenlos wie Treibholz, sondern wie Fische, die mit jeder Bewegung hellwach der Strömung antworten. So wach antwortet der Glaube dem Geheimnis des Lebens.
Um dem Geheimnis des Lebens zu antworten, ist es nicht einmal nötig darüber nachzudenken, dass es da ist und uns trägt. Schließlich antworten wir ja auch mit jeder unsrer Bewegungen auf die Schwerkraft, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Wir können aber lernen, immer achtsamer zu werden für die Schwerkraft und uns immer mehr auf sie zu verlassen. Darin liegt der Unterschied zwischen unbeholfenem Stolpern und Tanzen.
So wie das Gleichgewicht
ist auch das Vertrauen
entwicklungsfähig.
Glauben im spirituellen Sinn heißt also letztlich, sich im alltäglichen Tun mutig zu verlassen auf das unergründliche, unerschöpfliche und unaufhaltsam dynamische Geheimnis des Lebens, das alles durchwirkt.
Es heißt also, sich mit radikalem Vertrauen auf das Abenteuer der Wirklichkeit einzulassen ‒ und zwar der ganzen ‒ sowohl der inneren als auch der äußeren Wirklichkeit.
2.2. MUSIK DER STILLE (2023): «Komplet: der Kreis schließt sich», 135 und 131; siehe auch Einfach leben ‒ dankbar leben (2014): «365 Inspirationen», hrsg. von Rudolf Walter, 27 (= 28. Januar) und 187 (= 28. Dezember):
«Letztlich haben wir die Wahl, im Urvertrauen zu leben und das Universum als das Zuhause anzusehen, das Gott für uns geschaffen hat, oder in Angst und Misstrauen zu leben. Wir müssen uns entscheiden. Das ist die wichtigste Entscheidung, die wir jeden Tag, den wir verleben, zu treffen haben. Wenn wir vertrauen, sind wir in Frieden; wenn nicht, werden wir es nie sein.» (135)
«Die Furcht ist der Maßstab des Glaubens. Furcht an sich ist nichts, solange ihr der Glaube um eine Nasenlänge voraus ist. Je größer die Furcht, desto herrlicher der Mut des Glaubens, der sie überwindet.» (131)
In der deutschen Erstausgabe Musik der Stille (1995), 158, wie auch in Einfach leben ‒ dankbar leben (2014), 88 (= 2. und 4. Juni), steht: «Die Angst ist der Maßstab des Glaubens.» ‒ «Angst an sich ist nichts, solange der Glaube ihr um eine Nasenlänge voraus ist.»
Schon in der Neuausgabe des Buches Musik der Stille (2015) hat Bruder David das Wort «Angst» durch «Furcht» ersetzt, denn:
«Angst ist im Leben unvermeidlich, zwischen Furcht und Mut aber können wir wählen.»
MUSIK DER STILLE (2023): «Sext: Inbrunst und Hingabe», 94, 100-102; siehe auch Krise:
«Die Sext [das Stundengebet in der Mittagsstille] liegt in der Mitte des Tages, in der Mitte von allem Sie ist die Mitte unseres täglichen Lebens, die Zeit der Möglichkeiten und die Zeit der Krisen.» (94)
«Die Sext ist mit der Stille und dem Frieden des Mittags verbunden, aber sie lenkt den Blick auch auf Krisen und Gefahr. Eine Krise ist immer eine Läuterung, wenn wir sie richtig verstehen.» (100)
«Was wir in die Krise einbringen müssen, ist Vertrauen. Und ein vertrauensvolles Warten ist eine wahrhaft innige Form des Betens.
Wir müssen den Krisen ins Auge schauen und Herausforderungen annehmen.» (101f.);
Siehe auch dieses Zitat (101f.) in Einfach leben ‒ dankbar leben (2014), 181 (= 15. und 16. Dezember), und 181 (= 14. Dezember, Quelle: Credo, 18):
«Glaube ist tiefstes, wagemutiges Vertrauen. Sein Gegenteil sind Angst und Furchtsamkeit. Die aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt.»
«Glauben ist der Mut loszulassen. Furcht hält fest.»
(92, = 14. Juni, Quelle: Glaube: Anm. 4)
«Mit dem Glauben ist es so wie beim Radfahren. Wenn wir wirklich schnell fahren, dann wird der Gegenwind immer stärker. Die Angst ist der Gegenwind.» (91, = 11. Juni, Quelle: Gottesbild und Glaubenszweifel)]
__________________
[1] Bruder David im Vortrag Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 202; siehe das Thema auch in Religionen ‒ drei Ausdrucksformen:
«Nun ist ein Dogma nichts Schlechtes, jedenfalls meiner Meinung nach. Es ist eine Art Sprungbrett: soviel steht fest, nun wollen wir unsere Erkundung fortführen. Wir können hier nicht für alle Zeit stehen bleiben, wir gehen weiter, aber setzen unsere Untersuchung von einer sehr soliden Basis aus fort. Dogmatismus andererseits ist ganz verkehrt, denn Dogmatismus bleibt in der Lehrmeinung stecken.
Auch gegen Moral ist ganz offensichtlich nichts einzuwenden ‒ im Gegenteil, wir wären schlecht dran ohne sie ‒ starrer Moralismus aber ist von Übel. Und Moral schlägt sich immer in Gesetzen und moralischen Vorschriften nieder. Und ehe man sich's versieht, ist das Leben weitergegangen, die moralischen Vorschriften sind aber immer noch so, wie sie zu einer anderen Generation passten. Jetzt stehen diese Gesetze also im Widerspruch zur Religion, zur wirklichen Religion, meine ich. Wenn auch nur in ihrer besonderen Ausprägung ‒ es besteht dennoch ein Konflikt.
Und das gleiche gilt für Rituale. Wenn sie sich selbst überlassen bleiben, verkommen Rituale zu rituellem Formalismus: so haben wir es immer gemacht, deshalb machen wir es auch weiter so. Nun, anfangs war es ein Fest des Lebens, jetzt ist es nur noch eine Imitation davon, wie jemand anderer das Leben gefeiert hat, und das muss für einen selbst noch lange nicht feierlich sein ‒ vielleicht ist es ja schlicht langweilig.
Wir sehen also, wie Religion zu etwas werden kann, das mit Religion nichts mehr zu tun hat.»
[2] Katholisch mit dem großen ‹K› meint die ‹Römisch-Katholische Kirche›.
[3] Der Mönch in uns, Beitrag von Bruder David im Buch Antwort der Erde (1978), 36f.
[4] Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Die heilige katholische Kirche», 189f.
[5] Siehe auch das Thema ‹Wir wachsen auf von Krise zu Krise› im Eröffnungsvortrag Vom Rhythmus des Lebens in der 38. Internationalen Pädagogischen Werktragung Aufwachsen in Widersprüchen (1989), abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 16
[6] «Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens» ist der Beginn eines Gedichtes von Rilke, siehe das Gedicht in Sinne und Kind werden: Anm. 5
[7] Bruder David im Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003) ab (38:29)
[8] Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube», 18; siehe auch in Ergänzend: 2.2. das Zitat in Einfach leben ‒ dankbar leben (2014), 181 (= 14. Dezember):
«Glaube ist tiefstes, wagemutiges Vertrauen. Sein Gegenteil sind Angst und Furchtsamkeit. Die aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt.»
Gleichnisse Jesu
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Nach Markus zitiert Jesus das erste und wichtigste Gebot aus dem 5. Buch Mose, wo es heißt:
«Gott lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Dtn 6,5).
Jesus fügt aber noch hinzu: «und mit deinem ganzen Verstand» (Mk12,29).
Der Verstand ist zwar im hebräischen Begriff der Seele schon enthalten, hier hebt Jesus ihn aber noch ausdrücklich hervor. Gemeint ist nicht ein besonderes intellektuelles Vermögen, sondern der gesunde Menschenverstand.
Jesus ermächtigte seine Zuhörer dazu, sich mittels des ihnen von Gott geschenkten Verstandes selber ein Urteil zu bilden. Das können wir aus jenen Schichten der Evangelien herauslesen, die nach Sicht der Wissenschaft der ursprünglichen Lehre Jesu am nächsten kommen, nämlich den Gleichnissen.
Jesus lehrt in Gleichnissen. Das ist so bezeichnend für ihn, dass unser ältestes Evangelium (nach Markus) so weit geht, zu behaupten:
«Er sprach nur in Gleichnissen zu ihnen» (Mk 4,34).
Das typische Gleichnis Jesu wirkt ähnlich wie ein Witz: es überrascht und stellt uns auf gutmütige Weise vor uns selber bloß. Es geht in drei Schritten vor:
Häufig beginnt es mit einer Frage, die sich auf etwas allen Bekanntes bezieht. Zum Beispiel: «Wer von euch weiß nicht ...», dass ein wenig Sauerteig ausreicht, um Unmengen von Brot zu backen; dass uns das, was wir verlegt oder verloren haben, keine Ruhe lässt bis wir es finden; dass kein Geschäftsmann sich einen einzigartigen Gelegenheitskauf entgehen lassen wird; dass man in einem Weizenfeld nicht Unkraut jätet, weil man sonst alles zertrampelt; dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer; dass der Same, den wir säen seine Zeit braucht, ob wir Geduld aufbringen oder nicht; dass nicht alles, was wir aussäen, Frucht bringt, die Ernte uns am Ende aber trotzdem reich beschenkt.
Solche Fragen sind der erste Schritt. Die Antwort ist der zweite. Sie ist immer die gleiche: «Das weiß doch jeder!» sagen seine Zuhörer.
Aber damit ‒ und das ist der dritte Schritt ‒ sind wir auch schon auf den Leim gegangen. Wir müssen uns nämlich jetzt selber fragen: Wenn wir es so gut wissen, warum ziehen wir dann nicht die Konsequenz und wenden unsere Einsicht auf unsere Beziehung zu Gott an?
Dahinter steht nun die entscheidende Annahme: Gesunder Menschenverstand lehrt uns, was Gott will.
Wie schwerwiegend diese so einleuchtende Überzeugung ist, das muss man sich nur überlegen.
Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.
Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.
Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.
Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:
Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.
Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.
Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.
Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.
Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:
«Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.»
Und dann fügten sie vergleichend hinzu, «nicht wie die Schriftgelehrten» (Mk 1,22).
Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.
Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.
[Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 110-112]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: ‹Das wissen wir ja alle›! ‹Warum handelt ihr nicht danach›? der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: ‹Ihr wisst das doch›!
1.2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(30:59) Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit – Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – (38:46) ‹Wisst ihr das denn nicht›?, sagt Jesus ‒ das ist ja seine Lehrmethode ‒ und wir sagen: ‹Ja wir wissen es!› ‹Aha, ihr wisst es so gut, der Hausverstand sagt uns das ja schon›! ‹Ah, was für ein Hausverstand ist denn das›? Das ist das Welthaus, das ist der Haushalt, dem wir alle angehören, der Welthaushalt, der Gotteshaushalt, zu dem auch die Tiere und die Pflanzen gehören: Hausverstand ist ein wunderschönes Wort.
2. Weitere Texte
2.1. Common Sense (2014): ‹Der Common Sense in den Gleichnissen Jesu, 45, 46f., 49f.:
«Frisch wie am ersten Tag leuchtet die ursprüngliche Botschaft Jesu in seinen Gleichnissen und nirgends sonst ist sie überzeugender. Wie Goldkörnchen im Sand, so lagerten sich die Gleichnisse in den frühesten Schichten der christlichen Tradition ab. Sie bewahrten das lebendige Wort der Lehre unverfälschter als die meisten anderen Evangelientexte.
Dass Jesus in Gleichnissen lehrte, ist eine der wenigen wirklich sicheren historischen Aussagen über ihn. Markus, der früheste Evangelist, behauptet sogar: ‹Ohne Gleichnis redete er nicht zu ihnen› (4,34). Damit mag Markus übertreiben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir in den Gleichnissen das Herzstück der Botschaft Jesu finden können ‒ und zwar sowohl was den Inhalt angeht als auch die Form, in der er lehrte.
Die Gleichnisse enthalten nicht nur das Wesentliche seiner Botschaft; auch der Umstand, dass er sich für die Rede in Gleichnisform entschied, sagt etwas Entscheidendes darüber aus, worauf es ihm mit seiner Botschaft ankam.
Viele Gleichnisse Jesu sind jenen Sprichwörtern sehr ähnlich, in denen ein starkes Bild jäh eine Einsicht des Common Sense aufblitzen lässt. Zuweilen erweitert er das Bild zu einer kurzen Erzählung und bringt damit das zündende Element dieser Art von Sprichwörtern noch kräftiger zur Wirkung.
… Im dritten Schritt sieht Jesus uns fragend an. Er braucht die Frage eigentlich gar nicht auszusprechen: ‹Wenn das so offensichtlich ist ‒ warum handelt ihr dann nicht entsprechend? Wo ist denn euer gesunder Menschenverstand›?
Uns bleibt nur, über uns selbst den Kopf zu schütteln: Wir hätten zwar durchaus den gesunden Menschenverstand ‒ den Common Sense ‒, aber in den entscheidendsten Punkten unseres Lebens verhalten wir uns wie Dummköpfe. Das Gleichnis hat uns auf humorvolle Weise überführt. Ein Gleichnis Jesu nach dem anderen führt uns immer wieder spielerisch im gleichen Dreischritt unsere Torheit und Inkonsequenz vor Augen. Warum reizen uns die Gleichnisse Jesu in den Evangelien eigentlich nicht zum Lachen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Wie oft kann man der immer gleichen Zuhörerschaft ein und dieselbe geistreiche Pointe präsentieren? Nach einigen Wiederholungen würden auch die Geduldigsten müde abwinken. Aber trotzdem blieben die Bilder, die Jesus gebraucht hat, seinen Jüngern kostbar. Und so bewahrte man sie in der Tradition und wiederholte sie immer wieder ‒ und machte aus den spritzigen Formulierungen moralisierende Geschichten.
… Die Gleichnisse sind also keineswegs zahme Erbauungsgeschichten, sondern enthalten solche nicht ungefährliche Pointen, mit denen Jesus sich über die öffentliche Meinung lustig machte: Willst du wirklich wissen, wer dein Nächster ist? Warte nur, bis du in Not kommst, dann sagt es dir ganz unerwartet dein Common Sense! Dann kannst du ganz selbstverständlich sogar in einem verachteten Ausländer deinen Nächsten erkennen, ein Mitglied der Menschheitsfamilie.»
2.2. Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 184-186:
«Es gibt keinen anderen Lehrer in der Religionsgeschichte, der in diesem Maße Gleichnisse verwendet hat. Zwar war das Gleichnis nicht die ausschließliche Lehrmethode Jesu, aber doch so charakteristisch, dass Markus sagen kann, Jesus habe nur in Form von Gleichnissen gelehrt. Dass er nicht auch auf andere Weise gelehrt hat, ist jedoch eine Übertreibung. Doch weil das Gleichnis für ihn am typischsten war, ist es auch so wichtig für uns, dass wir begreifen, was ein Gleichnis ist. Es ist ein sehr einfaches Lehrmittel. Es kann eine kurze Geschichte sein, manchmal auch eine etwas längere, es kann aber auch lediglich ein ganz kurzer Ausspruch sein, etwa wie ein Sprichwort.
Die Art und Weise, wie manche Sprichwörter in uns wirken, vermittelt uns eine gute Vorstellung von der Wirkungsweise eines Gleichnisses. Nehmen wir zum Beispiel das folgende Sprichwort: ‹Früher Vogel fängt den Wurm›. Das entspricht dem gesunden Menschenverstand. Sie können es selbst beobachten, wenn Sie früh genug aufstehen. Später sind die meisten Würmer verschwunden. Diejenigen, die zu spät kommen, kriegen keine mehr. Sie haben das vielleicht schon häufig beobachtet, aber es sagte Ihnen nichts. Aber dann eines Tages kommen Sie hier im Esalen-Institut zu spät zum Essen und bekommen keines mehr. Oder Sie gehen in einen Schallplattenladen und müssen zu Ihrem Bedauern feststellen, dass die neue Platte, die Sie haben wollten, ausverkauft ist. Plötzlich erinnern Sie sich, dass der frühe Vogel den Wurm fängt. Ihre Situation hat überhaupt nichts mit Vögeln oder Würmern zu tun, aber sie hat eine ganze Menge mit der Wahrheit zu tun, die in diesem Sprichwort steckt.
Das ist der Ausgangspunkt eines jeden Gleichnisses. Es erinnert Sie an eine Beobachtung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht. Oft fängt es in dem Sinn an: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›? Wer von euch, der Kinder hat, weiß nicht, was Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden? Wer von euch, der schon einmal Brot gebacken hat, weiß nicht, wie sich Hefe verhält? Wer von euch, der schon einmal etwas verloren hat, weiß nicht, wie sehr man sich anstrengt, um es wiederzufinden? Das ‹Wer von euch› wendet sich an die Zuhörer und bedeutet: ‹Kennt ihr das nicht ohnehin schon›? Dies ist der erste Teil eines jeden Gleichnisses. Wer weiß etwa nicht, dass der frühe Vogel einen Wurm fängt, das ist ein Gemeinplatz.
Dann kommt Teil zwei, die Reaktion der Zuhörer. Diese sagen: ‹Nun, das weiß doch wohl jeder, oder›?
Und dann kommt Teil drei, und das ist ‒ in den besten Fällen ‒ schlicht Schweigen. Manchmal aber wird es auch ausgesprochen, und es ist der Teil, in dem Jesus sagt: ‹Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach›? Zack ‒ die Falle hat zugeschnappt!
Wir wollen nun anhand eines Beispiels sehen, wie das Lehrmittel des Gleichnisses wirkt. Die meisten Gleichnisse handeln vom Reich Gottes, aber das folgende wird als Antwort auf eine Frage gegeben. Die Frage lautet: Wenn ich meinen Nächsten lieben soll wie mich selbst, wer ist mein Nächster?
Wir nennen dieses Gleichnis das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Ich bin sicher, dass Sie alle es kennen.
Wenn man dieses Gleichnis als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bezeichnet, dann ist es, als ob man einen Witz erzählt und ihm vorab eine Überschrift gibt, die die Pointe vorwegnimmt.
Für die Juden zu Lebzeiten Jesu gab es so etwas wie den b a r m h e r z i g e n Samariter nicht. Der einzige barmherzige Samariter war ‒ wie man heute sagen würde ‒ ein toter Samariter. Die Samariter waren absolute Bösewichter.
Außerdem handelt dieses Gleichnis gar nicht von dem Samariter. Das ist ein weiteres Problem. Die Geschichte handelt vielmehr von einem Mann, der in die Hände von Räuber fiel.
(Es gibt eine Faustregel: In Gleichnissen muss man sich immer ‒ wie in Witzen ‒ mit der ersten Person identifizieren, die erwähnt wird, sonst begreift man die Pointe nicht. Man kann einen anderen Gewinn daraus ziehen wie etwa im Gleichnis vom ‹barmherzigen› Samariter. Alle möglichen guten und interessanten Lehren basieren darauf. Wenn man aber wissen will, was Jesus sagte, muss man sich an die Regel halten, die für jede Volkssage, jeden Witz oder jeden volkstümlichen Ausspruch gilt. Man identifiziere sich mit der ersten Person, die erwähnt wird.)
Jemand fragte also Jesus: ‹Wer ist mein Nächster›? und Jesus erzählte folgende Geschichte: Da war ein Mann (das sind Sie!), der von Jerusalem nach Jericho ging und unter die Räuber fiel. Zwischen Jerusalem und Jericho kann man auch heute noch unter die Räuber fallen. Die Straße führt durch eine Schlucht mit steil abfallenden Wänden und es kann einem dort alles Mögliche widerfahren.
Dieser Mann nun fiel unter die Räuber, die ihn misshandelten und beraubten. Sie stahlen ihm alles, was er hatte, und ließen ihn h a l b tot liegen. Es ist sehr wichtig, dass dieser Mann nur h a l b tot ist. Das bedeutet, dass er immer noch am Leben ist und das Geschehen um ihn herum mitbekommt. Denken Sie daran: S i e selbst sind dieser Mann. Gleichnisse werden nicht aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters erzählt, sondern aus der Sicht der ersten Person, die erwähnt wird.
Sie liegen also da und jemand kommt vorbei. Plötzlich wissen Sie, wer Ihr Nächster ist. In Ihrem Herzen schreit es: ‹D a s ist mein Nächster! Er muss mir helfen›! Doch er geht auf der anderen Straßenseite vorbei und lässt Sie liegen.
Dann kommt wieder jemand vorbei. Wiederum schreit es in Ihnen: ‹Hilf mir! Ich bin dein Nächster›! Doch auch dieser Mensch geht vorbei. Sie liegen immer noch da und hoffen, dass jemand Sie als seinen Nächsten erkennt und entsprechend handelt.
Als nächstes kommt nun ausgerechnet ein Samariter vorbei. Wollen Sie, dass dieser Ausgestoßene Ihnen hilft? Ja, natürlich, sind wir nicht alle einander die Nächsten? Und siehe da, dieser schmutzige Samariter verhält sich wie ein Nächster.
Mit einem Schmunzeln fragt Jesus: ‹Welcher von diesen Dreien war also dem der Nächste, der unter die Räuber fiel›? ‹Jener, der ihm Barmherzigkeit erwies›, antwortet der Mann, der gefragt hatte, wer eigentlich sein Nächster sei. Dass es ausgerechnet der Samariter war, sagt er lieber nicht.[1]
Können Sie das Schweigen hören, das sich daraufhin ausbreitet? In diesem Schweigen dreht Jesus den Spieß um. Wenn der Samariter dein Nächster ist, wenn d u dich in Not befindest, ist er auch noch dein Nächster, wenn e r in Not ist?
Ich bin auf eine hübsche moderne Version dieses Gleichnisses gestoßen. Als ich einer Gruppe in Neuseeland dasselbe wie hier erzählte, meldete sich eine Ordensschwester zu Wort und sagte: ‹Genau das ist mir passiert. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit mit dem Auto von Auckland nach Hamilton gefahren und wurde unterwegs entsetzlich müde. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Auto auf der falschen Straßenseite fuhr. Ich hielt sofort an und rollte auf den Randstreifen (mit der Wagenfront in die falsche Richtung). Ich sagte mir: ‹Jetzt werde ich erst einmal ein bisschen schlafen. In diesem Zustand zu fahren ist zu gefährlich›. Als ich aufwachte, klopfte jemand gegen das Wagenfenster. Noch schlaftrunken und entgegen allen Vorsichtsmaßregeln kurbelte ich es hinunter. Draußen stand ein Mann mit einer Lederjacke und sagte: ‹Alles in Ordnung, meine Liebe? Rutschen Sie mal auf den Nebensitz, Sie stehen auf der falschen Straßenseite›. In meiner Verwirrung rutschte ich hinüber. Er stieg ein, brachte das Auto auf die richtige Straßenseite und sagte: ‹Mir scheint, Sie sind in keiner guten Verfassung. Wo wollen Sie denn hin›? ‹Nach Hamilton›, sagte ich. ‹Okay, wir werden Sie begleiten›. Und so wurde ich ‒ eine Nonne in Tracht ‒ nach Hamilton eskortiert, von einer Rockerbande auf Motorrädern.›»
2.3. Unsere Zukunft ‒ das Reich des Kindes (1987):
«Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede, die mit einer Frage beginnt, oft unausgesprochen, meist aber ganz ausdrücklich: ‹Wer von euch, der jemals Schafe gehütet hat, weiß nicht; wer von euch, der Brot bäckt, weiß nicht; wer von euch Eltern weiß nicht›?
Immer wieder: ‹Wer von euch weiß das nicht schon›, das steht am Anfang der Gleichnisrede. Und darauf folgt die Reaktion der Hörer, die immer wieder lautet: Na, jeder weiß das; das Kind in uns weiß das genau. Und zum Schluss tritt dann meistens Stille ein, in die hinein Jesus sagt: ‹Ah, ihr wisst das so gut! Warum handelt ihr dann nicht danach›? Und so finden sich die Hörer von der eigenen Erfahrung überführt.
Darum sind die Gleichnisreden heute noch genauso lebendig, wie sie vor 2000 Jahren waren: weil sie uns noch immer dahin führen, zuzustimmen ‒ ‹ja, das weiß ja sowieso jeder› ‒ und dann uns bewusst machen, dass wir nicht konsequent danach handeln.
Wenn wir wirklich aus diesem Geist des Kindes in uns lebten, wenn wir aus dem Bewusstsein heraus handelten, das wir von unseren besten Augenblicken her kennen, dann wären wir nicht so halbtot, wie wir es jetzt sind, und die Menschheit als Ganzes wäre nicht so gefährdet.»]
___________________
[1] Dieser Abschnitt ist aus dem Buch Common Sense (2014), 49
Gott
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir Probleme mit den Begriffen «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit haben», so werden sie sich am ehesten einstellen, wenn wir auf die «letzte Wirklichkeit», das Göttliche oder Gott, zu sprechen kommen.[1]
Wir können Missverständnisse vermeiden, wenn wir von der letzten Wirklichkeit statt von Gott sprechen.
Alle diejenigen, die mit dem Wort Gott etwas verbinden können, werden mir sicherlich zustimmen, dass Gott die letzte Wirklichkeit ist.
Es gibt aber viele, denen das Wort Gott Unbehagen bereitet, und häufig aus gutem Grund.
Wenn wir aber über christliche Mystik sprechen, dann müssen wir uns früher oder später mit dem Gottesbegriff auseinandersetzen, also warum nicht jetzt gleich?
Wir dürfen dabei nicht von dem ausgehen, was ein anderer uns über Gott erzählt hat. Wir müssen Gott von innen wiederentdecken.
Dort entdecken wir Gott als den, zu dem wir gehören. Das ist alles.
Noch ehe wir etwas über Gott wissen, kennen wir ihn.
Dies gilt für jeden von uns. Wir kennen Gott als denjenigen, zu dem wir gehören. Jeder, der das Wort «Gott» richtig benutzt, benutzt es in diesem Sinn.
Würde es in irgendeinem anderen Sinn benutzt, so können Sie selbst darüber urteilen, wie es benutzt wird, denn Sie kennen Gott aus Erfahrung. Jeder von uns kennt Gott aus seiner Erfahrung.
Das Wort «Gott» ist lediglich so etwas wie ein Etikett, wir brauchen es eigentlich nicht. Wir könnten unentwegt über Religion sprechen, ohne jemals das Wort Gott zu benutzen.
Es kann aber hilfreich sein.
Es verbindet unsere eigene Erfahrung mit all den theistischen Traditionen.
Wir müssen aber bei unserer eigenen Erfahrung ansetzen, und da hilft es, diese Erfahrung mit dem zu verknüpfen, was Millionen von Menschen auf dieser Welt in den theistischen Traditionen erfahren und worüber sie gesprochen haben. So können wir von dem profitieren, was andere erfahren haben.
Sie können Ihre eigene Erfahrung mit der Erfahrung anderer vergleichen, wenn Sie im Besitz dieses Schlüsselwortes sind.
Lassen Sie aber nicht zu, dass Ihnen jemand diesen Begriff Gott mit allerlei Bedeutung befrachtet näherbringen will.
Entdecken Sie den Inhalt dieses Begriffs selbst!
Ich möchte Ihnen nun gerne die kurze Schilderung einer dieser Entdeckungen Gottes vorlesen. Sie steht in der Autobiografie von Mary Austin.
Es ist erstaunlich, wie oft man eine solche Erfahrung am Beginn einer Autobiografie findet, und es ist wichtig, dass Sie selbst sie in Ihrer eigenen Autobiografie finden.
Mary Austin erzählt: «Ich muss zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein, als mir dieses Erlebnis widerfuhr. Es war an einem Sommermorgen, und das Kind, das ich damals war, spazierte allein hinunter durch den Obstgarten, bis es schließlich an den oberen Rand eines Hügelabhangs kam, wo das Gras wuchs, der Wind wehte und ein großer Baum sich in das unendliche Blau emporreckte.
Dann ganz plötzlich, nach einem Augenblick der Ruhe, bildeten Erde, Himmel, Baum, windzerzaustes Gras und das Kind inmitten von all dem in einem pulsierenden Bewusstseinsstrahl eine lebendige Einheit.
Bis zum heutigen Tag kann ich mich an dieses schwerelose Bewusstsein erinnern, das alles für das Ganze empfand ‒ ich in all dem und all das in mir und wir alle zusammen in einer warmen, leuchtenden Hülle von Lebendigkeit.»
Jetzt kommt aber die Stelle, derentwegen ich Ihnen das Ganze vorlese. Mary Austin beschreibt nämlich auf wunderbare Weise die Entdeckung Gottes.
«Ich erinnere mich, wie sich das Kind überall nach dem Ursprung dieses glücklichen Wunders umsah und zuletzt fragend sagte: ‹Gott?›, denn dies war das einzige Ehrfurcht gebietende Wort, das es kannte.»
Wir haben hier also zwei Augenblicke. Zunächst die Entdeckung Gottes ‒ und dann seine Benennung.
Die Erfahrung ist die wahre Entdeckung. Dann ist da dieses ehrfurchtgebietende Wort, das nirgends sonst passt.
Versuchen Sie nun selbst, dieses Wort auf Ihre eigene Erfahrung anzuwenden. Sie fragen sich selbst ‒ und das ist das erste Stadium ‒ «Gott?»
Könnte diese Erfahrung irgendetwas mit Gott zu tun haben?
Und dann: «Tief in seinem Inneren hörte es wie fernes Glockengeläute die Antwort ‹Gott, Gott›.»
Das bedeutet schlicht «Okay, es passt.» Versuchen wir es mit diesem Wort.
«Wie lange dieser unbeschreibliche Augenblick anhielt, habe ich nie gewusst. Er platzte wie eine Seifenblase, als ein Vogel plötzlich zu singen anfing. Und der Wind wehte und die Welt war dieselbe wie immer ‒ nur nie mehr ganz dieselbe.»[2]
Dies ist eine Entdeckung, das Überschreiten einer Bewusstseinsgrenze.
Von hier gibt es kein Zurück.
Sie haben etwas entdeckt, das Sie von nun an für immer erforschen können.
Die Mystik ist «die Erforschung Gottes».
Christopher Fry hat diesen Ausdruck geprägt. In seinem Theaterstück «A Sleep of Prisoners» sagt er:
«Affairs are now soul-sized,
the enterprise is exploration into God.»
«Alles dreht sich jetzt um die Seele,
das Ziel der Unternehmungen ist die Erforschung Gottes.»
Das ist es, worum alles im Leben geht: die Erforschung Gottes.
Es ist wie das Öffnen der Augen.
Da ist es, das Land, zu dem ich gehöre, da bin ich zu Hause.
Und nun kann ich den Rest der Ewigkeit damit verbringen, dieses Territorium zu erforschen.
Dies ist der Punkt, in dem die religiösen Traditionen zusammenlaufen.
Sie gehen alle von der mystischen Erfahrung aus.
Es gibt keine einzige religiöse Tradition auf dieser Welt, die einen anderen Ausgangspunkt hat. [Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 174-176]
Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich gelernt, mir Gott nicht als weit entfernt, sondern als näher als nah vorzustellen. Ich muss vier oder fünf gewesen sein, als ich einmal völlig außer Atem vom Garten in die Küche gerannt kam und verkündete, dass ich gerade den Heiligen Geist gesehen habe, wie er etwas in den Himmel geschrieben habe. Es stellte sich dann als Werbung für ein Seifenpulver heraus, die ein Flugzeug so hoch droben in den Himmel geschrieben hatte, dass es genauso aussah wie die weiße Taube im Fresko der Heiligen Dreifaltigkeit, das auf unserer Kirchendecke gemalt war. Etwa zur gleichen Zeit, kurz vor Weihnachten, wenn österreichische Kinder darauf warten, dass das Christkind ihnen Geschenke bringt, erspähte ich eines Morgens einen winzigen Faden goldenen Lamettas auf dem Teppich, und nichts hätte mich davon überzeugen können, dass das nicht ein goldenes Haar war, das das Christkind verloren hatte. Die Schauer von Ehrfurcht und inniger Zuneigung, die mich durchliefen, sind in meiner Erinnerung immer noch lebendig.
Diese kindlichen Missverständnisse waren nichts desto weniger wahrhaftige religiöse Erfahrungen. Was für sie entscheidend war, bleibt:
Ein Gefühl der Nähe Gottes, Es blieb nicht nur, sondern es nahm an Weite und Tiefe immer mehr zu. Nähe ist dafür ein viel zu geringes Wort.» [ST 60, Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
[Ergänzend:
1. GOTT, in: Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141:
«Gott ist eine Bezeichnung für das Große Geheimnis. Da das Wort ‹Gott› von einer Wortwurzel herstammt, die ‹rufen› bedeutet, verwenden wir es, wo unsere Beziehung zum Großen Geheimnis ‒ als dem Angerufenen oder dem uns Anrufenden ‒ betont werden soll.»
2. GOTT in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)]: Schlüsselbegriffe «Angst ‒ Zusammengehören», FN 1) 171f.; 2-5) 175; 6) 174):
«Da dieses Buch Erfahrung voraussetzt und an Erfahrung appelliert, ist Gott hier nur insofern von Bedeutung, als das Göttliche erfahrbar ist.
‹Ruhelos ist unser Herz›: dies ist eine grundsätzliche menschliche Erfahrung. Augustinus fährt mit dem Satz fort: ‹Ruhelos, bis wir in Gott Ruhe finden›.
Dies setzt aber nicht voraus, dass wir Gott unabhängig von dem Durst unseres Herzens schon kennen. Vielmehr erfahren wir Gott gerade in der Ruhelosigkeit unseres Herzens.
Und der Richtung unserer ruhelosen Sehnsucht geben wir den Namen Gott.
Indem unser Herz auf dem Weg Eindrücke der göttlichen Landschaft sammelt, können wir langsam ein bisschen über Gott erkennen, besonders dann, wenn wir auch den großen Erforschern Gottes zuhören.
Worauf es jedoch ankommt, sind niemals Erkenntnisse über Gott, sondern Erkenntnis Gottes ‒ als dem magnetischen Norden des menschlichen Herzens unterwegs.»
3. Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004):
Themen dieses Audios mit weiterführenden Links:
3.1. (25:11) «Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch»:
In Von Eis zu Wasser zu Dampf: im Wandel der Gottesvorstellungen: Was schätze ich am Christentum? (2003) schreibt Bruder David über seinen eigenen Erfahrungsweg, die christliche Gottesidee in ganz neuem Licht zu sehen und zu würdigen:
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach: Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig. Dass er von Gott als ‹Vater› spricht, schafft Raum für liebende Beziehung, trennt aber nicht; für semitisches Empfinden sind Vater und Sohn eins. ‒ So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen, dass in den Dogmen, die uns die Kirchenväter hinterließen, wirklich die bahnbrechende Gotteserfahrung Jesu enthalten ist, wenn auch in beinahe unkenntlicher Form.»
3.2.: (28:40) «So wurde es uns dargestellt»:
In An welchen Gott können wir noch glauben (2008) schreibt Bruder David:
«Und mit großem Erstaunen sieht das dann ein Christ, dem man immer gesagt hat, die Dreifaltigkeit, das ist ein großes Geheimnis, das wirst du nie verstehen. Ja, verstehen nicht, ausloten nie, aber es zeigt sich, dass das plötzlich inmitten aller großen Traditionen steht: Wort, Schweigen und Verstehen.»
3.3.: (42:04) «Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war»:
Im Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel (2003) hören wir:
«Wir sind uns selbst so abgründig, dass die tiefste Tiefe unseres eigenen Lebens göttlich ist.
Sehen sie den Umschwung von einem Gottesbild, in dem Gott da draußen ist, und dann der Sohn Gottes irgendwie in unsere Welt, die ganz von Gott getrennt ist, hereinkommt, und nur er ist natürlich Gott und wir müssen uns dann irgendwie damit auseinandersetzen?»
Der Vortrag schließt mit: «Der Zweifel gehört zu dem Glauben, in dem man sich auf Gott verlässt: Ich mich verlasse auf Gott hin. Zweifel im Sinne von Angst zum Beispiel: Zweifel ist eine Form von Angst. Und dieser Zweifel soll uns nicht stören, er gehört zum Glauben dazu; … wenn ich auf eine hohe Leiter hinaufklettere, wird die Angst immer größer: Unsere Angst und unser Zweifel zeigt uns nur, wie hoch wir schon im Glauben gekommen sind.»]
______________________
[1] Bruder David bezieht sich auf seine Arbeitsdefinition in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 171f.: «Mystik im weitesten Sinn ist definiert als ‹Erfahrung der gemeinschaftlichen Verbundenheit mit der letzten Wirklichkeit›.» und geht nach den beiden Bestandteilen der Definition «Erfahrung» und «gemeinschaftliche Verbundenheit», auf die «letzte Wirklichkeit» ein.
[2] Aus Michael Paffard: «The unattended Moment», SCM Press Ltd., London 1976
Gott ‒ ‹mein Gott›
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Zugehören ist immer etwas Gegenseitiges. Das ist selbst dann wahr, wenn es um Dinge geht. Wir neigen leider dazu, unsere Beziehung zu den Dingen, die uns gehören als einseitiges Besitzverhältnis zu betrachten. Das färbt unsere Liebe zu Dingen. Es gibt ihr die falsche Farbe. Richtig aufgefasst ist auch die Liebe zu Dingen ein «Ja» zum gegenseitigen Zusammengehören, ganz gleich, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Du magst vielleicht denken, dass dein Auto dir lediglich so zugehört, dass du es besitzt, dass es deinen Bedürfnissen dient. Aber das Auto weiß es besser. Es wird dir nur solange dienen, wie du seinen Bedürfnissen dienst und es pflegst. Das beinhaltet Gegenseitigkeit: «Ich bringe dich dort hin, wenn du für meinen Ölverbrauch sorgst.» Wenn du dein Auto wirklich liebst, dann wirst du auf seine Bedürfnisse achten. Du wirst intuitiv erfassen, dass ihr zwei zusammengehört. Liebe nimmt dieses gegenseitige Dazugehören ernst. Liebe kümmert sich, selbst um Dinge.
Natürlich kennt dieses gegenseitige Zusammengehören verschiedene Grade von Tiefe und Nähe. Auf der Ebene der Gegenstände verlangt es uns am wenigsten ab. Die Bindung kann hier auch leicht wieder gelöst werden. Mein Schweizer Taschenmesser stellt nur wenige Anforderungen an mich, gemessen an den ausgezeichneten Diensten, das es mir leistet. Und sollte ich es verlieren, dann dürfte es jedem, der es findet, leichtfallen, sein glücklicher Besitzer zu werden.
Die Pflanzen, die ich aufgezogen habe, würden schon nicht so leicht mit jemand anders zurechtkommen. Und wenn es um deinen verlorenen Hund geht, dann erkennst du, dass wir es mit einer wesentlich tieferen Ebene gegenseitigen Zusammengehörens zu tun haben. Es dürfte schwer zu sagen sein, wer den Verlust tiefer empfindet, du oder der verlorene Hund. Meine kleine Nichte schickte ihrem Pudel eine Ansichtskarte aus den Ferien, die sie mit «Lisa, deine Besitzerin» unterschrieb. Der Pudel aber ließ nie einen Zweifel aufkommen, dass er sich als Lisas Besitzer empfindet, so wie das Schwein in Denise Levertovs herrlichem Gedicht, das die Familie als «meine Menschen» nennt.[1]
Unter Menschen kann gegenseitiges Zusammengehören offensichtlich eine Intensität erreichen, die weit über das hinausgeht, was wir mit Dingen, Pflanzen oder Tieren erleben. Und hier dürfte es auch am angemessensten sein, von Liebe zu reden.
Tatsächlich bestehen einige Leute darauf, dass das Wort «Liebe» auf unser Verhältnis zu Menschen und zu Gott beschränkt werden sollte. Aber ich habe eine Beobachtung gemacht. In meinem Bekanntenkreis haben gerade jene, die pedantisch zwischen Liebe und gernhaben unterscheiden, oft wenig Gespür dafür, dass Zusammengehören immer gegenseitig ist. Die gleichen Leute finden es schwierig, sich unsere Beziehung zu Gott als wirklich gegenseitig vorzustellen.
Ich muss zugeben, dass ich es selbst lange Zeit für irgendwie anmaßend hielt, Gott im Gebet als «mein» Gott anzusprechen. Damals war Besitz noch die einzige Bedeutung, die «mein» für mich hatte. Und Besitz bedeutete für mich Besitzrecht ohne irgendeinen Gedanken an die Pflichten, die damit untrennbar verbunden sind.
Langsam aber gelangte ich zu der Erkenntnis, dass ich selbst irgendwie zu allem gehöre, das mir gehört, dass Gehören ein Geben-und-Nehmen bedeutet.
Vielleicht kam mir diese Einsicht mit der Entdeckung, dass die Tomatenpflanzen in der Ecke meines Gartens verwelken würden, wenn ich vergessen sollte, ihnen Wasser zu geben; dass meine weiße Maus darauf bestand, gefüttert zu werden, da sie sonst an Dingen zu knabbern begann, die ich ihr nicht geben wollte; ja, dass selbst meine Rollschuhe eine gewisse Fürsorge von mir verlangten.
Und ich entdeckte noch etwas anderes: Dinge gehören mir umso mehr, als ich ihnen gehöre. Das kleine Wort «mein» bedeutet mehr, wenn es auf meine Taube bezogen ist, als wenn damit meine Schuhe gemeint sind, und noch mehr, wenn es sich auf die Gruppe von Freunden bezieht, zu denen ich gehöre.
Wenn ich Gott uneingeschränkt gehöre, dann folgt daraus, dass Gott mir auch uneingeschränkt gehört.
Auf alles andere bezogen, ist das «mein» eingeschränkt. Seitdem mir das klar geworden ist, hat «mein» für mich nur dann seinen vollen Klang, wenn ich «mein Gott» sage.
Dies sagt mir ein weiteres über das Wort «mein». Es zeigt mir, dass «mein» umso passender wird, je weniger es Ausschließlichkeit bedeutet. Ich möchte es anders ausdrücken: je mehr etwas wirklich mein ist, desto weniger ist es nur mein.
Wir erkennen das in jenen Augenblicken, in denen wir ganz besonders wach und lebendig sind, in Momenten, in denen wir Gott ahnen. Dann erleben wir totale Zugehörigkeit. Einen Augenblick lang wissen wir einfach, dass alles uns gehört, weil wir allem angehören.
Im Licht jener Erfahrung können wir aus ganzem Herzen sagen: «Alles ist mein.» Aber «mein» ist dann ganz und gar nicht ausschließlich gemeint. Es kommt aus dem Herzen, wo jedes mit allem eins ist. Das Herz sagt «Ja» zu diesem universellen Zusammengehören und weiß sofort, dass «Ja» ein Name Gottes ist.
Für mich wirft diese Einsicht neues Licht auf die Wahrheit: «Gott ist die Liebe» (1 Johannes 4,8).
Momente, in denen wir dies erleben, sind Schlüsselmomente für das Verständnis dessen, was Fülle des Lebens bedeutet. Darum müssen wir auch dann und wann auf sie zurückkommen.
Sie sind zugleich Momente überwältigender Dankbarkeit. Wir haben das schon früher erkannt, aber jetzt sind wir in einer besseren Lage zu verstehen, warum das so ist. Ganz am Anfang unserer Untersuchung von Dankbarkeit entdeckten wir schon, dass das «Ja» zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Geber und Empfänger der springende Punkt ist. Schenken und Danken dreht sich um den Angelpunkt dieses «Ja». Geber und Empfänger werden im Danksagen eins. Und das «Ja» zu ihrem Zusammengehören ist nichts anderes als das «Ja» der Liebe.
Wir haben gesehen, wie schwer es in unserem täglichen Leben manchmal ist, das «Ja» der Dankbarkeit auszusprechen.
In Augenblicken jedoch, wenn unser Herz voller Lebendigkeit schlägt, erfahren wir die gegenseitige Abhängigkeit von allem mit allem als Freiheit, als Freude, als Erfüllung. Unser Herz erhascht einen flüchtigen Blick unseres wahren Zuhause.
Zuhause aber nennen wir den Ort, wo jeder von jedem abhängt. Kein Wunder, wenn ein «Ja» aus unserem Herzen hervorbricht wie ein Stoßseufzer der Erleuchtung, der Befreiung, des Heimkommens. Das sagt auch D. H. Lawrence in einem Gedicht, das er «PAX» nennt, das lateinische Wort für «Frieden».
Lesen wir das Gedicht laut, dann besitzt es eine beschwörende Kraft. Seine Wiederholungen scheinen einen Zauber auf uns auszuüben ‒ kein Zauber, der uns bannt, sondern einer, der uns befreit.
«Eins … friedlich, in Frieden und eins … daheim, daheim … daheim.»
Diese Beschwörung lässt uns entspannen. Sie erlaubt, dass wir «eine tiefe Ruhe des Herzens» finden. Es ist wie ein Nachhausekommen in das «Haus des Lebens», in das «Haus der Lebendigen», in das «Haus des Gottes des Lebens», wohin wir gehören, wo unser wirkliches Zuhause ist.
Bei all ihrer Ruhe leben diese Zeilen von einer dynamischen Kraft. Sie haben Feuer in sich.
Selbst das Gähnen der Katze ist ein «Gähnen vor dem Feuer.» Das Gähnen einer jeden Katze, die auf sich hält, ist Teil eines ganzen Rituals aus dehnen und strecken, das voller Lebenskraft steckt.
Wenn wir nicht aus Langeweile oder Müdigkeit gähnen, sondern mit «eine(r) tiefen Ruhe im Herzen», dann heißt das
«gähnend (…) vor dem Feuer des Lebens.»
«Leben» ist ein Schlüsselwort in diesem Gedicht. Sechsmal wird «Leben» und «lebendig» wiederholt.
Die Ruhe wahren Friedens ist nicht totes Schweigen, sondern die lebendige Stille einer hell brennenden Flamme:
«Alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem
lebendigen Gott,
ein Geschöpf zu sein im Haus des Gottes des Lebens.
Wie eine Katze, die auf einem Stuhl eingeschlafen ist,
friedlich, in Frieden
und eins mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin,
daheim, daheim im Haus des Lebendigen,
schlafend am Herd und gähnend am Feuer.Schlafend am Herd der lebendigen Welt,
gähnend daheim vor dem Feuer des Lebens
und die Gegenwart des lebendigen Gottes fühlend
wie eine unerschütterliche Gewissheit,
eine tiefe Ruhe im Herzen,
Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»
«Alles, worauf es ankommt», absolut alles, «ist eins zu sein mit dem lebendigen Gott.»
Und «der Gott des Lebens» ist als «Feuer des Lebens» im «Hause des Lebens» gegenwärtig.
(Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichtes stehen diese Sätze und gewinnen so besondere Bedeutung.)
Feuer ist häufig ein Bild für Liebe. Hier aber ist es nicht das tobende und verzehrende Feuer der Leidenschaft. Hier ist es das ruhige, lebensspendende Feuer im Herd, das jeden im Hause willkommen heißt und zuhause fühlen lässt.
Wie also sollen wir «eins (...) sein mit dem lebendigen Gott», wenn das unser wahres Ziel ist?
Indem wir uns vom Herdfeuer durch und durch wärmen lassen; indem wir zulassen, dass uns die Wärme ein Gefühl von zuhause vermittelt; einfach dadurch, dass wir «daheim» sind, «daheim im Haus des Lebendigen.»
In einer von der Liebe erwärmten Welt gibt es keine Kluft zwischen Himmel und Erde. Das «Haus des Lebens» ist das «Haus des Gottes des Lebens.»
«Gottes Gegenwart im Haushalt der Erde ist Gegenwart
des Herrn, der am Tisch sitzt
in seinem eigenen größeren Sein
im Hause des Lebens.»
Das Bild des pater familias[2] gibt diesen Zeilen Bedeutung und beschützt sie zugleich davor, pantheistisch missverstanden zu werden.
Die Welt ist nicht mehr eins mit Gott, als der Haushalt eins ist «mit dem Herrn des Hauses, mit der Herrin.» Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist keine Frage des Einsseins, sondern des Zusammenseins, des Beieinanderseins durch jene Liebe, die nur die Vorstellung von pietas[3] uns zu vermitteln beginnt.
Und doch, mit welcher Ehrfurcht füllt uns das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit.
Wenn wir uns den Erdhaushalt[4] als unseres himmlischen Vaters «eigenes größeres Sein» vorstellen, dann wird uns das jedes Steinchen, jeden Grashalm, jeden Käfer mit Ehrfurcht betrachten ‒ und entsprechend behandeln lassen.
Dann wird Liebe ihre Zu- und Abneigungen ebenso leicht nehmen, wie wahrer Glaube seine Überzeugungen und wirkliche Hoffnung ihre Hoffnungen.
Schließlich, welchen Unterschied machen Zu- und Abneigungen schon, wenn «alles, worauf es ankommt, ist, eins zu sein mit dem lebendigen Gott»?
Jene, die wir mögen und die, die wir nicht mögen, sind gleichermaßen «daheim im Haus des Lebendigen.» Wir gehören alle zusammen. Wir können alle zusammen in Frieden leben, sobald wir unserem tiefsten Sehnen folgen und zu unserem Herzen nach Hause kommen.
[Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 147-150, 159-162 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 148-151, 160-162]
[Ergänzend:
1. Video und Audios
1.1. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökologie:
(32:11) Bruder David schließt mit seiner deutschen Übersetzung des Gedichtes PAX von D. H. Lawrence und Ausklang mit Musik von Hannelore und Bruder Thomas
1.2. Transkription Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1996) des Videos Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992): [5]
(04:49) «Oder eine andere Situation: Wir sind in größter Not. Ein Kind ist schwer krank, ein lieber Mensch stirbt uns. Und wir sind außer uns vor Verzweiflung, vor Traurigkeit. Und wieder ‒ in dieser äußersten Not ‒ finden wir uns doch wieder echter, als wir es meistens sind, wenn wir an der Oberfläche dahinleben. Und auch in einem solchen Augenblick brechen wir wieder durch zu der Erfahrung, dass wir nicht verwaist sind. Dass wir uns auf irgendetwas verlassen können. Wir verlassen u n s : Wir sind a u ß e r uns. Und wir verlassen uns auf etwas hin. Und das ist wieder diese geheimnisvolle Wirklichkeit, die jene Menschen, die das Wort ‹Gott› richtig verwenden, Gott nennen. Und in diesen Augenblicken rufen auch Menschen, die sonst gar nicht in irgendeiner Weise an Gott glauben, so etwas wie: ‹mein Gott›. Und dieser Ausruf auf Gott hin, ganz spontan in Augenblicken, in denen wir außer uns sind, das ist eigentlich das ursprünglichste Gebet.»
1.3. TAO der Hoffnung (1994)
Vortrag:
(14:30) Gottraumfahrten und Meilensteine im selben Gott-Raum – Zugehörigkeit ist immer gegenseitig angefangen bei Dingen über Pflanzen und Tiere bis zu: ‹Oh Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2) ‒ Gott ist ‹persönlich›, aber nicht ‹Person›: ‹God isn’t sombody else› (Thomas Merton)
1.4. Transkription des Vortrags Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992); siehe auch Sterben und Tod:
(21:07) «Dann könnte man noch sehen, wenn wir den Tod so ernst nehmen, dann haben auch unsere Leiden, unsere Freuden, unsere Lebensumstände, die Wahlen die wir treffen, die Entscheidungen, die wir treffen, ganz eine andere Bedeutung, denn sonst stellen wir uns das nur so vor ‒ ein bisschen karikiert ‒, aber wir denken, das Leben ist so eine Art Wartezimmer, wo man so wartet, oder wenigstens so wie zu Weihnachten, wo die Kinder draußen warten müssen bis das Glöckerl leutet und dann die Tür aufgeht und da ist der Christbaum. So stellt man sich das häufig vor: wir warten so da herum und dann, wenn die Tür aufgeht, sehen alle den gleichen Christbaum. Aber um Gottes Willen, warum müssen wir dann so schreckliche Dinge durchmachen: ich so, du was ganz anderes, ein Dritter wieder ganz etwas anderes: Warum müssen wir so verschiedene Leben erleiden, wenn wir dann alle zu dem gleichen Christbaum gehen?
Wir schaffen sozusagen das Fenster, d u r c h das wir die Visio Beatifica haben werden. In Zusammenarbeit mit Gott schaffen wir jetzt d e n bestimmten Gesichtspunkt, in dem wir Gott sehen werden. Sonst ist es ja nur eine Quälerei dieses ganze Leben. Aber wenn mein Leben so sein muss, weil ich d a n n erst zu dem Menschen werde, der Gott so verstehen kann auf eine ganz einzigartige Weise, dann hat es Sinn und auch Sinn, dass wir sagen:
‹O Gott, du bist m e i n Gott› (Psalm 63,2) ganz persönlich.»
1.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‹Ich glaube an Gott›:
(32:27) Gott: eine noch inhaltslose Bezugsrichtung unserer tiefsten und allumfassendsten Zugehörigkeit wie auch Gräber in einer bestimmten Richtung ‒ Zugehörigkeit ist immer gegenseitig: von Gegenständen über Pflanzen, Tiere, Menschen bis zu Gott, von dem wir allein sagen können: ‹Gott, du bist mein Gott› (Psalm 63,2)
(40:00) Gott persönlich, aber nicht mit der Beschränkung einer Person: ‹God isn't somebody else› (Thomas Merton)
1.6. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(38:35) ‹Gott spricht›: Zugehörigkeit ist gegenseitig, von Dingen zu Pflanzen und Tieren bis zu ‹mein Gott›
2. Weitere Texte
2.1. Orientierung finden (2021), 54f.:
«Das Wort ‹Gott› entstand früh in der Geschichte unsrer Sprache und geht auf die indogermanische Wurzel ‹gheu› mit der Grundbedeutung ‹rufen› zurück. Unter ‹Gott› wurde also ursprünglich ‹Das Angerufene› verstanden, vielleicht auch ‹Das uns Anrufende›. Jedenfalls schwingt bei dem Wort ‹Gott› von Anfang an die Gegenseitigkeit einer Ich-Du-Beziehung mit. Gleichzeitig war das grammatische Geschlecht des Wortes ursprünglich sächlich und so wurde die Gefahr vermindert, Gott ‒ das große Geheimnis ‒ zu vermenschlichen. Noch heute gibt es Völker und Stämme, die religiöse Vorstellungen bewahrt haben, welche in prähistorischen Kulturen verbreitet waren. Anthropologische Feldforschung zeigt, dass sie häufig Personifikationen natürlicher Kräfte wie Sturm oder Blitz verehren und dennoch, diesen ‹Göttern› übergeordnet, eine höchste Kraft anerkennen, von der sie weniger bildhaft sprechen.
So zum Beispiel Chief Luther Standing Bear (1868-1,939), wenn er sagt: ‹Aus Wakan Tanka, oft als großes Geheimnis übersetzt, kam eine mächtige vereinigende Lebenskraft, die in und durch alle Dinge floss.›
Black Elk (1863-1950) sprach von unsrer Beziehung zu dieser Kraft und von dem großen inneren ‹Frieden, der in den Seelen der Menschen herrscht, wenn sie ihre Beziehung, ihre Einheit mit dem Universum und all seinen Kräften erkennen›.
Aber er ging noch einen Schritt weiter und sprach von dieser Beziehung zugleich als einer persönlichen. Er betonte den Frieden, den die Menschen erleben, ‹wenn sie erkennen, dass im Zentrum des Universums der große Geist wohnt; und ‒ da dieses Zentrum überall ist ‒ wohnt er auch in uns.› Die Einsicht, dass wir mit dieser Lebenskraft in persönlicher Beziehung stehen, entspricht der bedeutsamen Entdeckung, dass das große Geheimnis unser großes DU ist.»
2.2. Credo (2015): ‹Ich glaube an Gott›, 39:
«In den besten, lebendigsten Augenblicken unseres Lebens, in jenen Urerlebnissen, die Abraham Maslow ‹Peak Experiences› (Gipfel-Erlebnisse) nennt ‒ auf den Gipfeln wacher Lebendigkeit also erleben wir grenzenlose Zugehörigkeit. Wir können dem Wesen dieser Zugehörigkeit tiefer nachforschen. Dabei finden wir zunächst, dass Zugehörigkeit immer gegenseitig ist: Was uns gehört, dem gehören auch wir irgendwie an. Diese Gegenseitigkeit wird um so intensiver, je persönlicher die Beziehung ist. Selbst unsere Beziehung zu Dingen zeigt eine gewisse Gegenseitigkeit; sie verlangen etwas von uns: Pflege, Behutsamkeit, Geduld. Von da können wir zu Pflanzen, zu Tieren und zu Mitmenschen fortschreiten, um ein Ansteigen und eine Vertiefung von Gegenseitigkeit anschaulich zu machen. Um zu fühlen, wie gegenseitige Zugehörigkeit sich fortschreitend vertieft, brauchen wir nur aufmerksam der Reihe nach sagen: ‹mein Fahrrad›, ‹meine Hauspflanzen›, ‹mein Kind›. Schließlich weist dieser Anstieg in die Richtung, die wir Gott nennen. In dem Psalmvers
‹Gott, du bist m e i n Gott› (Psalm 63,2)[6]
hat das Fürwort ‹mein› mehr Gewicht und tiefere Bedeutung als in irgend einem anderen Zusammenhang. Schon bevor ich sonst noch etwas über Gott weiß, kann ich sagen, dass Gott im vollen Sinne m e i n ist, weil ich Gott völlig angehöre. In der menschlichen Beziehung zur göttlichen Quelle des Seins erreicht Gegenseitigkeit ihren Höhepunkt.»
2.3. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993); siehe auch Auf dem Weg der Stille (2023), 83f.:[7]
«Wenn Liebe echt ist, ist Zugehörigkeitsgefühl immer gegenseitig. Der Geliebte gehört zum Liebenden wie der Liebende zum Geliebten gehört. Ich gehöre zu diesem Universum und zu dem göttlichen Ja, aus dem es hervorging, und dieses Zueinander-Gehören ist ebenfalls gegenseitig. Deshalb kann ich sagen ‹mein Gott› – nicht im Sinne eines Besitzergreifens, sondern im Sinne liebevoller Verwandtschaft.
Wenn nun mein tiefstes Zugehören gegenseitig ist – könnte dann auch mein glühendstes Verlangen gegenseitig sein? Es muss so sein. So verblüffend der Gedanke anmuten mag: Was ich als meine Sehnsucht nach Gott erlebe, ist Gottes Sehnsucht nach mir. Man kann keine persönliche Beziehung mit einer unpersönlichen Kraft haben. Es ist wahr: ich darf die begrenzten Aspekte einer menschlichen Person nicht auf Gott projizieren ‒ und doch muss die göttliche Quelle alles Vollkommene der Personhaftigkeit besitzen. Woher sonst sollte ich sie erhalten haben?»[8]]
____________________
[1] Denise Levertov (1923-1997): ‹Her Judgement›, in: Denise Levertov: Collected Poems, New York, New Directions 2013: ‹Candles in Babylon›: II. ‹Pig dreams›, 626f.
[2] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 157f.:
«Die Römer hatten ein Wort für Liebe, das genau diese Haltung ausdrückt. Es ist das lateinische Wort ‹pietas›. Wir könnten es als ‹Familiensinn› übersetzen, eine Haltung, die dem Wissen um Zusammengehörigkeit entspringt und es entsprechend zum Ausdruck bringt. Pietas ist vor allem die Haltung des ‹pater familias›. Die Familie gehört zum Vater, von dem sie ihren Namen bezieht. ‹Pietas› gibt dem ‹pius pater› Rechte und Pflichten. Aber ‹pietas› ist eine Haltung, die von allen Mitgliedern des Haushalts geteilt wird und alle miteinander verbindet. Ehemann und Gattin lieben sich vielleicht auch mit Leidenschaft und Verlangen, das Band aber, das sie am stärksten und tiefsten zusammenhält, ist ‹pietas›. Das gleiche Band hält Brüder und Schwestern, Kinder und Eltern zusammen. Aber ‹pietas› bezieht auch Diener und Sklaven mit ein, jeden, der zum Haushalt gehört. Als Haushalt sind sie den Vorfahren der Familie und den Schutzgöttern, den ‹lares› verbunden durch die gleiche ‹pietas›, die selbst die Haustiere miteinbezieht, das Land, die Werkzeuge, den Hausrat und alles Ererbte. Unsere Sprache kennt keinen vergleichbaren Begriff.»
[3] Fortsetzung von Anm. 2:
«Könnten wir die Kraft des lateinischen Wortes ‹pietas› in unser Wort ‹Pietät› übertragen, das sich von ihm ableitet, dann würden unsere Vorstellungen von Mitgefühl und Hingabe sicherlich bereichert werden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Vorstellung des Zusammengehörens. Ein Wort können wir nicht willkürlich wiederbeleben. Aber wir müssen das Gefühl des Zusammengehörens wiederentdecken, das das Wort ‹pietas› prägte.»
[4] ‹Erdhaushalt› ist eines der liebsten Begriffe von Bruder David, ein Ausdruck, den der Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder (*1930) geprägt hat. Die folgenden Zeilen in Hausverstand sind dem Text Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012) entnommen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.1. und Erlösung ‒ Sünde und Heil: Haupttext und Anm. 8:
«So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.
Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem ‹Erd-Haushalt› wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.»
[5] Die Transkription von Werner Binder † ist abgedruckt in: David Steindl-Rast: Staunen und Dankbarkeit: Der Weg zum spirituellen Erwachen, hrsg. von Werner Binder†, Freiburg/Basel/Wien, Herder 1996, S. 138-147, unter dem Titel: ‹Beten: Dankbares Leben›: ‹Teilnahme am göttlichen Leben›
[6] Im Buch steht (Ps 63, 1) wie in den englischsprachigen Bibelausgaben
[7] Quelle: Original-Textfahne (1993) von Bruder David; derselbe Text im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 5: ‹Gott durch die Sinne finden›, 83f., ist von Bernardin Schellenberger übersetzt aus der amerikanischen Originalausgabe The way of Silence (2016)
[8] Weiterführend Ein intimes Gespräch mit David Steindl-Rast in Argentinien (2023), der Video in Englisch (12:37-17:54): ‹Der persönliche und der unpersönliche Gott›
Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis im Buch Mystik ‒ Spiritualität der Zukunft (2005), 82:
«Die Erfahrung von Wort, Horchen und Antworten öffnet die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu dem ‹Mehr› ‒ zu Gott als persönlich mit uns verbunden (obwohl wir nicht in den Irrtum verfallen dürfen, Gott sei ‹eine Person›). Wir dürfen uns selbst als Wort Gottes verstehen, als Wort von Gott ausgesprochen und zugleich angesprochen (Ferdinand Ebner). Durch unsere Antwort werden wir erst zu dem Wort, als das wir gemeint sind. Das Selbstverständnis Jesu als eins mit dem ‹Vater› ist der Durchbruch auf eine neue Ebene menschlichen Selbstverständnisses und darf nicht auf Jesus beschränkt werden. Christliche Mystiker wussten dies und Thomas Merton fasste es zusammen, wenn er sagte: ‹Gott ist nicht jemand anders.›»
Gottvertrauen im Leiden und Sterben
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot,
Die Lust hat eignes Grauen,
Und alles hat den Tod.Ins Leben schleicht das Leiden
Sich heimlich wie ein Dieb,
Wir alle müssen scheiden
Von allem, was uns lieb.Was gäb’ es doch auf Erden,
Wer hielt den Jammer aus,
Wer möcht’ geboren werden,
Hielt'st Du nicht droben Haus!Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen ‒
Darum so klag’ ich nicht.»[1]
Zu allen Zeiten sind Menschenherzen von der Frage bewegt worden: Woher kommt das Leid?
«Ins Leben schleicht das Leiden sich heimlich wie ein Dieb»,
sagt der Dichter Joseph von Eichendorff.
Es «schleicht sich» ein, denn es erscheint uns wie etwas Fremdes, dem ganz entgegengesetzt, was wir unter Lebensfülle verstehen. Lebensfülle aber gehört immer und überall zu dem, was Menschen «Gott» nennen. Wie also steht Gott zum Leiden?
Ich kann es mir nur so vorstellen, dass zum Leben in seiner ganzen Fülle eben auch das Leiden gehört, freilich nur auf der Ebene der Gegensätzlichkeit. Auf dieser Ebene gehören Freude und Leid zueinander, sie bestimmen einander wie Licht und Schatten, wie Berg und Tal.
Auf der Ebene ursprünglicher Einheit aber sind alle Gegensätze noch unentfaltet eins. Da ist Fülle, da fehlt nichts. Sobald sich aber die Einheit in die Vielfalt verschenkt, fehlt jedem der Gegensatzpaare immer die andere Hälfte.
Weil aber die grenzenlose Wirklichkeit, die wir «Gott» nennen, beide Ebenen umfasst, begegnen wir Gott ‒ auf der Gegensatzebene ‒ auch im Leid. Da ist der MITLEIDIGE der Mit-Leidende. Gott ist Mutter. Leidet eine Mutter nicht, wenn sie ihr Kind leiden sieht? Sie leidet nicht, «als ob» auch sie das Leid fühlte; sie fühlt es, fühlt es vielleicht noch schmerzlicher als das Kind selber es fühlt.
Das Große Geheimnis in seiner Überzeitlichkeit umfasst, umarmt dürfen wir wohl sagen, auch die Zeit, leidet also selber, wenn irgendein Lebewesen irgendwo irgendwann irgendwie leidet.
DU, mein innerstes Selbst erahnt Dich manchmal als über alle Gegensätze erhabene Lebensfülle im ewigen Jetzt. Solange ich aber noch in der Zeit bin, lass mich auch durch die Gegensätzlichkeit von Mitleid und Mitfreude mit Dir verbunden sein. Amen.[2]
Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen. Darum ist der Lebenspendende auch der TÖTENDE. Diese beiden Gottesnamen weisen auf zwei polare Aspekte ein und derselben unleugbaren Wirklichkeit hin.
Aus zwei Gründen ist es wichtig, beide Aspekte im Blick zu behalten: erstens weil wir nur dadurch wach und freudig leben können; und zweitens, weil wir dadurch lernen, vertrauensvoll zu sterben.
Nur wer auch zum Sterben Ja sagt, sagt ein volles Ja zum Leben, schon deshalb, weil wir ja jeden Augenblick völlig loslassen müssen, um den nächsten voll auskosten zu können.
Und dieses Loslassen ist ein Sterben für Vergangenes, um ganz im Jetzt zu leben.
Wenn wir nicht loslassen, hängt ein Teil von uns an der Vergangenheit, wir sind dadurch gespalten und leben nur halb. Je mehr wir das Loslassen üben, desto leichter lebt es sich ‒ und desto leichter stirbt es sich auch.
Zwar bleibt uns der Tod ein Geheimnis, aber alles, was wir brauchen, um uns gut darauf vorzubereiten, lehrt uns unsere tägliche Erfahrung: wenn wir vor dem Einschlafen loslassen und fürs Heute sterben, dann wachen wir am Morgen fröhlicher und unbeschwerter auf.
Sollte diese Übung es uns nicht leichter machen, auch in unserer letzten Stunde vertrauend loszulassen?
Wir wollen zugeben, dass es sonderbar klingt, dem TÖTENDEN zu vertrauen. Leben und Sterben sind aber Gegebenheiten, das lässt sich nicht abstreiten. So bleibt uns nur die Wahl, uns gegen das uns Gegebene aufzulehnen oder es als Gabe vertrauend und dankbar in Empfang zu nehmen. Auflehnung nützt erstens nichts und macht noch dazu nicht nur das Sterben zur Qual, sondern schon das Leben. Alle Gaben des Lebenspendenden erweisen sich früher oder später als gute Gaben. Das muss auch von den Gaben des TÖTENDEN gelten, denn beides sind Benennungen für ein und dieselbe, uns völlig unergründliche Wirklichkeit.[3]
[Ergänzend:
1. Text, Videos und Audios in Lebensvertrauen
2. Audios
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Transkription des Vortrags und der Diskussion in Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens, S. 17-40
Eröffnungsreferat Vortrag:
(24:59) ‹leiden› und das ‹Leid(ige)› unterscheiden: Mit oder gegen den Strich gehen / (29:12) leiden, leiten, Lotse: Die leitende Kraft ist das Leben selbst / (30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› (Joseph von Eichendorff) / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest / (36:34) Es bricht das Herz auf – Das Herz ist kein Privatplatz – Das allerheiligste Herz Jesu / (37:59) So leben, dass uns nichts leidig ist – Unsere große Entscheidung – Das Leben in Fülle (Joh 10,10)
Diskussion:
(24:18) Der Dalai Lama zum Thema Leiden – das Bodhisattva-Ideal
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(13:43) Leiden um Anderer willen ertragen: Die Antwort des Dalai Lama und die ungesunde Überhöhung von Leiden in der christlichen Tradition / (18:59) ‹Ich bin bei ihm in seiner Not› (Psalm 91:15): Gott leidet in uns auf die Freude hin
Teil 2:
(02:25) Um Lebensvertrauen ringen: Glaube ist Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes – Ein Leben, in dem die Logik nur so schwimmt wie ein kleines Eisstückchen im Getränk / (06:24) Schwerkranke und Sterbende begleiten – Die Freunde Hiobs saßen bei ihm sieben Tage und Nächte (Hiob 2,13): Einfach da sein, Zeit schenken / (13:06) Einander behandeln: Die Hand massieren, den Puls greifen – Totenwache daheim und bei den Maori – Belastendes will noch ausgesprochen werden – Nicht an der Hand, sondern in der Hand von jemandem sterben / (20:06) Die innere Geste des Loslassens: Eine andere Sicht auf Sterben, Selbstmord, verordneter Tod: Sokrates und Jesus / (30:04) Nur eine schmale Wand ist zwischen uns (Rilke: ‹Du Nachbar Gott›, Das Stunden-Buch)
Drittes Seminar mit Bruder David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg:
(53:26) Wie der strafende Vater das Gottesbild belastet – Das Opfer Abrahams (1 Mose 22,1-19) und die Gemälde Rembrandts
3. Texte
3.1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:
«Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: ‹In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir› (Apostelgeschichte 17,28).
Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?
Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.»
3.2. Vom mystischen Wasser kosten ‒ 99 Namen hat Gott im Islam (2019): Interview von Bruder David mit Josef Bruckmoser; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):
«Einige Namen Gottes widersprechen einander. Wie kann Gott gleichzeitig gerecht und barmherzig sein?»
«Das ist das Schöne an den Namen Gottes im Islam, dass die Gegensätze zusammenfallen. Im Christentum hat Nikolaus von Kues betont, dass in Gott alle Gegensätze eins sind. Begreifen können wir das nicht, aber wenn Ehrfurcht vor diesem Geheimnis uns ergreift, dann verstehen wir es. Wenn Ehrfurcht verloren geht, dann wird aus dem Zusammenfallen gegensätzlicher Gottesnamen ein Zusammenprallen. Dann muss man sich für eine Seite entscheiden. Das ist genau der heutige Zustand der Welt: Alles, ob religiös oder politisch, ist gespalten.»
3.3. Islam und Christentum sind sich näher als gedacht (2019):
«Zu Namen wie ‹Der Schöpfer›, ‹der Erlöser› oder ‹der Dankbare› könne auch ein Christ Meditationen anstellen, um sich dem Geheimnis Gottes zu nähern, meinte Steindl-Rast. Der Ordensmann widmet sich in seinem neuen Buch auch ‹irreführenden› Gottesnamen, wie ‹der Zurückweisende› oder ‹der Verweigerer›. Auch diese Bezeichnungen könnten in Menschen ein ‹Echo auslösen› und wären Teil des ‹namenlosen Geheimnisses› Gottes, das nur schwer zu fassen sei, führte der Benediktiner aus. Er persönlich stehe dem Gottes-Namen ‹der Dankbare› sehr nahe. Denn die ‹Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude›, so Steindl-Rast.
Viele Menschen verstehen unter dem Wort ‹Gott› etwas Falsches oder wollen es gar nicht verwenden. … Einen Ausweg sah der 1926 in Wien geborene Ordensmann darin, z.B. den Begriff Lebensvertrauen statt Gottesvertrauen zu verwenden. Beides meine letztendlich dasselbe und weise auf Gott und dessen ‹göttliches Geheimnis› hin.»
3.4. Vom Worte Gottes leben ‒ die Versuchung Jesu im Garten (2021):
«Wir können auch dies Erlebnis am Ölberg (Lk 22, 39-46) einen Bericht der Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) nennen. In beiden Berichten ist Vom Worte Gottes leben der entscheidende Punkt. In beiden Fällen bedeutet das Wort, das Gott spricht, Tod. Steine sind alles, was der Vater in der Wüste anbietet, nicht Brot; im Garten ist es der Kelch, ein Symbol für das Todesurteil. Diesmal ist es für Jesus ein harter Kampf:
‹Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.›
Dies ist das Gebet des Glaubens in seinen schmerzensreichen Geheimnissen. Mit Blutschweiß und Tränen kämpft Jesus zu einem Glauben durch, der selbst am Rande des Todes auf Gottes Treue vertraut.
Früher oder später muss jeder von uns diese Ebene des Glaubens erreichen. Vielleicht bereitet Gott uns noch vor auf jenen steilen Teil des Anstiegs.»]
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[1] Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 18-21; der Text ist die von Klaus Gasperi überarbeitete Fassung des Vortrages von Bruder David in der Propstei St. Gerold im September 2005 im Audio Fragen, die uns bewegen (2005) (18:45-20:48); siehe auch Fragen des Lebens
[2] 99 Namen Gottes (2019): 83 ar-Raʾūf: der MITLEIDIGE, 172f.
[3] 99 Namen Gottes (2019): 61 al-Mumīt: der TÖTENDE, in dessen Hand der Tod ist, 128f.
Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wie oft haben wir nicht schon erlebt, dass das Schicksal uns etwas Ersehntes vorenthält? Wer ist es aber, der uns Schicksal schickt?
Weil wir gläubig vertrauen, dass das göttliche Geheimnis Quelle und Ursprung unseres Lebens und so auch unseres Schicksals ist, schreiben wir Gott auch dieses Vorenthalten zu und nennen Gott den VERWEIGERNDEN.
Wie oft haben wir aber im Nachhinein dann sehen können, wie gut es für uns war, dass uns verweigert wurde, was wir uns erhofften und worum wir beteten.
Wir sind doch auch unseren Eltern nicht nur für das uns Gewährte dankbar, sondern ebenso für alles, was sie uns aus besserer Einsicht verweigerten. Erst als reife Menschen können wir so recht würdigen, was wir unseren Eltern durch ihr Verweigern verdanken. Es schwingt also Dankbarkeit mit, wenn wir Gott den VERWEIGERNDEN nennen.
Denk an einen großen Wunsch, der dir nicht in Erfüllung ging. Es ist nicht zu spät, dem VERWEIGERNDEN dafür zu danken. Vielleicht willst du das heute tun und dabei die innere Freiheit verspüren, die dir dieses Danken für Verweigertes gibt.[1]
Die Lehrerin fragt ein Schulkind: «Wozu brauchst du deinen Verstand?» «Um Geheimnisse zu bewahren», antwortet das Mädchen ohne zu zögern. Für sie bedeutet «Verstand» offenbar mehr als Vernunft, sie meint damit ihr ganzes Innenleben. Darum ist ihre Antwort so treffend. Unser Inneres wird uns als ein Bereich bewusst, der jeden Zugriff von außen zurückzuweisen vermag. Dieses geheimnisvolle, die innerste Würde behütende Zurückweisen gehört auch zu unseren innigsten persönlichen Beziehungen, ja, ganz besonders zu ihnen, und aus dieser Erfahrung erklärt sich wohl auch «der ZURÜCKWEISENDE» als Name für unser göttliches Du.
«Es tauchten tausend Theologen in deines Namens alte Nacht ...»[2]
Aber kein Name kann die Dunkelheit des Unergründlichen über die Grenze dieser Zurückweisung hinweg aufhellen.
Auch Nikolaus Lenau verwendet für die Unergründlichkeit des ZURÜCKWEISENDEN das Bild der Nacht, wenn er betet:
«Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
übe deine ganze Macht,
ernste, milde, träumerische,
unergründlich süße Nacht!»[3]
Süß, nicht erschreckend, dürfen wir uns die Nacht des ZURÜCKWEISENDEN vorstellen, weil sie ja letztlich jene Unergründlichkeit ist, die zur Vertrauensschulung in jeder Liebesbeziehung gehört.
Diese Erfahrung, Vertrauen auf Unergründlichkeit, macht es uns dann auch leichter, im täglichen Leben damit umzugehen, dass der ZURÜCKWEISENDE oft zu unseren Wünschen Nein sagt.
Wir dürfen ja nicht vergessen, dass unser tägliches Leben nichts Anderes ist, als immer wieder neue Gelegenheit zur Begegnung mit dem namenlosen Geheimnis, das hinter allen Gottesnamen steht.
«Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos»,
schreibt Rilke: «Irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen, zu einer Blüte, zu einer Frucht. Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehung wird auch schon ein Insekt sein, das aus dieser Blüte Reichtum trägt ...»[4]
Im Vertrauen auf den ZURÜCKWEISENDEN dürfen wir selber wohl jene Bienen sein, die auch aus den Blüten von Absage und Verweigerung Süßes saugen.
Was scheint dir das Leben zu verweigern? Kannst du, zum ZURÜCKWEISENDEN aufschauend, Honig des Vertrauens daraus machen? [5]
Wie können wir Gott den SCHADEN ZUFÜGENDEN nennen? Nur im tiefsten Vertrauen darauf, dass auch alles, was uns schadet, Geschenk der Liebe ist. Bei diesem radikalen Lebensvertrauen geht es um jene Haltung völligen Eins-Seins ‒ mit sich selbst und mit dem unergründlichen Geheimnis ‒, die uns in T. S. Eliots Worten «nicht weniger kostet als alles».[6]
Viele sagen «Ich habe an Gott geglaubt, bis mir das und das zugestoßen ist. Seitdem kann ich nicht mehr an Gott glauben.»
Da hat etwas zum Zusammenbruch des Glaubens geführt, was eigentlich Anstoß zur radikalen Verwirklichung gläubigen Vertrauens hätte werden können.
Wir können nicht sicher im Voraus wissen, ob unser Glaube an einem überaus schmerzlichen Anstoß scheitern oder erst so recht beginnen wird. Aber wir können uns darauf vorbereiten!
So wie wir durch unsere Erwägungen der Unergründlichkeit des Verweigernden vertrauen lernten, so können wir verstehen lernen, dass auch der SCHADEN ZUFÜGENDE ein Gottesname sein kann.
Leichter fällt uns das, wenn wir von uns selbst absehen und aufs Ganze schauen.
Denn nur in Teilbereichen können wir von Schaden und Nutzen sprechen. wenn wir aber aufs Ganze schauen, sind beide, Schaden wie Nutzen, Gewinn, nämlich Gewinn an Sein.
Unser Herz in einem großen Entschluss für die Fülle des Seins aufzuschließen, kostet uns aber, wie schon gesagt, «nicht weniger als alles».
Auch hier gilt: Schaue aufs Ganze ‒ und du wirst das Ganze rühmen.
«Meide den Irrtum, dass es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluss, diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, dass der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.»[7]
Wo fordert der SCHADEN ZUFÜGENDE dich am meisten heraus? Nimm das als Anstoß, dich zu äußerstem Vertrauen zu entschließen. Dieser Entschluss entscheidet zwischen einem verbitterten und einem erfüllten Leben.[8]
[Ergänzend:
1. Text, Videos und Audios in Lebensvertrauen
2. Weitere Audios
2.1. Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 1 ‒ Vormittag:
Drei Grundfragen Warum? Was? Wie? (Bruder David):
(32:10) Unsere Aufgabe: ‹Rühmen, das ists› (Rilke: Sonette an Orpheus ‒ ‹Ich geh doch immer auf dich zu› (Rilke: ‹Du wirst nur durch die Tat erfasst›) ‒ Kann man denn alles rühmen? ‹Schau auf das Ganze, rühme das Ganze› (Augustinus) ‒ ‹Zwischen den Schlägen besteht unser Herz› (Rilke: Die Neunte Elegie) ‒ Die Dunkelheit, der Schatten des Geheimnisses und unser eigener Schatten gehören zum Ganzen dazu ‒ ‹Du Dunkelheit aus der ich stamme› (Rilke: Das Stunden-Buch)
(37:37) Das Böse, das noch nicht Vollendete ‒ Und so gehen wir aus dem Schweigen in das Wort und durch das Verstehen wieder ins Schweigen zurück auf einer andern Ebene ‒ In der liebenden Dunkelheit sind wir versöhnt mit dem Schweigen
(58:30) Gibt es falsche Antworten? Mit Situationen umgehen, in denen wir versagten oder die Gelegenheit versäumten: Sich erinnern, den Fehler eingestehen, aber keine Energie verschwenden mit Schuldgefühlen
2.2. Wähle das Leben (5 Mose 30,19) (1992)
Gespräch Teil 2 in folgende Themen zusammengefasst:
(04:38) Gottvertrauen in gedrückter Stimmung / (07:24) Traurigkeit und Zorn – eine Form unserer Lebendigkeit
3. Texte
3.1. Gottesnamen, die ein Echo auslösen (2019): Interview von Bruder David mit Susanne Huber; siehe auch Buchpräsentation «99 Namen Gottes» im Europakloster Gut Aich (2019):
«Wie ist es Ihnen dabei ergangen, sich mit den vielen Facetten der unterschiedlichen Gottesnamen im Islam auseinanderzusetzen?»
«Viele Namen sind ja die selben wie bei uns Christen – ‹der Schöpfer› oder ‹der Erlöser›. Manche sind für uns aber ein bisschen irreführend, wie ‹der Zurückweisende›, oder ‹der Verweigernde›. Diese Namen würde man zunächst negativ auffassen. Letztlich kommt es aber darauf an, was wir als Menschen erleben, wenn wir sie in Bezug auf das große Geheimnis, mit dem wir alle konfrontiert sind, hören. Wenn uns das gelingt, dann haben wir eine Brücke gebaut – nicht von Muslimen zu Christen irgendwo oben, sondern tief unten, wo wir als Menschen eins sind. Ich habe mich bemüht, die Namen dorthin zu bringen, wo sie auf den Menschen vibrieren und ein Echo auslösen könnten.»
«Meinen Sie mit Lebensvertrauen auch Gottvertrauen?»
«Das ist ein und dasselbe. Heute ist es fast besser Lebensvertrauen zu sagen, weil so viele Menschen etwas Falsches unter Gott verstehen oder das Wort gar nicht verwenden wollen. Vertrauen ins Leben ist das Gegenteil von Furcht. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Furcht getrieben ist. Angst ist etwas anderes, sie ist im Leben unvermeidlich. Man kann in Angst sein und sich trotzdem nicht fürchten.»
3.2. Im Buch Die Achtsamkeit des Herzens (2021): Mit dem Herzen horchen, 16f.; siehe auch Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 264; Die schönsten Texte von David Steindl-Rast (2010): Unglück, 140; Horchen und Gehorchen:
«Auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. lm Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen. Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebensspendendes Wort? Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt. Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit. Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck. Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube. Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebens nicht offenbar ist, heißt den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.»]
_______________
[1] 99 Namen Gottes (2019): 20 al-Qābiḍ: der VERWEIGERNDE, der Gaben nach Seinem Ermessen zurückhält, 46f.
[2] R. M. Rilke: Das Stunden-Buch
[3] Nikolaus Lenau: ‹Bitte›
[4] R. M. Rilke: Brief an Annette de Vries-Hummes (München, 25. August 1915)
[5] 99 Namen Gottes (2019): 90 al-Māniʿ: der ZURÜCKWEISENDE, der Hindernde, 186f.
[6] R. M. Rilke: Four Quartets: Little Gidding, V: Schlussverse, übersetzt von Norbert Hummel (2015):
«Quick now, here, now, always ‒
A condition of complete simplicity
(Costing not less than everything)
And all shall be well
When the tongues of flame are in-folded
Into the crowned knot of fire
And the fire and the rose are one.»
«Rasch jetzt, hier, jetzt, immer ‒
Ein Zustand völliger Einfachheit
(Kostet nicht weniger als alles)
Und alles wird gut und
Jede Art Ding wird bald gut sein
Wenn die Flammenzungen sich zusammenfalten
Im gekrönten Feuerknoten
Sind das Feuer und die Rose eins.»
[7] R. M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXI
[8] 99 Namen Gottes (2019): 91 aḍ-Ḍārr: der SCHADEN ZUFÜGENDE, 188f.
Großzügigkeit
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
In fast jeder Situation haben wir die Wahl: geizig oder großzügig zu sein. Das habe ich selbst oft beim Trinkgeldgeben erlebt. Nie hat es mich gereut, etwas zu viel Trinkgeld gegeben zu haben, auch wenn die Bedienung zu wünschen übrigließ. Vielleicht war sie nicht so gut, weil der überforderte Kellner oder die Kellnerin eine Aufmunterung brauchte. Der Gedanke, dass ein Trinkgeld den Tag eines anderen aufhellen und ihn vielleicht sogar zum Guten wenden kann, hat mir immer gefallen. Großzügigkeit kann auf gesunde Art anstecken. Derjenige, der etwas bekommt, spürt auch, dass es dabei nicht um ein bloßes quid pro quo Tauschgeschäft geht. Großzügigsein schafft eine heiligere Atmosphäre, ein Gefühl, dass die Welt uns unerwartet segnet, oft auf eine Weise, die wir offensichtlich nicht verdienen. Und das trifft natürlich auf unser ganzes Leben zu. Wir können auch großzügig sein mit unserem Mitgefühl. Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen übermittelt werden kann. Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet. Das schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein Gefühl, dass wir Schwestern und Brüder sind in dieser Welt, in unserem gemeinsamen Zuhause.
[ST 61, Quelle: MS 5) 60f.]
Hausverstand
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Hausverstand ist im süddeutschen Sprachraum ein treffendes Wort für gesunden Menschenverstand. Spirituell gesunde Menschen verstehen den geheimnisvollen Kosmos, in dem wir leben, als ihr Zuhause, ihr Daheim. Und dieses Verständnis bestimmt, wie sie leben:
Menschen mit Hausverstand verstehen es, sich an ihrer Zugehörigkeit zum Erdhaushalt zu orientieren und fühlen sich darin zuhause. Darum sind sie auch furchtlos und vertrauensvoll. «Nichts ist, was dich schrecken darf, und du bist daheim», wie der Dichter Werner Bergengruen (1892-1964) sein Vertrauen ausdrückt[1], dass wir im unergründlichen Geheimnis ein Heimatrecht haben.
[Orientierung finden (2021): Das ABC der Schlüsselworte, 141f.]
Hatte Chesterton Unrecht, als er darauf hinwies, dass gesunder Menschenverstand von nicht allzu vielen Menschen verstanden werde?
Hausverstand, der uns Beziehungen wie die zwischen hoch, tief und niedrig verstehen lässt, muss älter sein als Sprache. Wir haben Hausverstand von Haus aus. Und das Haus, in dem wir letztlich alle gemeinsam zuhause sind, ist das menschliche Herz. Das Herz ist unser verlässlichster Ausgangspunkt. In der Art und Weise, in der unser Herz hoch und niedrig unterscheidet, ist die allgemein anerkannte Ordnung des menschlichen Weltbildes verankert. [FN 1) 59f.; 2) 59f.; 61]
Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun.[2]
Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden.
So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken.
Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln.
Im Geist zu handeln, heißt so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem «Erd-Haushalt» wie Gary Snyder es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun.
Alle Moral, welche je in irgendeiner Tradition in der Welt entstand, kann auf das Prinzip reduziert werden, so zu handeln wie man denen gegenüber handelt, zu denen man gehört.
Oft wird gesagt, dass sich die Vorstellungen, was Moral ist oder nicht, von Gesellschaft zu Gesellschaft total unterscheiden. Was in einer als moralisch angesehen wird, sogar als tugendhaft, wird in einer anderen als unmoralisch gebrandmarkt. Aber dies sind nur oberflächliche Widersprüche.
Im Grunde sagt jedes moralische Gesetz, das je geäußert wurde, in seiner Tiefe:
«So handelt man denen gegenüber, zu denen man gehört.»
Die Unterschiede werden durch die Grenze bestimmt, die wir ziehen zwischen denen, die zusammengehören und denen, die wir als Außenseiter betrachten.
Gesunder Menschenverstand – gerade weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben – zieht keine Grenzen.
Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschließt. Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört.
Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten: Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschließen. Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein.
Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden. Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden Familie sind.
Diese globale, alles einschließende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem «Reich Gottes» meinte. Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt. Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff Autorität.[3] [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1-4]
Hier, in meinem Herzen, kann ich:
Angst in mutiges Vertrauen umwandeln,
Aufhetzung in Stille, Verwirrung in Klarheit,
Isolation in ein Bewusstsein von Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe und
irrationales Verhalten in gesunden Menschenverstand.
Was deine Dankbarkeit für dich selbst bewirkt, ist ebenso wichtig wie, was sie für die anderen bewirkt.
Dankbarkeit verstärkt dein Zugehörigkeitsbewusstsein. Dieses Zugehörigkeitsbewusstsein wiederum verstärkt deinen gesunden Menschenverstand ‒ welcher jedoch zu oft verwechselt wird mit einer durch sture Gewohnheit festgelegten Denkweise.
Wahrhaft gesunder Menschenverstand und Dankbarkeit sind in ihrer Aufgeschlossenheit alles andere als festgelegt.
Gesunder Menschenverstand ist bloß ein anderer Name für das mit der kosmischen Intelligenz vermählte Denken.
Dein Ja zur Zugehörigkeit bringt dich in Einklang mit den gemeinsamen Anliegen, die von allen Menschen, allen Wesen für diese Sache geteilt werden.
In einer Welt, die wir gemeinsam tragen, macht nichts Sinn, außer der gesunde Menschenverstand.
Wir haben nur einen Feind: Unser gemeinsamer Feind ist die Gewalt. Der gesunde Menschenverstand sagt uns: Gewalt können wir nur beenden, wenn wir aufhören gewaltsam zu handeln; Krieg ist kein Weg zum Frieden. Höre die Nachrichten von heute und überprüfe wenigstens eine Sache mit deinem gesunden Menschenverstand. [Eine Vision für die Welt (2006)]
[Ergänzend:
1.1. Ein neuer Grund für Dankbarkeit (2002) ‒ der Beitrag von Bruder David im Buch: Der Tag an dem die Türme fielen: Symbolik und Bedeutung des Anschlags (2002):
«Die Gewalt hat ihre Wurzeln in jedem Herzen. Es ist mein eigenes Herz, in dem ich Angst, Unruhe, Kälte, Abneigung und Regungen von blinder Wut zu erkennen habe. Hier in meinem Herzen kann ich
Furcht in mutiges Vertrauen,
Unruhe und Verwirrung in Stille,
Abgetrenntheit in ein Gefühl der Zugehörigkeit,
Abneigung in Liebe verwandeln
und von irrationalem Verhalten zum Common Sense zurückkehren.»
1.2. Siehe auch: Fünf Schritte, um Dankbarkeit zu leben (2002):
2. Auf dem Weg der Stille (2016), 72-74:
«Der Begriff ‹spirit› (‹Geist›) ist schon derart missbraucht worden, dass ich überglücklich wäre, wenn man ihn vollständig fallen lassen und stattdessen immer von ‹common sense› sprechen würde. In unserer heutigen Umgangssprache bezeichnet dieser Ausdruck das Gemeinte viel besser. Er ergibt Sinn; er ist über die Sinne mit dem Körper verbunden; er ist gemeinschaftlich (common), grenzenlos gemeinschaftlich.
Zudem ist ‹common sense›, ‹Gemeinsam-Sinn› eine Grundlage für das Handeln, fürs Aktivwerden.
Im ‹common sense› sind Handeln und Denken eng miteinander verknüpft. Von daher ist ‹common sense› mehr als Denken. Er ist die vibrierende Lebendigkeit der Welt, in der Welt, die Lebendigkeit für die Welt, für unsere Umwelt. Und er ist ein Wissen dank des Umstands, dass man dazugehört, und damit eine Grundlage für das Tun, denn im Geist zu handeln heißt, so zu handeln, wie Menschen handeln, wenn sie zusammengehören.
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Moralsystemen sind lediglich die Grenzen, die wir für das Dazugehören ziehen: ‹Das sind diejenigen, gegenüber denen du moralisch handeln musst, und die anderen sind die anderen da draußen.›
Wenn du aber wirklich mit ‹common sense›, also allumfassendem Gemein-Sinn lebst, hat das keine Grenzen. Du lebst dann mit einer Moral, die ausnahmslos alle einschließt, und deshalb verhältst du dich gegen jedermann so, wie du dich gegenüber denen verhältst, zu denen du gehörst.
Das meinte Jesus, als er vom ‹Reich Gottes› sprach ‒ und jeder andere Begriff dieser Art aus jeglicher anderer religiöser Tradition passt darauf.
Richtig verstandener ‹common sense› ist autoritativ. In diesem Kontext von Religion und Spiritualität ist die Frage der Autorität äußerst wichtig.»
3. Wie das Göttliche in uns wächst (2005):
Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 04:
«Wenn man genau hinschaut, sagt jede Moral, ob sie jetzt ganz primitiv oder ganz verfeinert und ausgearbeitet ist, überall dasselbe.
Nämlich: So verhält man sich denen gegenüber, mit denen man zusammengehört.
Und da ist der Ursprung dieses Zusammengehörigkeitsgefühl
So verhält man sich!
Der Unterschied zwischen den Moralsystemen ist nur:
Wer dazugehört?»
4. Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
(29. April 2011) Dem Welthaushalt freudig dienen:
(12:23) Nur mit existentiellem Mut, mit Vertrauen können wir uns dem Universum als Erdhaushalt zuwenden, in dem wir Ordnung und Zugehörigkeit finden und uns darin daheim fühlen]
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[1] Werner Bergengruen: «Die heile Welt: Gedichte», Zürich, Die Arche 1961: «Poeta Creator: ein Glückwunschgedicht», 158-162.
Bruder David in: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 54-56:
«In einem seiner überschäumendsten Gedichte ‹Poeta Creator›, lässt Werner Bergengruen uns so recht die Schöpferfreude des göttlichen Dichters fühlen, der die ganze Welt als Liebesfest erfunden hat.»
Siehe auch Audio: Mit allen Sinnen leben (1993):
(45:17) Wo wir uns vor nichts fürchten müssen: Bruder David schließt mit den letzten Zeilen des Gedichts «Poeta Creator» von Werner Bergengruen
[2] Zugleich die ursprüngliche Bedeutung von Autorität.
[3] Siehe: Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2018), 5.
Ergänzend aus FN 1) 163; 2-5) 167; 6) 166: Schlüsselbegriffe: «Autorität»:
«Was Autorität angeht, so scheint unsere Gesellschaft blind. Fraglos gehen wir davon aus, dass Menschen von Natur aus äußerer Autorität widerstreben. Das Gegenteil ist wahr. Der Durchschnittsmensch ist außerordentlich anfällig dafür, dem Druck äußerer Autorität nachzugeben, selbst dann, wenn sie im Widerspruch zur Autorität des eigenen Gewissens steht.
Wegen dieser menschlichen Schwäche besteht die Aufgabe äußerer Autorität nicht darin, sich selbst zu verfestigen und durchzusetzen, sondern vielmehr darin, die innere Autorität verlässlich aufbauen zu helfen, indem sie die Betreffenden ständig ermutigt, auf ihren eigenen zwei Beinen zu stehen.
Es ist eine Frage und eine Herausforderung.
Die Frage lautet: Klingt das wahr vor deiner eigenen Herzenserfahrung?
Die Herausforderung ist: Wach auf und erlaube deinem Herzen, die ganze Bandbreite von Wirklichkeit zu erfahren.»
Heiliger Geist – Lebensatem Gottes
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir unsere Lebendigkeit messen könnten, so wäre der Maßstab sicher unser Berührtsein vom heiligen Einen, dem unerschöpflichen Feuer im Herzen aller Dinge.[1]
Pfingsten steht in der christlichen Tradition für die Feier des Geistes, und Geist ist Atem, göttlicher Atem, der uns lebendig macht und uns alle verbindet. Und in der Lesung zu Pfingsten heißt es von diesem Geist-Atem Gottes: er füllt das All; er hält alles zusammen; und er spricht und kennt alle Sprachen. Dem sollten wir nachgehen.
Zunächst einmal: Er erfüllt das All. Das «All» steht hier für Kosmos, für Universum und für die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende aller Zeit. Der Geist-Atem Gottes, so wird uns gesagt, erfüllt dies alles; und da auch wir atmen ‒ so können wir folgern ‒ sind auch wir mit alledem verbunden.
Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.
Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.
Aber viel mehr noch hängen wir zusammen durch den Geist. Was meinen wir damit?
Albert Einstein sagte einmal, dass die Fülle der Natur, die uns umgibt, die Fülle dessen, was wir erforschen können, erstaunlich sei, dass aber noch erstaunlicher sei, dass wir diese Fülle verstehen können.
Wie können wir diese Fülle, wie das Universum verstehen? Wir können sie nur verstehen, weil wir nicht nur physisch eins sind mit dem Universum, sondern weil wir auch den Geist, den Geist-Atem in uns haben, der alles er-füllt.
Wir können «Fülle» hier auch durch das Wort «Sinn» ersetzen. Da wir also den Sinn, der alles erfüllt, in uns haben, vermögen wir in uns auch den Sinn dessen zu verstehen, was uns umgibt; wir sind ihm verbunden.
Wir könnten aber genauso sagen, Sinn sei «Nichts». Wenn nämlich etwas Sinn hat, fügt der Sinn dem ja nichts hinzu. Es ist somit «Nichts», nicht aber ein leeres Nichts, sondern jenes Nichts, das für uns weit bedeutender ist als alles, was besteht. Wenn wir auch alles besäßen und es hätte keinen Sinn für uns, dann wäre dieses alles völlig belanglos. Der Sinn ist jenes Nichts, das das All wertvoll macht, es zum Leben bringt. Daher sprechen wir auch, wenn wir diesen Sinn meinen, von Geist, von Atem, weil Atem Leben bedeutet. Und wenn es heißt, dass wir Menschen erst durch Gottes Lebensatem lebendig werden, dann bedeutet dies, dass wir das Leben Gottes teilen.
Was meinen wir jedoch mit diesem so oft missverstandenen Begriff «Gott»? Hat das Vorgetragene Bedeutung aus Ihrem persönlichen Erleben heraus, auf das es bei Sinnfragen ja letztlich ankommt? Ich will versuchen, aus meinem Erleben eine Brücke zu schlagen. Vielleicht erinnert Sie das an Ähnliches, was Sie selbst erlebt haben.
Wenn wir fragen, wann wir diesen Geist, diesen Sinn-schaffenden Lebensatem erleben, so scheint mir die Antwort aus der gemeinsamen Erfahrung zu sein: Wir erleben ihn dann, wenn wir einmal wirklich in der Gegenwart stehen.
Meistens befinden wir uns ja doch nicht in der Gegenwart, sondern haften noch halb an der Vergangenheit und sind schon halb ausgestreckt auf die Zukunft.
Hie und da aber erleben wir einen Augenblick, in dem wir ganz geistes-gegenwärtig sind, wie es das schöne Wort ausdrückt. Und Gott, richtig verstanden, ist dann das, was uns ent-gegenwartet, wenn wir wirklich in der Gegenwart sind. Oder man kann es auch so sagen: das Göttliche ist die Gegenwart, in der wir aufgehoben sind.
Erinnern Sie sich an diese besten, lebendigsten Augenblicke Ihres Lebens? Augenblicke, in denen Sie ganz in der Gegenwart aufgehoben waren?
Nicht wahr, wir erleben uns aufgehoben in dreifacher Hinsicht.
Zunächst im Sinn von ausgelöscht: Was uns da ent-gegenwartet, das löscht uns aus, aber nicht in negativer Weise, sondern wie die Sterne ausgelöscht werden, wenn die Sonne aufgeht.
Wir erfahren uns aber auch aufgehoben in dem Sinn, dass wir auf eine höhere Ebene hinaufgehoben werden. Die Gegenwart, wenn wir uns ihr wirklich stellen, hebt uns über uns selbst hinaus. Von solchen Augenblicken pflegen wir zu sagen, «in diesem Moment bin ich über mich selbst hinausgewachsen».
Und schließlich ‒ und dies ist das Wichtigste ‒ sind wir auch aufgehoben im Sinn von geborgen. Wir wissen in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, dass wir in dem, das uns entgegenwartet, zuhause sind, völlig aufgehoben und wohl geborgen.
Weil Gottes Geist das All und uns erfüllt ‒ so haben wir gesehen ‒ deshalb können wir das All verstehen. Und da er alles zusammenhält, sind wir in der Einheit aufgehoben; und auch dies in dreifachem Sinn.
Wir sind in einer Einheit aufgehoben, in der unser kleines Ich ausgelöscht ist ‒ dies ist die negative Seite.
Wir erleben uns in ihr aber auch hinaufgehoben in Gemeinschaft und Bezogenheit.
Und wir erfahren uns schließlich geborgen in Gemeinschaft, zugehörig zum großen Haushalt der Erde.
Ich erinnere Sie nur an etwas, was gewiss auch Sie erfahren haben: In solchen Augenblicken, in denen wir, wie wir sagen, uns selbst verlieren, finden wir uns, da sind wir wirklich ganz die wir sind.
In Zeiten dagegen, in denen wir uns anklammern an das, was wir zu sein glauben, da verlieren und zerstreuen wir uns.
Wenn wir uns über uns selbst hinaus in eine Einheit hineingehoben erleben, die gleichzeitig grenzenlose Gemeinschaft bedeutet, dann finden wir uns, aber wir finden uns nicht in unserem kleinen Ich, sondern in unserer Einzigartigkeit, in unserem höchsten, umfassendsten Selbst als Person, und wir erleben uns verbunden mit der ganzen Schöpfung und dem ganzen All.
Und darum heißt es auch vom Geist Gottes, dass er nicht nur das All erfüllt, nicht nur alles in Einheit zusammenhält, sondern dass er jede Sprache kennt. Wenn wir eine solche Geisterfahrung hatten, wie ich sie geschildert habe, dann sind wir versucht zu denken, unsere Sprache ‒ oder genauer gesagt, die Sprache unsrer religiösen Tradition ‒ sei die einzige, in der wir diese Geisterfahrung ausdrücken können.
Aber der Geist Gottes kennt und spricht alle Sprachen, nicht nur die der Menschen, sondern die der ganzen Schöpfung. Jedes Tier ist ja eine eigene Sprache, die der Geist spricht, jede Pflanze, jeder Kristall, jeder Stein, jeder Stern, jedes Meer, ‒ das Weltall ist ein Sprechchor von verschiedenen Sprachen, die alle der eine Geist spricht.
Und das Pfingstwunder wird gerade so beschrieben, dass alle die vielen Völkerschaften, die das Brausen des Geistes vernahmen, sich wunderten, dass jeder einzelne von ihnen die eigene Sprache vernahm!
Es ist die Einheit in der Vielfalt, die hier erfahren wurde ‒ ein ganz und gar ökumenisches Ereignis! Daher bedeutet das Pfingstfest auch geschichtlich den Durchbruch aus der Enge einer Religion (die hier, mehr oder weniger zufällig, das Judentum war), in den Universalismus!
Was sich aber im Laufe der Zeit aus diesem Pfingstereignis heraus entwickelt hat, das ist ‒ jedenfalls bis heute noch ‒ kein solcher Ausbruch aus der Enge, sondern nur die Entstehung einer anderen Religion, nämlich des Christentums.
Wir können bedauern, wir können es aber ebenso begrüßen. Denn diese Religion hat doch im Wesentlichen nur die eine Aufgabe: Mit jeder neuen Generation erneut über sich selbst hinauszuführen in den Universalismus, auch wenn sie noch so oft in sich selbst steckenbleibt.
Das Gleiche aber gilt ja auch für jeden einzelnen von uns. Auch wir haben doch eigentlich die Aufgabe, aus jenem tiefsten Erleben unserer All-Einheit heraus zu leben, und dennoch bleiben wir täglich wieder in uns selber stecken. Wie können wir dieses dann den Religionen verübeln, die doch nur die Konglomerate sind aus den vielen einzelnen von uns.
Besinnen wir uns also darauf, dass auch heute noch, 2000 Jahre nach dem Pfingstereignis, unverändert die Herausforderung an uns besteht, aus Religion im engeren Sinn ‒ ob das nun die jüdische, die christliche, die buddhistische oder eine andere Religion ist ‒ in den Universalismus auszubrechen, ohne die Religion zurückzulassen.
Wir lassen uns ja auch selbst nicht zurück, wenn wir über uns hinauswachsen, im Gegenteil. Genauso die Religion. Und auch sie wird erst wirklich sie selbst, wenn sie universalistisch wird.
Sie wird aufgehoben in dreifachem Sinn: Ausgelöscht, soweit sie in der Vereinzelung, im Gegensatz zu den anderen, steht; hinaufgehoben auf eine höhere Stufe und in eine umfassendere Ordnung; und aufgehoben im Sinn von Bewahrung, bei der ihr Bestes zum Vorschein kommt.[2]
Der Heilige Geist ist der göttliche Lebensatem in uns. Geist und Fleisch stehen einander im biblischen Sprachgebrauch als Pole gegenüber. Fleisch bezeichnet alles, was unvermeidlich dem Tod verfallen ist. Fleisch muss ja verwesen, wenn es nicht mehr vom Lebensatem lebendig erhalten wird. Geist ist dieser Lebensatem, zunächst ganz konkret biologisch, dann in alle Grade des Lebendigseins übertragen, bis zur höchsten spirituellen Wirklichkeit, unserer Teilnahme am göttlichen Leben.
In dieser letzten Bedeutung sprechen wir vom Geist als Heilig im Sinne höchster Transzendenz. An den Heiligen Geist zu glauben heißt, auf unsere innerste Verbundenheit mit dem lebendigen Gott zu vertrauen und entsprechend zu leben.
Wir können uns bewusstwerden, dass «leben» nicht etwas ist, was wir «tun», wie kochen, laufen oder Schach spielen. Leben ist vielmehr ein Vorgang, an dem wir teilnehmen durch alles, was wir tun und erleiden ‒ ein Vorgang, der sich in uns abspielt, der aber weit über uns hinausgeht.
Es ist etwas, was wir nicht durch Analysieren verstehen können, sondern nur im Durchleben.
Wir können uns auch verschiedener Intensitätsgrade der Lebendigkeit bewusst werden.
Deine Lieblingsspeise wird Deine Lebendigkeit um einige Grade erhöhen.
Gute Musik wird sie noch etwas höher schrauben.
Das Lebensgefühl, wenn du dein erstgeborenes Kind in deinen Armen hältst, liegt auf einer noch weit höheren Ebene.
Anderseits kann es auch vorkommen, dass deine physische Lebendigkeit, sagen wir durch Krankheit oder Altersbeschwerden, hinuntergedrückt ist. Auch emotional fühlst du dich niedergeschlagen und deine Denkschärfe ist geschwächt; und trotzdem kannst du gerade in einer solchen Lage einer unerwarteten Lebensintensität gewahr werden; trotz erschlaffter Vitalität brennt tief in dir die Lebensflamme stetig, still und stark.
Solange wir uns gesund und kräftig fühlen, achten wir meist kaum auf dieses innerste Lebensfeuer.
Wenn in ihm unsere Sehnsucht nach der letzten Wirklichkeit glüht, wenn es uns wärmt und wach hält und uns Kraft gibt unserer Umwelt in Liebe als Mitwelt zu begegnen ‒ mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben ‒, dann nennt die christliche Tradition diese Lebendigkeit den Heiligen Geist.
Jeder Mensch kann diese uns unendlich übersteigende und zugleich einbeziehende Lebenskraft in sich erfahren, ganz gleich welchen Namen wir ihr geben.
«Ich glaube an den Heiligen Geist»
Worum es in diesem Glaubenssatz geht, ist nicht ein Fürwahrhalten, dass es «eine göttliche Person» gibt, die Heiliger Geist heißt.
Es geht vielmehr um ein gläubiges Sich-verlassen auf das Leben in uns, das letztlich Anteilnahme an der göttlichen Lebendigkeit ist.
So dem Leben zu vertrauen heißt: fest damit rechnen, dass jeder Tag uns genau das bringen wird, was wir brauchen ‒ wenn es auch nicht immer das ist, was wir uns wünschen.
Für mich persönlich war es eine folgenreiche Fügung, dass ich eingeladen wurde, im Sommer 1969, fünfzehn kleinen Klöstern-auf-Zeit im Staat Michigan beim Start zu helfen und sie zu betreuen; über die ganzen USA verstreut gab es Hunderte. Aus den stillen Gebetsgemeinschaften nahmen viele regelmäßig an den sprudelnden sprühenden charismatischen Gebetsabenden teil.[3]
Etliche von uns bereiteten sich in diesem Sommer auf die Geisttaufe vor, eine Erneuerung der Verpflichtungen, die man in der Taufe auf sich nahm, jetzt aber mit besonderer Offenheit für ein Leben im Heiligen Geist und für seine Gaben.
Als Tag für diese Feier hatte ich für mich den 20. Juli ausgewählt, weil das der 43. Jahrestag meiner Taufe war. Freilich konnte ich noch nicht voraussehen, welche spektakuläre zusätzliche Bedeutung dieser Tag in jenem Jahr erhalten sollte. Als wir am Abend des 20. Juli noch ganz glühend von Begeisterung aus dem Schulraum kamen, in dem wir gebetet und die Geisttaufe empfangen hatten, fiel mein Blick auf den Vollmond, der von hoch oben durch eines der Fenster herunterschaute. Eine kleine Menschengruppe stand da in der Eingangshalle vor einem Fernsehgerät. Warum waren sie alle so still? Als ich näher kam, bemerkte ich, dass sie atemlos zuschauten, wie der erste Mensch seinen Fuß auf die Mondoberfläche setzte.
«Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit», konnten wir aus 380.000 Kilometer Entfernung Neil Armstrong sagen hören und zugleich zum Mond aufblicken.
Bis heute kann ich kaum glauben, wie alles für mich zusammenstimmte, um eine Einsicht zu unterstreichen, die ich wohl nie vergessen werde:
Ja, der Heilige Geist ergreift und verändert uns durch tiefe innere Erfahrungen, aber derselbe Heilige Geist ergreift und verändert auch unsere äußere Welt.
Die leidenschaftliche, geduldige Forschungsarbeit von Wissenschaftlern, die Schöpferkraft von Technikern, Künstlern, Musikern, Dichtern und Schriftstellern, und der Einfallsreichtum von Frauen und Männern, die sich auf unzähligen anderen Gebieten im Dienst an der Menschheit um eine bessere Welt mühen, sie alle sind von ein und demselben Heiligen Geist inspiriert.
Jede Saite einer Windharfe antwortet mit einem anderen Ton auf denselben Wind. Welche Tätigkeit lässt dich selber am stärksten mitschwingen, wenn der Wind des Heiligen Geistes dich anrührt, der «weht, wo er will» (Joh 3,8)?
Die Turbulenz der Charismatischen Erneuerung in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat sich gelegt, aber die Kirchen werden nie mehr zum alten Trott zurückkehren können. Ungezählte Christen hatten da tief spirituelle Erlebnisse und werden nie mehr ihre persönliche Erfahrung offizieller Lehre unkritisch unterwerfen.
Was hältst du persönlich von dieser Einstellung? Hat sie Grenzen, die respektiert werden wollen? Wie siehst du die Rolle des Heiligen Geistes in dieser Hinsicht? Wo siehst du den Heiligen Geist heute die Welt bewegen?[4]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f., 4)
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 3:
(23:08) Unser innerstes Leben ist göttliches Leben, der Lebensatem Gottes: ‒ Einatmen und ausatmen, geben und nehmen
1.2. «Vom Rhythmus des Lebens»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989) (06:02-15:47); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-15:
«Leben ist zu breit, als dass wir hoffen könnten, das ganze Spektrum hier zu behandeln. Wir müssen daher auswählen. Aber im Leben hängt alles mit allem zusammen. Welchen Bereich des Lebens sollen wir hier in Frage stellen, ins Auge fassen? Biologisches Leben, psychologisches Leben, soziologisches Leben, sogar politisches, ökonomisches Leben spielt da herein; jedes hat seine Rhythmen.
Ich möchte vorschlagen, dass wir uns heute auf den umfassendsten Bereich des Lebens einstellen, auf das g e i s t l i c h e Leben.
Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?
Es heißt: Leben im Geist, Leben aus dem Geist, Leben im Heiligen Geist, Leben aus dem Heiligen Geist. Und Geist heißt Lebensatem Gottes.
Lebensatem ‒ alle die Wörter, die unserem Wort ‹Geist› voranstehen in der biblischen Tradition, ruach, pneuma, spiritus ‒ alle bedeuten Lebensatem.
Beinahe ist es ein Pleonasmus, von geistlichem, also lebendigem Leben zu sprechen ‒ so etwas ist ein weißer Schimmel oder ein schwarzer Rappe ‒, aber es ist doch nicht wirklich ein Pleonasmus. Wenn wir nämlich vom g e i s t I i c h e n Leben sprechen, dann meinen wir damit w a h r e s Leben, wahrhaftige Lebendigkeit, aufblühendes Leben, fruchtbares Leben ‒ ganz im Gegensatz zu dem, was wir so häufig Leben nennen, nämlich unser halbtotes, sich selbst verneinendes, geistloses Dahinleben. Das nennen wir auch Leben. Und daher muss man es ausdrücklich sagen: Wir meinen hier geistliches Leben, nämlich wirkliche Lebendigkeit.
Was können wir über diese wirkliche Lebendigkeit sagen?
1. Wir haben sie von Gott als Geschenk.
Im Buch Genesis, im 2. Kapitel (1 Mose 2,7), lesen wir: Gott, der Bundesgott, formte den Menschen aus Erde und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Das heißt, in biblischer Sicht sind wir jene Lebewesen, die durch Gottes eigenen Lebensatem lebendig sind. Das ist der Mensch.
Was können wir weiters über diese wahre Lebendigkeit aus der Sicht der christlichen Tradition, der biblischen Tradition sagen?
2. Wir haben sie mit Gott gemeinsam.
Diese Lebendigkeit ist Gottes Lebendigkeit in uns. Freilich, wir haben sie nur so gemeinsam, wie das Wasser in einem Krug und das Wasser im Meer gemeinsam sind, aber es ist doch eine Gemeinsamkeit. Wir Menschen atmen Gottes Atem.
3. Wir kennen Gott durch diese Lebendigkeit, wir kennen Gott nur durch diese Lebendigkeit des göttlichen Lebens in uns.
Denn man kann zwar über Gott etwas wissen, von außen, aber kennen kann man Gott nur von innen. Selbst erahnen können wir Gott nur von innen. Der heilige Paulus spricht das sehr schön aus im ersten Korintherbrief, im 2. Kapitel (1 Kor 2,10-12).
Er sagt: Wer kann schon einen anderen Menschen wirklich kennen? Nur der Geist, der in dem Menschen selber ist, kennt den Menschen wirklich. Und in Parallele dazu sagt er: Wer könnte dann hoffen, Gott zu kennen? Nur der Geist Gottes selbst kann die Tiefen Gottes ausloten.
Da könnte man nun glauben, dass Paulus aus diesen beiden Prämissen den Schluss zieht, wir sollten uns gar nicht bemühen, Gott zu kennen. Wenn wir schon einen anderen Menschen nicht kennen können, um wieviel weniger Gott.
Aber da springt er jetzt in der Kraft dieses selben Heiligen Geistes über die beiden Prämissen sozusagen hinweg und zieht kühn den Schluss: Wir haben den Heiligen Geist Gottes empfangen und erkennen Gott daher mit Gottes eigener Selbsterkenntnis. Wir kennen Gott von innen her, weil uns an Gottes eigener Lebendigkeit Anteil g e s c h e n k t ist.
Gottes Lebensatem ist uns geschenkt, wir können also Gott von innen her verstehen, durch diesen Heiligen Geist, durch diese Lebendigkeit in uns.
4. Diese Lebendigkeit macht uns zu Menschen, macht uns erst zu Vollmenschen.
Wir Menschen werden zu lebendigen Wesen, indem Gott uns Anteil nehmen lässt am göttlichen Atem, am Heiligen Geist.
Und je mehr wir uns aufschließen und lebendig werden durch Offenheit aller Sinne und durch Opferbereitschaft, umso mehr werden wir wahrhaft menschlich: als Gotterfüllte erfüllen wir unsere menschliche Berufung.
5. Zugleich aber verbindet uns dieser Heilige Geist auch miteinander.
Im Römerbrief sagt Paulus: Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Söhne und Töchter Gottes (Röm 8,14). Das ist der Geist Gottes, den wir Menschen schon von Anfang an empfangen haben und dann in Fülle zu Pfingsten. Nach dem biblischen Menschenbild gibt es keinen Menschen in der ganzen Welt, der nicht aus Gottes eigenem Leben lebt, wenn er sich nur diesem Leben aufschließt, und so wirklich Mensch wird. Und darum verbindet uns der Heilige Geist mit allen, denn alle, die sich dem Geiste Gottes aufschließen, alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen (und Paulus betont dieses ‹alle› hier), sind Söhne und Töchter Gottes.
6. Nicht nur mit den Menschen verbindet uns dieser Heilige Geist, dieser Lebendigkeit in uns, sondern mit allen und allem, mit den Tieren, den Pflanzen, ja mit dem ganzen Kosmos.
In den Psalmen hören wir immer wieder vom Atem Gottes, der ausgeht und alles lebendig macht; wenn er zurückgezogen wird, fällt alles wieder ins Nichtsein zurück. Wir hören auch schon im Alten Testament, dass der Geist Gottes den ganzen Erdkreis füllt und alles zusammenhält, alles vereinigt und jede Sprache kennt.
Da ist die vereinigende Kraft des Geistes ganz deutlich ausgesprochen. Und wie sehr wir dieses Gemeinsamkeitsbewusstsein mit der ganzen Schöpfung gerade heute brauchen! ‹Geistliches Leben› bedeutet also Lebendigkeit im Heiligen Geist Gottes. Gerade auf diesen Aspekt des Lebens möchte ich hier am Anfang unserer Tagung eingehen, wenn vom ‹Rhythmus des Lebens› die Rede sein soll.»
1.3. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 2:
(20:10) Bruder David spricht über seine Geisttaufe am 20. Juli 1969 und die Charismatische Erneuerung, wie er sie erlebt hat.
1.4. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:23) Mit Jesus bricht durch, was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.
2. Weitere Texte
1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 94f.:
«Der Heilige Geist bedeutet, dass wir die göttliche Wirklichkeit durch Gottes eigenes Selbsterkennen erfahren, an dem wir teilhaben. Gottes Selbsterkennen ist ein Aspekt dessen, was wir den Heiligen Geist nennen. Der hl. Paulus hat eine wunderbare Stelle in seinem ersten Brief an die Korinther formuliert (1 Kor 2,10-12): ‹Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als der Geist Gottes.› Nun könnte man denken, aus diesen Sätzen sei der Schluss zu ziehen, dass kein Menschenwesen jemals Gott kennen könne. Wenn wir nicht einmal einen anderen Menschen in seinem Innersten kennen, wie könnten wir dann Gott kennen? Doch macht Paulus hier einen unglaublichen Sprung und sagt: ‹Wir haben aber nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist.› Das heißt, wir kennen Gott aus innerer Sicht, gewissermaßen durch Gottes Selbsterkennen. So gesehen ist die Dreifaltigkeit eine Art, über unsere menschliche Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit zu sprechen. Es ist eine Lehre, die ihre Wurzel in unserer mystischen Erfahrung hat.» [ST 63]
2 Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 59-63:
«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht. Er gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»
Dazu ergänzend aus Credo (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 52f.:
«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Gepetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft.
Der biblische Schöpfer haucht dem Werk seiner Hände seinen eigenen Lebensatem ein. Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?
Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser Schöpfer ergänzen und berichtigen. Es geht hier um ein Gegenüber, mit dem wir doch im Innersten eins sind.
Weil Lebendiges nicht e r zeugt, sondern g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.
‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›, sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnis von Christus aus.»[5]]
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[1] Sakramentales Leben; Sakramentales Leben ‒ «Zieh’ deine Schuhe aus!» (1979), aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Eve Landis; siehe auch diesen Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 8 ‹Auf heiligem Grund stehen›, 119
[2] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir›?
[3] Ebd. S. 185:
«Es begann im Februar 1967 mit einer förmlichen Explosion von Geistesgaben während eines Einkehrtages für Studenten der Duquesne University [in Ann Arbor, Michigan, eine kleine Universitätsstadt im Mittelwesten der USA] Von da aus verbreitete sich die Charismatische Erneuerung wie ein Lauffeuer über die ganze Welt. Solche Geistesgaben ‒ z. B Zungenreden (ein ekstatisches Beten in meist unverständlichen Lauten), prophetische Mahnreden und Heilung durch Handauflegung ‒ die in kleineren evangelischen Kirchen der Pfingstbewegung schon lange bekannt waren, fanden nun plötzlich in den großen traditionellen Kirchen Eingang; in jeder beliebigen Anglikanischen oder Römisch-Katholischen Pfarrkirche konnte man jetzt auf solche Phänomene stoßen.»
[4] Credo (2015): ‹Ich glaube an den Heiligen Geist›, 182-184, 186f.
[5] ‹genitum non factum, consubstantialem Patri› (Großes Glaubensbekenntnis); siehe auch Religionen und heiles Gottesbild: Anm. 3
Heiliger Geist – Vernetzung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Vernetzung ist ein Begriff, der mir persönlich hilft, dem Wirken dessen in der Welt näher zu kommen, was das Credo den Heiligen Geist nennt. Freilich sollten wir von einem Begriff nicht allzu viel erwarten; er hilft uns bestenfalls zu intellektueller Klarheit.
Wahre Einsicht muss auf persönlicher Erfahrung gründen.
Da wir in jedem Augenblick Vernetzung erleben, fällt sie uns meist gar nicht mehr auf. Alles ist ja mit allem vernetzt.
Es kann also hilfreich sein, ein Beispiel zu wählen, bei dem uns eine ganz erstaunliche Vernetzung bewusst wird. C. G. Jung spricht da von Synchronizität. Wir erleben gewisse Ereignisse als bedeutungsvoll miteinander vernetzt, ohne dass sie wie Ursache und Wirkung verbunden wären.
Die meisten Menschen können sich an synchronistische Erlebnisse erinnern. Als Anregung für Erinnerungen der Leserinnen und Leser möchte ich hier von einer meiner eigenen berichten. In den Neunzigerjahren durfte ich am Schumacher College im Südwesten Englands unterrichten. Die umliegenden Teile der Provinz Devon bieten besonders reizvolle Gelegenheiten für Wanderungen. Es traf sich, dass ich zwei aufeinander folgende Tage frei hatte, und William Thomas, ein Mitarbeiter, mit dem ich mich dort angefreundet hatte, bot sich als Führer an für einen Streifzug durch das herrlich wilde Hochland des nahegelegenen Naturschutzparks.
Wir sprachen über vielerlei, als wir so miteinander durch eine Landschaft von karger, rauer Schönheit wanderten und da kam das Gespräch auch auf Synchronizität. William erzählte mir von einem Lehrer aus Indien, der sich in den Straßen von London um körperlich und geistig «gebrochene» Menschen annahm, wie er das ausdrückte. Es traf sich nun, dass William eine ganze Liste von Bezeichnungen für Schmetterling in verschiedenen Sprachen zusammengestellt hatte ‒ butterfly, mariposa, farfalla, papillon ‒ und so fragte er diesen Lehrer, wie man den Schmetterling in Indien wohl nenne. «Warte», sagte der, «ich habe den Dialekt, mit dem ich in Indien aufwuchs, schon so lange nicht mehr gesprochen; was war nur unser Wort für Schmetterling? Schmetterling …»
In diesem Augenblick, so erzählte William weiter, kam, wie auf den Ruf des Lehrers hin, ein Schmetterling da mitten in London, und setzte sich dem Lehrer auf die Brust. Noch dazu hatte dieser Schmetterling einen gebrochenen Flügel, wie um die «gebrochenen» Menschen zu verkörpern, die dem Herzen des Lehrers so nahe standen.
Ein eindrucksvolles Beispiel von Synchronizität. Was sich aber während Williams Erzählung ereignete, war noch eindrucksvoller. Auf unserer ganzen Wanderung hatten wir noch keinen Schmetterling gesehen, aber während William sprach, bemerkte ich, dass einer auf uns zugeflattert kam. Im Augenblick als er erzählte, «und der Schmetterling setzte sich dem Lehrer auf die Brust», schwebte unser eigener Schmetterling direkt vor mir und ‒ «Nein, nein, das kann doch nicht sein!» schrie alles in mir ‒ er setzte sich mir aufs Herz.
«Vernetzung» war auch für Thomas Mertons theologisches Denken ein wichtiger Begriff. Seine Erfahrung als Mönch hatte ihn gelehrt, dass der Heilige Geist alles mit allem vernetzt. Kurz vor seiner Reise in den Fernen Osten, von wo er nicht zurückkehren sollte, verbrachten wir gemeinsam einige Tage in einem Kloster in Nordkalifornien.
Das Thema Vernetzung war in unseren Gesprächen lebendig geworden, und jetzt stand Merton zur Eucharistiefeier am Altar der Kapelle. Die Wand hinter dem Altar war ganz aus Glas, ein einziges großes Fenster mit Ausblick auf eine von Mammutbäumen umstandene Lichtung. Sonnenlicht strömte in leuchtenden Farben schräg durch die Kronen der uralten Bäume herab. Das Tagesevangelium sprach vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest. Niemand konnte voraussehen, wie dramatisch die Vernetzung zwischen dieser Frohbotschaft und der Natur da draußen sich uns bald darauf darstellen sollte ‒ die Vernetzung zwischen Liturgie und instinktivem Verhalten, zwischen einem Ritual von uns Menschen und einem von Insekten.
Zur Zeit der Kommunion entfaltete sich vor uns ein erstaunliches Schauspiel: Völlig gleichzeitig mit unserer Kommunionsprozession in der Kapelle setzte sich draußen eine zweite in Bewegung, eine Hochzeitsprozession fliegender Ameisen ‒ tausende im Abendlicht glitzernder Flügelchen zogen über die Waldlichtung. In solchen Augenblicken weckt uns das Wunder der Vernetzung auf, und wir sind hellwach.
Jedoch selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, ereignet sich ununterbrochen die geheimnisvolle Vernetzung aller Dinge und Ereignisse um uns und in uns.
Weil Gott Liebe ist, und Liebe das gelebte «Ja» zur Zugehörigkeit, und Zugehörigkeit die Innenansicht sozusagen von dem, was wir von außen betrachtet «Vernetzung» nennen, dürfen wir sagen, dass der Heilige Geist die innigste Vernetzung von allem mit allem bewirkt.
Und weil Jesus Christus das «Ja» der Liebe zu vorbehaltsloser Zugehörigkeit vorbildhaft verwirklichte, dürfen wir ihn im Credo als «Empfangen durch den Heiligen Geist» bekennen.
Gewiss: das ist poetische Sprache; aber auf welche Weise sollten wir es denn sonst ausdrücken? Wir dürfen diese dichterische Ausdrucksweise nur nicht wörtlich nehmen. Carl Friedrich von Weizsäcker soll gesagt haben, man habe die Wahl, die Bibel wörtlich zu nehmen ‒ oder ernst. Wir wollen sie ernst nehmen. Dann werden wir uns aber nicht um ihre schwerwiegenden Anforderungen herumdrücken können.
Wir werden uns tief bewegt finden von der Kraft und Zartheit, der revolutionären Leidenschaftlichkeit und dem leidenschaftlichen Pazifismus Jesu Christi, der tatsächlich Gottes Lebensatem zu atmen scheint.
Dann wird das Beste in uns angefeuert werden durch sein Beispiel und seinen Geist in uns, den dieses Beispiel weckt.
Vernetzungen im Heiligen Geist sind nicht mechanisch zu verstehen. Die Verknüpfungen eines Fischnetzes oder selbst die Verbindungen in einem Cyber-Netzwerk bieten nur unzulängliche Bilder. Wir sollten eher an die Herzensverbindungen denken, die wir auf einem Hochzeitsfest feiern.
Wenn wir Beziehungen von Liebe und Freundschaft, von Treue und Vertrauen anknüpfen, dann können wir den Pulsschlag des Geistes in unseren Herzen fühlen.
In solchen Augenblicken beginnen wir zu ahnen, wie jene Welt aussehen könnte, nach der der Heilige Geist in uns sich sehnt.
Aber für diese Welt gibt es keinen im Voraus festgelegten Plan. Alles ist Improvisation. Jeder Einzelne von uns darf da mitträumen; wir sind Mitschöpfer.
Jesus erahnte Gottes Traum für die Welt und sprach vom Reich Gottes.
Dadurch dass wir uns um ein Herzensnetzwerk bemühen, tragen wir dazu bei, diesen Traum zu verwirklichen.
Und Du? Hast Du einmal Vernetzungen erlebt, die von Dir die Ausweitung eines zu engen Bewusstseins verlangten?
(Ich habe Beispiele dieser Art angeführt, als Fingerzeig auf noch weit tiefere Vernetzungen von allem mit allem im Heiligen Geist.)
Wenn Du die Kindheitsgeschichten Jesu bei Matthäus und Lukas als Aussagen über den erwachsenen Jesus liest, fühlst du dich bereichert, oder von etwas beraubt, das dir lieb war? Oder ein bisschen von beidem?
Wer außer Jesus kommt Dir in den Sinn, wenn Du daran denkst, dass der Heilige Geist Menschen braucht, um Herz mit Herz zu verknüpfen?
(Denke dabei nicht nur an die Heiligen der verschiedenen religiösen Traditionen, sondern auch an große Künstler, Erfinder, Diplomaten, Musiker, Autoren ...)
Kennst Du Vernetzungsbemühungen (vielleicht mit Hilfe des Internets), die durch den Heiligen Geist inspiriert zu sein scheinen?
Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.
In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.
Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.
Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.
Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.
Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem «Gott sprach … und es ward» im biblischen Schöpfungsbericht. Wir haben es mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann. Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.
Auch in unserer Alltagserfahrung können wir diese große Gegenwart spüren.
In der Begegnung mit der Wirklichkeit wird uns nämlich etwas wie Vertrauenswürdigkeit bewusst, besonders in der Ordnung der Natur.
Es ist also nicht unvernünftig, wenn der Theologe H. Richard Niebuhr von «Verlässlichkeit im Herzen aller Dinge» spricht.
In allem, was es gibt, spürt unser horchendes Herz den Pulsschlag einer großen Gegenwart, auf die wir uns gläubig verlassen dürfen.
Und je mehr wir uns darauf verlassen, umso mehr erfahren wir tatsächlich diese Verlässlichkeit.
Auch das kann jeder Mensch selber nachprüfen, und es führt folgerichtig zu Dankbarkeit.
[Credo (2015): ‹Empfangen durch den Heiligen Geist›: ‹Persönliche Erwägungen›, 89-92, 54f.]
[Ergänzend:
«Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält. Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.»
2. Osterbrief 2023:
«Jesus hat ein Zusammenleben gelehrt, das er ‹Reich Gottes› nannte, das wir aber auch ‹Gotteshaushalt› nennen könnten, Gemeinschaftsleben, das dem Gemeinsinn der Vögel näher steht, als der Gesellschaftsordnung seiner und unserer Zeit. Er sagte: ‹Schaut euch die Vögel des Himmels an› (Mt 6,26) und baute eine auf ‹Wir-Denken› gegründete Gemeinschaft: Das ‹Reich Gottes›. Es war, wie wir heute sagen würden, ‹der Natur nachgebildet› ‒ der Natur, in deren innerstem Mysterium wir ‹Gott› begegnen. Dafür lebte und dafür musste er sterben, denn die Machtpyramide des ‹Ich-Denkens› erkannte, dass sie an ihrer Wurzel bedroht war.»
3. Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 300:
«Einer der frühen Kirchenväter hat schon deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist›. Wenn wir das nur auch heute noch wüssten!»
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Bruder David im Gespräch zur Frage:
(27:29) Flow, Yoga, Zen: Wenn es wahr ist und hilft, frag nicht, wer es gesagt hat, es kommt immer vom Hl. Geist (Kirchenvater)
4. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968); siehe auch Kosmische Intelligenz Ergänzend: 2.:
«‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt›. (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton von geheimnisvoller Bedeutung.)
… An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.
Dort zu beginnen, wo du bist und dich der Vernetzungen bewusst zu werden, war Thomas Mertons Zugang zum Beten.»
5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)[1] und das Erleben von Schamanen
Audio: Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze
Audio: Eine Kosmologie, die unser Leben bereichert]
_________________
[1] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]
Heldenmytos, Opfer, Dankbarkeit
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Es ist das Herz, das die großen Fragen des Lebens immer wieder stellt. Aber auch die Antworten auf diese Fragen des Lebens können nur immer wieder aus dem Herzen kommen. Die tiefsten Fragen und die weisesten Antworten steigen aus dem Herzen auf. Wir müssen auf unser eigenes Herz hinhorchen, um wirklich uns selbst zu finden in den entscheidenden Fragen, und wir dürfen unserem Herzen vertrauen, dass es auch die Antwort schon weiß. Eine gut gestellte Frage beinhaltet ja immer schon die Antwort.
Es gibt letztlich nur zwei grundlegende Sinn-Fragen des Herzens: Wer bin ich? Und: Worum geht es im Leben?
Wenden wir uns zunächst der ersten dieser beiden Fragen zu, der Frage: Wer bin ich? Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: Wer bin ich? ‒ Was bedeutet aber diese Frage?
Und das heißt letztlich: Wie bin ich, von Zukunft verunsichert und von Vergangenheit ausgelöscht, dennoch verbunden mit dem, was wirklich ist? Was ist meine Beziehung zum Wirklich-Seienden, zum Sein? Das ist die Frage, die hinter dem: Wer bin ich? steht.
Das Herz des Menschen hat von Anfang an schon immer diese Frage gestellt und stellt sie immer neu. Jedem Menschen stellt sich diese Frage, ob das reflexiv erfasst und deutlich ausgesprochen oder nur so ganz ahnend erlebt wird. Die Frage ist da und das Herz gibt auch die Antwort darauf. Aber auf eine solche Frage kann man nur eine Antwort geben, unter der jede logische Ausdrucksweise zusammenbricht, denn die logische Sprache ist zu schwach, um das Gewicht einer solchen Wahrheit auszuhalten. Tiefste Einsichten und letzte Wahrheiten über unser menschliches Dasein lassen sich nur dichterisch ausdrücken. Deshalb gibt das menschliche Herz auf die letzten Fragen immer dichterische Antworten, und die heißen Mythen.
Mythos in diesem Sinn ist keineswegs etwas Unwahres. Oft verwenden wir das Wort falsch und sagen: Das ist ja gar nicht wahr, das ist nur ein Mythos. Wenn es wirklich Mythos ist im vollen Sinn des Wortes, dann ist es nicht nur wahr, sondern überwahr; dann ist es Ausdruck dessen, was sich in logischer Sprache nicht mehr fassen lässt. Der große Mythos, der auf die Frage des Herzens: Wer bin ich? Antwort gibt, ist der Mythos, den wir in der Anthropologie als Schöpfungsmythos kennen.
Mythos ist genau genommen das, worüber man eigentlich schweigen müsste. An der Grenze unserer Sprache geziemt es sich zu schweigen. Das, worüber ich eigentlich sprachlos bin, spreche ich gerade noch dichterisch im Mythos aus. So spricht der Schöpfungsmythos dichterisch über das, was unser Herz als Antwort auf die Frage: Wer bin ich? erkennen kann.
Die zweite Frage ist: Worum geht es im Leben?
Auf diese zweite Frage gibt ein anderer Mythos Antwort, auch wieder eine dichterische Antwort des menschlichen Herzens, und dieser Mythos heißt in der Anthropologie der Mythos vom Helden.
Dieser Mythos hat auch drei Bestandteile. Hier spreche ich lieber von drei Phasen, denn es handelt sich ja beim Leben um eine Bewegung, einen Weg, und drei Phasen dieses Weges.
Zunächst würde ich vorschlagen, dass Sie an eine Heldengestalt denken, mit der Sie sich gut identifizieren können. Besonders geeignet ist ein Märchen oder ein klassischer Mythos. Oft zeigen sich aber die Phasen des Heldenmythos auch in einem Roman oder einer Novelle. Versuchen Sie, die drei Phasen, die ich beschreiben werde, in Ihrer eigenen Geschichte zu finden, in der Geschichte, die Sie sich ausgewählt haben.
Die erste Phase ist, dass der Held ausgesondert wird. Er muss etwas Besonderes haben. Das Rotkäppchen zum Beispiel muss ein rotes Käppchen haben, um so ausgesondert (unverwechselbar) zu sein. Die Besonderheit darf aber nicht so weit getrieben werden, dass man sich nicht mehr mit dem Helden identifizieren kann. Die Aussonderung dient ja nur dem Zweck der besseren Identifizierung dessen, was wir sind. Das «Wir» sind alle, für die diese Heldengestalt Vorbild ist.
Eine Gruppe von Menschen wird zur Gemeinschaft eben dadurch, dass alle in der Gruppe den gleichen Helden haben, dass sie sich gemeinsam mit dem gleichen Ideal identifizieren können.
Wir haben jetzt das Wort «Ideal» gebraucht. Gemeint ist der Held, der Prinz, die Prinzessin. Der Held ist hier schön, geschickt, tapfer, auch wenn es nur das tapfere Schneiderlein ist. Aber nicht immer ist es so; manchmal erscheint als «Held» das hässliche Entlein, der Dümmste, der Faulste, der Jüngste der Brüder, der von allen verachtet wird. Damit kann man sich ja auch identifizieren und unter Umständen viel leichter. Beides kommt vor.
Das Entscheidende ist, der Held wird herausgehoben zum Zweck der Identifizierung. Das wird dann oft noch sehr weit ausgespielt mit allen möglichen Formen, die da verwendet werden, um den Helden schon vor der Geburt auszuzeichnen, als lang erwartet, von Sternen angekündigt, auf besondere Weise empfangen, auf besondere Weise geboren und schon als Kind ganz auffallend.
Alle diese Formen der Aussonderung können oder können nicht vorkommen, aber eine letzte kommt immer irgendwie in der Erzählung vor: Der Held zieht jetzt aus, in die weite Welt hinaus. Er zieht hinaus und wenn es nur das Rotkäppchen ist, das in den Wald geht zur Großmutter. Der Held geht weg von zu Hause, ist ausgesondert aus der Gemeinschaft. Er muss das Leben allein bestehen. Wir leben in Gemeinschaft, wir gehören der Gemeinschaft an, aber wir müssen das Leben im Letzten allein bestehen. So geht also der Held hinaus. Das ist der letzte Teil dieser ersten Phase, der Aussonderung. Damit können wir uns gewiss identifizieren.
In der zweiten Phase kommt das Abenteuer auf den Helden zu. Abenteuer ist das Überwältigende. Der Dichter bemüht sich, das so überwältigend wie nur möglich zu machen, was wir doch bewältigen müssen. Es überwältigt uns und wir müssen es bewältigen. Wir können zwar nicht damit fertig werden ‒ das wäre nicht die richtige Ausdrucksweise ‒, aber wir müssen es bewältigen. Darum geht es im Heldenmythos, das ist seine zentrale Aussage.
Meine Analyse klingt vielleicht abstrakt, doch im Mythos ist dieser Höhepunkt voll Spannung. Es handelt sich im Mittelpunkt dieser Heldengeschichten oft um einen Drachenkampf oder ähnliches.
Es geht jedenfalls darum, dass wir das Überwältigende bewältigen müssen. Die zwei typischen Erlebnisse dieser Art sind Liebe und Tod. Die müssen wir bewältigen, obwohl wir damit im Leben nie fertig werden können. Dementsprechend finden sich in der Mitte des Heldenmythos oft Liebe und Tod, und oft ganz eng miteinander verbunden. Um einer großen Liebe willen muss sich etwa der Held dem Tod aussetzen.
Wenn der Mythendichter nun wirklich sein Ziel erreicht in der Mitte der Geschichte, dann ist der Held so tot wie möglich; er ist nicht nur tot, sondern zerstückelt, aufgefressen, jedenfalls ganz und gar tot. Aber siehe ‒ er lebt! Das bedeutet: Er vermeidet nicht den Tod, er geht durch den Tod hindurch in die Lebendigkeit hinein.
Orpheus zum Beispiel. Er wird zerstückelt ‒ doch sein Haupt singt noch, seine Leier ist unzerbrochen.
Und schließlich folgt ‒ wie immer das jetzt vom Erzähler gestaltet wird ‒ die dritte Phase: Der Held kehrt zurück ‒ als Lebensbringer.
Er kann jetzt als Lebensbringer zurückkehren, denn er hat ja erfahren, was Leben wirklich ist ‒ es kommt immer aus dem Sterben. Das wissen wir ja selber, wenn wir uns fragen, worum es geht im Leben. Es geht darum, immer wieder zu sterben, aber immer wieder in größere Lebendigkeit hinein zu sterben. Diese vielen kleinen Tode, die mit dem Leben verbunden sind, vermitteln uns wenigstens eine Ahnung davon.
Der Held kommt also als Bringer neuen Lebens zur Gemeinschaft zurück. Im Märchen ist es oft der Prinz, der zurückkommt und das Lebenswasser bringt für die Prinzessin, die schon fast oder ganz tot ist. Sie wird wieder lebendig und alle, alle freuen sich. Es ist Hochzeit. Hochzeit ist das Bild für die festliche Gemeinsamkeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute ... Das ist dann das Ende ohne Ende: Hochzeit, hohe Zeit, Zeit ins volle Sein hinein überhöht.
Jeder echte Heldenmythos erzählt von diesen drei Phasen in irgendeiner Form.
Wenn Sie jetzt auf dieses Grundmuster aufmerksam geworden sind, wenn Sie offen dafür sind und es heraushören können aus Geschichten, dann hören Sie es aus fast jeder Geschichte heraus, weil uns dieser Dreischritt des Lebens zutiefst eingegeben ist. Weil dieses Schema so archetypisch in uns veranlagt ist, wird es sogar von der Reklame ausgenützt. Wenn Sie sich einmal kurze Fernsehreklamen daraufhin anschauen, werden Sie in vielen Fällen finden, dass sie auf dem Schema des Heldenmythos aufbauen: Zuerst etwas, mit dem man sich identifizieren kann; dann kommen Schwierigkeiten, ja, diese Schwierigkeiten wollen Sie doch nicht ‒ ah, siehe da, es geht durch, und am Ende die große Freude, kein Problem, wir haben es gelöst. Sie brauchen Erlösung, und wir können Sie erlösen. ‒ In hunderten Beispielen können wir das beobachten. Wenn wir zusehen, werden wir dasselbe Muster auch in Kindergeschichten immer wieder finden. Die besten Kinderbücher, ganz gleich, ob sie von Menschen oder Tieren handeln, werden oft nach diesem Heldenschema aufgebaut. Das ist etwas, was im Kind liegt; etwas, worauf man sich verlassen kann, worauf man pädagogisch aufbauen kann.
[Auszüge aus dem Vortrag «Im Paradoxen Sinn erfahren»; siehe das Audio in Aufwachsen in Widersprüchen (1989) und die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61-63, 67-69]
[Ergänzend:
1. Grundlegend und ausführlich erklärt Bruder David den Zusammenhang von Heldenmythos ‒ Opfer ‒ Dankbarkeit im Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973): ‹Dankbarkeit als religiöse Ur-Antwort›,17-28:
«Wir sind uns heute der Notwendigkeit bewusst, den Mythos immer wieder zu entmythologisieren. Nun hat aber schon die primitive Kultur diese Notwendigkeit erfasst. Von Anfang an ging mit dem Mythos die Entmythologisierung Hand in Hand. Es ist nur unserer Kurzsichtigkeit und unserer religiösen Entwurzelung zuzuschreiben, wenn wir dies völlig übersehen haben und uns nun auf der Ebene des Mythos selbst um Entmythologisierung bemühen, was immer wieder nur zum Um-mythologisieren führt. Wirkliche Entmythologisierung liegt darin, den Sinn des Mythos hier und jetzt lebendig verfügbar zu machen. Gerade das aber ereignet sich im primitiven Ritus.» (21)
Dem Schöpfungsmythos entsprechen die Erneuerungsriten; dem Heldenmythos die Übergangsriten: Rites de passage (Arnold van Gennep):
«Der Sinngehalt des Heldenmythos drückt sich auf einzigartige Weise in der Grundstruktur des Opferritus aus. Kein Wunder also, dass das Opfer ganz eng zu den Übergangsriten gehört, ja geradezu ‹rite de passage par excellence› genannt werden kann.» (22)
«Auch in der Eucharistiefeier finden wir die drei Phasen des Opferritus klar ausgestaltet in Opferung, Wandlung und Kommunion.» (24)
«Unseren drei Phasen des Opfers entsprechen gleichsam drei Grundschritte, durch die wir uns intellektuell, willensmäßig und gefühlsmäßig der Dankbarkeit aufschließen. Hier zeigt sich erst, was es wirklich heißt, die Eucharistie nicht nur liturgisch zu feiern, sondern eucharistisch zu leben.» (24f.)
«Das ist ja das Entscheidende am menschlichen Sterben, dass es das endgültige Scheitern unserer Unabhängigkeit darstellt, zugleich die Herausforderung, dieses Scheitern anzunehmen und etwas daraus zu machen. ‹Memento mori› heißt: Denk’ daran: du kannst dein Leben nicht um eine Stunde verlängern, wie sehr du dich auch daran klammerst. Entschließe dich also, wag’ es, öffne die Hände, empfange jeden Augenblick als Geschenk, gib dich hin! Leben ist ja Offenheit, Atmen, Gegenseitigkeit. Somit entspringt aus dem ‹Memento mori› das ‹Memento vivere›, aus der vorwegnehmenden Annahme des Todes dankbares Leben.» (26.f.)
«Glücklich leben heißt, die innere Gebärde, die dem Heldenmythos zugrunde liegt und im Opfer rituell entmythologisiert wird, immer wieder lebendig zu vollziehen: die Gebärde der Dankbarkeit.» (28)
2. In Dankbarkeit und Opferritus geht Bruder David besonders ein auf die universelle Beziehung von Opferriten zu der individuell vollzogenen Geste der Dankbarkeit; der Text ist identisch mit Die Achtsamkeit des Herzens (2021): ‹Eine tiefe Verbeugung›, 135-151:
«Der Mensch, der ein Tier opfert, drückt in diesem Ritual die Bereitschaft aus, selber zu sterben, für alles, was ihn vom Ziel dieses Übergangs trennt. Das Ziel ist die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen.» (145)
«Worauf es uns ankommt, ist, dass unsere eigene Erfahrung der Dankbarkeit mit einem universellen religiösen Phänomen zusammenhängt: mit dem Opfer, das zum Wesenskern aller Religionen gehört. Haben wir nur einmal diesen Wesenskern erfasst, dann wird uns jede Religion zugänglich. Man kann die gesamte Entwicklung der Religionen als eine Entfaltung der Opfergeste verstehen. Wir selbst vollziehen innerlich diese Geste, sooft Dankbarkeit in unseren Herzen aufsteigt.» (147)
«Es ist eine Wirklichkeit, die wir nie ganz erfassen werden. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns von ihr ergreifen lassen, dass wir die innere Gebärde von Dankbarkeit und Opfer vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs führt uns zur Einheit mit uns selbst, zur Einheit mit allen anderen und zur einen Quelle des Lebens.» (151)
3. Dankbarkeit macht eine Fütterung zum Mahl (2011): Interview von Marietta Schürholz mit Bruder David:
Marietta Schürholz: «Was mir als wichtige Inspiration aus dem tibetischen Buddhismus geschenkt wurde, auch wenn ich nicht weiß, ob ich es im dortigen traditionellen Sinne richtig verstanden habe, ist das sehr wörtliche Erfahren vom Bedeutungssinn der Worte zur Eucharistie: ‹Dieses Brot ist mein Leib›. … Durch diese Erfahrungen im Rahmen einer tibetischen Puja habe ich angefangen zu ahnen, was in der Eucharistie auch stattfinden könnte.»
Bruder David: «Ich glaube das sehen Sie ganz richtig. Diesen Dreischritt des Opfers findet man, wo immer Opfer dargebracht werden.
Der erste Schritt ist, dass die Gaben abgesondert werden als Repräsentativ für alles. Das Brot und der Wein, in unserem Fall, als Früchte der Erde, Natur und Werk menschlicher Hände, beides. Kultur und Natur, das ist Brot und Wein, repräsentiert alles was es gibt.
Dann wird es aufgehoben in der Wandlung, die Geste des Aufhebens[1] genügt schon, und dann wird es geteilt.
In der Mitte des Opfers steht immer die Konsekration, die Wandlung nennen wir es auf Deutsch, die Heiligung des schon Heiligen, des uns Bewusstwerden des Heiligen. Und nachdem wir die höheren Werte uns immer als oben vorstellen, ist das Aufheben oft in dieser Phase.
Und das Dritte ist dann immer das gemeinsame Mahl. Das Konsekrierte wird jetzt geteilt unter allen. Oft ist das eine ganz kleine Geste.
Im fernen Osten nehmen die Menschen vor jeder Mahlzeit mit drei Fingern ein paar Körner Reis aus der Schale. Diese drei Körner Reis sind schon die Opferung. Diese drei Körner Reis stehen für alle Speisen und für alles, was uns geschenkt wird. Dann heben sie es ein bisschen auf, das ist die Konsekration, und dann essen sie es, das ist die Kommunion.
Oder in Griechenland, bevor jemand ein Glas Wein trinkt, werden ein paar Tropfen Wein vergossen, das ist die Opferung, diese paar Tropfen stellen die ganze Lebensfreude dar, die in dem Wein enthalten ist, sie werden zur Erde, dem geheimnisvollen Grund, aus dem der Wein heraus wächst, gegeben: das ist die Konsekration, und die Kommunion ist, wenn man aus dem Becher trinkt ‒ immer wieder dieselbe Form.
Nur um uns dessen bewusst zu werden – da hilft uns die Begegnung der Religionen, denn Sie haben das in diesem tibetischen Ritus entdeckt und hätten es vielleicht nie in der christlichen Eucharistie verstanden. Aber da ist es, ganz klar.»
4. Audios
4.1. Lebensorientierung (2015)
5. Tag, 14. Februar, Samstagvormittag mit 9. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 23-25:
Dankbarkeit, die alles zusammenfasst. Dankbarkeit als spirituelle Praxis:
(34:30) Dankbarkeit in Bezug zu den großen Menschheitsmythen
(54:40) Der Heldenmythos und seine drei Phasen
(01:00:41) Vom Heldenmythos zum Übergangsritus ‒ dem Opfer ‒ Hinweis auf Orpheus: er wird verteilt
(01:06:57) Vom Opfer zu Stop ‒ Look ‒ Go: Dankbarkeit gibt so Orientierung und Antwort auf die zwei Fragen der Menschheit: Wer bin ich? Ich bin mir geschenkt. Worum geht es? Mich dankbar zu erweisen
4.2. Fragen in Wendezeiten (2010): Audio und Video Fragen in Wendezeiten
Vortrag:
(44:04) Worum geht es im Leben letztlich? – die Antwort des Heldenmythos / (44:32) Der Weg des Helden in drei Phasen: Ausgesondert werden – sterben – Rückkehr / (48:36) Immer wieder durch den Tod in reicheres Leben übergehen
(49:21) Vom Heldenmythos zum Ritual: Das Opfer als Ritus mit den drei Phasen: Opferung (Gabenbereitung) – Wandlung – Kommunion / (50:50) Feueropfer, Reis essen im fernen Osten, Wein trinken in Griechenland
(52:36) Vom Ritual zur individuellen Praxis: Dankbarkeit fordert den Intellekt (erkennen) – den Willen (anerkennen) – die Gefühle (freudig teilen)
4.3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Nur die dichterische Sprache ist tragfähig genug, um so viel Wahrheit zu tragen›: Das Glaubensbekenntnis im Licht der großen Menschheitsmythen
(25:54) Welche Heldengeschichte hat mich geprägt? Austausch in der Gruppe
(45:52) Das Motiv der besonderen Empfängnis und Geburt: Auch Caesar Augustus wird ‹Der von der Jungfrau Geborene› genannt ‒ Orpheus Statuen umbenannt zu Christus, dem guten Hirten ‒ ‹Mir nach, spricht Christus, unser Held› (Kirchenlied) ‒ ‹Held›: Das Wort ist im deutschen Sprachraum belastet ‒ Unsere Aufgabe, den Mythos zu entmythologisieren: Wie bringt man die Wahrheit von Christus als unserem Helden in den Alltag?
5. Orpheus; siehe auch Audios in Ergänzend: 1.1. und 1.3
5.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun:
(20:22) Rühmen und die Gestalt des Orpheus, bei Rilke und den Kirchenvätern eine Christus-Figur
5.2. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) Wandelt sich rasch auch die Welt‘ (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus
5.3. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56 und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 132-135:
«Er wird als Kommunionbrot verteilt sozusagen. Das steht dahinter, da wird wieder aus dem Orpheus die Christus-Figur.»]
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[1] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare); siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben: Anm. 2 und Sterben und Angst: Anm. 6
Herz
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn Liebende einander sagen: «Mein Herz gehört dir», dann meinen sie nicht: «Dir gehört ein Teil von mir.» Nicht einmal der beste Teil reicht dann aus. Was sie ausdrücken möchten ist, dass sie bereit sind, sich selbst zu geben, sich ganz zu geben, ihr ganzes Wesen. Mehr noch: das Herz ist kein statisches Symbol. Es ist dynamisch, lebendig. Das Herz ist der pulsierende Kern unserer Lebendigkeit in mehr als einem bloß körperlichen Sinn. «Mein Herz gehört dir» zu sagen, heißt «mein Leben gehört dir». Dankbarkeit ist volle Lebendigkeit, und eben diese Lebendigkeit wird im Symbol des Herzens zusammengefasst. All meine Vergangenheit, meine zukünftigen Möglichkeiten ‒ dieser Herzschlag in eben diesem Moment hält all das zusammen.
Wenn wir vom Herzen sprechen, lautet das Schlüsselwort «eins». Herz bedeutet jene Mitte unseres Seins, in der Intellekt und Wille und Gefühle, Geist und Körper, Vergangenheit und Zukunft eins werden. Wenn wir den Punkt entdecken, an dem unser Leben eins wird, dann entdecken wir das Herz. [ST 64, Quelle: FN 1) 27; 2-5) 29; 6) 31f.]
Finden wir unser Herz wirklich, dann finden wir jenen Bereich, in dem wir auf das Engste mit uns selbst, mit allen anderen und mit Gott eins sind. Und die erstaunlichste Entdeckung ist die, dass in der Tiefe meines Herzens, um es mit den Worten Augustinus' zu sagen, «Gott mir näher ist als ich mir selbst».
Wenn die Bibel uns erzählt, wie Gott uns Menschen erschafft, indem er uns Leben einatmet, dann wird diese intime Kommunion mit Gott als der Kern unseres Menschseins betrachtet. Es ist das Herz, wo wir Gott treffen. Gott zu treffen aber bedeutet Gebet. Und somit wissen wir jetzt ein weiteres über das Herz: Es ist unser Treffpunkt mit Gott im Gebet. Das Gebet aber ist das Herz der Religion.
[ST 64f., Quelle: FN 1) 31; 2-5) 33; 6) 35]
Staunen bedeutet, mit den Augen des Herzens zu sehen. Und durch Konzentration im Gebet sammeln wir uns in jener Herzensmitte, aus der jede echte Antwort entspringt. Das Herz ist hier wieder von zentraler Bedeutung. Aus unserer Sicht verbindet das Herz Gebet und Dankbarkeit. Das Herz sieht voller Staunen, dass diese gegebene Welt und alles, was wir in ihr finden, letztlich Geschenk ist. Auf diesen Geschenkcharakter aller Dinge antwortet das Herz mit Danken, Preisen und Segnen. [ST 65, Quelle: FN 1) 68; 2-5) 71; 6) 72]
Herzensgebet
Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Gerne möchte ich eine Erinnerung erzählen, die Erinnerung an meine erste Begegnung mit dem Jesusgebet, dem Herzensgebet wie es auch genannt wird. Damals war ich schon älter, aber immer noch ein Kind, vielleicht zwölf. Ich saß mit meiner Mutter im Wartezimmer eines Arztes. Meine rechte Hand lag zuerst auf dem linken Knie, dann auf dem andern, dann auf der Stuhllehne, dann auf dem Sims eines Fensters, durch das ich nur eine hohe Hecke und ein paar Spinnennetze erblicken konnte. Meine Hand war stark eingebunden und ich war gekommen, damit mir der Doktor den Verband wechselte. Nachdem ich eine Weile aufmerksam einen Topf voll Blutegel beobachtet hatte (sie wurden damals von Landärzten noch zum Aderlass benutzt), gab es in diesem leeren Zimmer nichts mehr, was mich hätte unterhalten können. Ich wurde immer zappeliger.
Plötzlich sagte meine Mutter etwas, was mich überraschte: «Russische Menschen kennen das Geheimnis, sich nie zu lang-weilen». Meine Vorstellung von den Russen beschränkte sich auf die olympischen Spiele, aber wenn es da eine geheime Methode gegen die Langweile gab, musste ich sie so schnell wie möglich lernen.
Erst viele Jahre später verstand ich diese geheimnisvolle Anspielung meiner Mutter, als ich auf das Buch «Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers» stieß, das eine Übersetzung aus dem Russischen ist. Es berichtete mir ausführlich über dieses Geheimnis sich nie zu langweilen, aber meine Mutter schaffte es, dies so einfach zusammenzufassen, dass es für einen Jungen von zwölf Jahren Sinn machte: «Du musst nur den Namen Jesus mit jedem Atemzug wiederholen. Immer und immer wieder. Das ist alles. Der Name von Jesus wird dir so viele gute Geschichten in Erinnerung rufen, dass du die Zeit nie lang findest.» Ich versuchte es. Es wirkt.
Es stellte sich heraus, dass Langweile in meinem Leben sowieso nie ein Problem sein würde, eher das Gegenteil. Tatsächlich, als später das Jesusgebet meine ständige Gebetsform wurde, begann ich es eher als einen Anker zu sehen, der mich geerdet hält, wenn das Leben alles andere als langweilig ist. Mit einem Wort, das ich dem Römischen Messbuch entlehne: das Jesusgebet hält mein Herz «in bleibender Freude verankert».
Nachdem ich die «Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers» gelesen hatte, machte ich mir einen Ring aus Holzperlen, die ich bewege, eine nach der anderen, während ich das Jesusgebet wiederhole. Diese Bewegung meiner Finger ist nun mit diesem Gebet so verbunden, dass sie dank diesem Gebetsring weitergeht, selbst wenn ich lese oder mit jemandem spreche. Sie läuft weiter wie Musik im Hintergrund, nicht im Vordergrund meines Bewusstseins und doch jederzeit gehört.
Die Worte, welche ich dazu sehr hilfreich finde, sind: «Herr Jesus, erbarme dich!»[1]
Der russische Pilger brauchte eine längere Formel. Ich habe verschiedene Versionen ausprobiert, doch diese passt mir am besten.
Meist ist sie Ausdruck meiner Dankbarkeit: wenn ich einer gegebenen Situation ins Auge sehe und sie ganz hinnehme, sehe ich diese gegebene Wirklichkeit als eine einzige Facette von Gottes höchstem Geschenk, das im Namen von Jesus zusammengefasst ist.
Beim Ausatmen sage ich dann die zweite Hälfte des Gebets, dem Sinn nach: «Oh, mit welcher Barmherzigkeit überschüttest du mich in jedem Augenblick!»
Manchmal kann «Erbarme dich!» natürlich auch ein Schrei um Hilfe sein, etwa wenn ich todmüde bin und weitermachen muss, um einen Termin einzuhalten. Oder wenn ich über die Zerstörung des Regenwaldes lese oder von Zehntausenden von Kindern, die täglich auf diesem Planeten des Überflusses verhungern. «Erbarme dich!» seufze ich «Erbarme dich!»
Das Jesusgebet ist mittlerweile mit meinem Ein- und Ausatmen so verbunden, dass es meist von selbst fließt. Währenddem ich einschlafe, geht das Gebet manchmal weiter, bis es mit dem tiefen Atem des Schlafes verschmilzt.[2]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 2]
[Ergänzend:
1. Jesus-Gebet
2. Video Wort und Schweigen ‒ Über den Sinn des Gebets (1992), sowie die Transkription von Werner Binder †:
«Eine Form, in der viele Menschen täglich und stündlich beten, ist das Herzensgebet. Das ist nicht so sehr ein Gebet, das man spricht, obwohl die klassische Form des Herzensgebetes, die Wiederholung des Namens Jesu, dafür typisch ist. Eigentlich handelt es sich beim Herzensgebet eher um eine Gebetshaltung, um eine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit des Herzens.
Beim Beten ist das Entscheidende die Achtsamkeit, denn wenn wir nicht mit Achtsamkeit beten, ist es nur ein Herunterleiern, kein wirkliches Beten. Achtsamkeit macht alles, was wir tun, zum Gebet.
Wenn wir nur die Augen des Herzens am Horizont halten, in allem was wir tun, dann wird alles zum Gebet. Dann wird unser ganzer Alltag zum Gebet. Und das ist ja eigentlich die Aufgabe: ohne Unterlass zu beten. Nicht nur hie und da Gebete zu sagen.»
3. Audio Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 1 in folgende Themen zusammengefasst:
(01:10) Das Jesusgebet, auch Herzensgebet genannt / (03:39) Jean-Yves Leloup: Das Herzensgebet nach Starez Séraphim vom Berge Athos, Neumühle-Verlag, Mettlach 1989, 16 S. / (05:01) Wie hängt das Jesus-Gebet mit Sinnenfreude und der Offenheit im horchenden Herzen zusammen?]
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[1] Bernardin Schellenberger, S. 13: «Am hilfreichsten habe ich die Formulierung ‹Lord Jesus, mercy!› gefunden (Anm. d. Ü.: deutsch z. B. ‹Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!›)»
[2] Den großen Tanz beten (1998) [derselbe Text aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernardin Schellenberger, in: Auf dem Weg der Stille (2016): Kapitel 3 «Der Mystiker in uns», 11-14]:
Hoffnung
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
In jenen Augenblicken, in denen wir wirklich lebendig sind, erfahren wir das Leben als Geschenk. Auch als Überraschung erfahren wir das Leben.
Glaube ist die dankbare Antwort des Herzens auf das Leben als Geschenk.
Die Herzensantwort auf das Leben als Überraschung ist, wie wir noch sehen werden, die Hoffnung.
Je mehr wir uns der Einsicht öffnen, dass das Leben Geschenk ist, desto mehr wird aus unserem Leben ein Leben des Glaubens, ein Leben gläubigen Vertrauens in den Geber. Natürlich ist der Glaube selbst Geschenk: Die Treue Gottes schenkt uns Vertrauen als unsere eigene gläubige Antwort. Wir dürfen also den Glauben als Gottes eigenes Leben in uns selbst verstehen.
Hoffnung ist ein weiterer Aspekt derselben Lebensfülle. Je tiefer die Einsicht, dass unser Leben überraschend ist, desto mehr wird es ein Leben voller Hoffnung sein, ein Leben voller Offenheit für das Überraschende.
Überraschung ist aber ein Name Gottes.
Tatsächlich ist Überraschung vielleicht der einzige Name, mit dem wir es wagen dürfen, den Namenlosen zu benennen. Zwar gelingt es auch dem Namen Überraschung nicht, Gott zu benennen. Indem wir ihn aussprechen, gelingt es uns aber zumindest, unser Herz für die Erkenntnis offen zu halten, dass Gott mit keinem Namen eingefangen werden kann. Und das macht gerade aus unserer Unzulänglichkeit einen Erfolg. Hier stehen wir schon mitten im Paradox der Hoffnung.
Wir dürfen auch die Hoffnung als Gottes eigenes Leben in uns selbst verstehen. Wenn Glaube das Vertrauen in den Geber aller Gaben ist (ein leicht erkennbarer Name Gottes), dann ist Hoffnung die Offenheit für Überraschung. Die größte Überraschung ist es aber, Gott in uns selbst zu begegnen. [FN 1) 107; 2-5) 109; 6) 109f.]
(Video gelesen von Bettina Buchholz): Bevor unsere Hoffnung geläutert war, erwarteten wir das Beste, oder zumindest das Zweit- oder Drittbeste. Reine Hoffnung aber erwartet die Überraschung, dass selbst das Schlechteste, sollte es zutreffen, das Beste ist. Und reine, dankbare Hoffnung wird in dieser Erwartung niemals enttäuscht.
Die Standhaftigkeit der Hoffnung ist tief im Herzen verankert.
Wenn aus dem Herzen leben dankbar und gläubig leben heißt, dann bedeutet das zugleich voller Hoffnung leben.
Von daher gibt die Hoffnung unserem Einsatz für die großen Anliegen der heutigen Welt die nötige Kraft. [FN 1) 123; 2-5) 125f.; 6) 125f.]
Vielleicht könnten wir unsere Hoffnung einem einfachen Test unterziehen. Er ist nicht narrensicher. Auch ist er nicht sehr präzise. Aber vielleicht bietet er uns einen Anhaltspunkt.
Vielleicht probierst du ihn zuerst an einem deiner Lieblingsprojekte aus.
Schreibe die verschiedenen Hoffnungen auf, die du im Zusammenhang mit jenem ganz bestimmten Projekt hast. Das ist der erste Schritt.
Als nächstes stelle dir lebendig vor, dass deine Hoffnungen, eine nach der anderen zuschanden würden.
Kannst du den Grad der Verzweiflung spüren, zu dem dich diese Möglichkeiten verführen könnten?
Die Hoffnung, die bleibt, nachdem alle deine Hoffnungen zuschanden wurden ‒ das ist reine Hoffnung, die im Herzen wurzelt.
Wir haben hier eine wichtige Unterscheidung gemacht zwischen Hoffnung und Hoffnungen.
Ein Mensch der Hoffnung ist reich an Hoffnungen.
Aber diese Hoffnungen sagen uns nicht, ob dieser Mensch auch die Tugend der Hoffnung hat.
Erst wenn alle Hoffnungen zerbrechen, zeigt es sich. Dann wird ein Mensch von Hoffnungen mit ihnen zerbrechen.
Ein Mensch der Hoffnung jedoch hat meist schon ein neues Feld voll blühender Hoffnungen, kaum dass sich der Sturm gelegt hat.
Unsere kleinen Hoffnungen wirken auf den ersten Blick harmlos genug.
Vielleicht wirken sie sogar altruistisch: Wird nicht alles im besten Interesse jener getan, denen wir helfen möchten?
Früher oder später aber entdecken wir, dass jene anderen nicht unbedingt die Hoffnungen teilen, die wir für sie haben. Arme Geschöpfe, sie wissen nicht, was gut für sie ist!
Es scheint nun einmal in der menschlichen Natur zu liegen, dass wir unsere Hoffnungen oft energischer verfolgen, als es jenen gefällt, für die wir so hohe Hoffnungen hegen.
Eltern haben manchmal mit ihren eigenen Hoffnungen ihre Kinder zwangsbeglückt und so deren Leben ruiniert. Eheleute ruinieren so einander das Leben aufgrund der besten Hoffnungen, die sie jeweils füreinander hegen.
Ganze Nationen, unsere eigene nicht ausgenommen, haben Hunderttausende hingemetzelt, verstümmelt und verbrannt im Bestreben, anderen Völkern unsere eigenen Hoffnungen aufzuzwingen.
Reine Hoffnung ist so fest in unserem Herzensgrund verankert, dass sie es sich leisten kann, ihre eigenen Hoffnungen leicht zu nehmen.
Das ist die Art und Weise, in der eine Mutter ihre Kinder hält, mit Leichtigkeit, ganz gleich wie fest sie sie hält ‒ immer bereit, sie loszulassen, auf dass sie wachsen können, ohne sie jedoch jemals fallen zu lassen.
So bemuttert Hoffnung ihre Hoffnungen. Und das liebste Kind der Hoffnung ist der Friede. [FN 1) 124f.; 2-5) 126-128; 6) 126-128]
Mutter und Kind ‒ das ist das Bild, das Habsucht, Angst und Gleichgültigkeit herausfordert.
Überall auf der Welt sind es die Mütter, die nähren; sie haben Mut, sie umsorgen.
Es sind die Mütter der Welt, die uns auffordern durch die Hoffnung «die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes» (Römer 8,21) in die Welt zu setzen.
Vielleicht beginnt alles mit einer Veränderung unserer inneren Haltung, einer Verlagerung des Schwergewichts von Hoffnungen auf Hoffnung.
Vielleicht müssen wir zuerst mütterlicher werden.
Das würde bedeuten, die überwältigende Größe der Aufgabe anzuerkennen und dann jenen kleinen Teil zu finden, dem wir uns selber mit der Hingabe einer Mutter zu widmen vermögen.
Durch die Augen der Hoffnung gesehen, ist unsere alternde Zeit hochschwanger mit Neuem.
Dass die Zeit uns zu knapp wird, kündigen Geburtswehen an, durch die das strahlende Kinder der Hoffnung geboren wird, wenn die Zeit sich erfüllt.
Wie eine Mutter, die ihr Kind mit dem hoffnungsvollen Blick des Herzens betrachtet und genau das tut, was hier und jetzt nötig ist, verbindet die Wachheit der Hoffnung Schau und Tat.
Hoffnungsvolles Handeln entspringt der Schau jener Gottesherrlichkeit, die in unserem Innen schon aufstrahlt.
Ist das nicht die Art und Weise, in der Menschen wie Papst Johannes XXIIII, Dorothy Day, Martin Luther Kind und Mutter Teresa das ausstrahlen, was sie, die guter Hoffnung sind, bereits in sich tragen?
Dies ist es, was ihnen Kraft gibt.
«In Stillesein und hoffendem Vertrauen liegt eure Kraft» (Jesaja 30,15). [FN 1) 126f.; 2-5) 129f.; 6) 129f.]
Hoffnung tut einfach das, was sie tun muss, wie die Spinne in der Ecke meines Bücherregals.
Sie wird wieder und wieder ein neues Netz spinnen, wann immer ich das alte mit meinem Staubwedel weggefegt habe ‒ ohne sich selbst zu bedauern, ohne sich selbst zu beglückwünschen, ohne Erwartungen und ohne Angst.
Wenn ich das mit meinem menschlichen Bewusstsein zustande brächte, ja, das wäre Hoffnung!
Mich würde es mehr kosten.
Auf meiner Ebene steht mehr auf dem Spiel.
Aber ich verbeuge mich tief vor der Spinne.
[FN 1) 117; 2-5) 119; 6) 119]
[Ergänzend:
Text
Der Beitrag von Briuder David Steindl-Rast: Offenheit für Überraschung im Buch: Was Menschen bewegt (2019) enthält Ausschnitte aus dem ersten Drittel des Kapitels «Hoffnung: Offenheit für Überraschung» in FN 1) 107-116; 2-5) 109-118; 6) 109-119
Audios
TAO der Hoffnung (1994): Diskussion nach dem Vortrag bei der existential-psychologischen Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte: (54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich Hingeben – Loslassen üben – Hoffnung ist Offenheit für Überraschung im Unterschied zu Hoffnungen, die sich vielleicht nicht verwirklicht haben]
Audio-Fokus «Hoffnung auf dem Prüfstand» aus Audio-Vortrag 1989 – Retreat-Woche in Assisi.]
Hoffnungnungsfroh leben
Text und Video von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!So oft ich den Computer öffne, finde ich Berichte
von zerschellten Hoffnungen
für unsere Umwelt oder für unsere Zukunft.
Freunde berichten, dass sie alle Hoffnung verloren haben.
Allerdings haben sie wohl nur Hoffnungen verloren,
nicht unbedingt d i e Hoffnung.
Hoffnungen sind heiß ersehnte Zukunftsvorstellungen.
Echte Hoffnung ist Offenheit für u n vorstellbare Überraschungen.
Wenn Erhofftes unerfüllt bleibt,
will ich heute offen bleiben
für unvorstellbar Besseres,
weil ich dem Leben vertraue.
Möge Lebensvertrauen
mein Denken und Tun fruchtbar machen
für eine Zukunft,
die alle Vorstellungen noch weit übertrifft.
Amen.»[1]
Worauf ist tragfähige Hoffnung dann letztlich gegründet? Die Antwort lautet: auf Lebensvertrauen.
Hoffnung ist
«die freudig vertrauensvolle Erwartung
des Unvorhersehbaren».
Das Unvorhersehbare schlechthin
aber ist das Leben.
Wir alle wissen aus Erfahrung: Wenn etwas lebendig ist, dann ist es überraschend; und wenn es nicht überraschend ist, dann ist es sicher mechanisch. Gerade auf die überraschende Unvorhersehbarkeit des Lebens aber verlässt sich die Hoffnung mit freudigem Vertrauen.
Lebensvertrauen als bewusste Haltung heute Seltenheitswert.
Ohne dass es uns bewusst wird,
vertrauen wir jedoch alle dem Leben,
Augenblick für Augenblick.
Wer bezweifelt etwa, dass das Leben den unglaublich komplizierten Vorgang der Verdauung für uns zustande bringt – eine Leistung, die unsere eigene Einsicht und Fähigkeit total übersteigt? Wir stehen vom Tisch auf und verlassen uns darauf, dass das Leben alles weitere übernimmt, ohne dass wir überhaupt daran denken. Ähnlich ist es mit unserem Blutkreislauf und mit unserer Atmung. Wir dürfen beim Einschlafen auf das Leben vertrauen, dass es unser Herz die ganze Nacht lang schlagen lassen wird. Auch über unseren Atem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Das Leben atmet sozusagen in uns. Ja, in all diesen körperlichen Belangen dürfen wir eigentlich darauf vertrauen:
Das Leben lebt uns.
Wenn wir also Grund haben, unserem biologischen Leben zu vertrauen, wie sieht es dann mit dem biografischen aus? Haben wir auch Grund, der Lebenskraft zu vertrauen, die uns von Kindheit an durch die Abfolge der Lebensphasen führt, in denen wir Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen?
Gewiss, denn es ist ja dieselbe geheimnisvolle Lebendigkeit, die sowohl unser biologisches als auch unser biografisches Leben trägt. Wir brauchen auch gar nicht alt zu sein, um rückschauend erkennen zu können, dass das Leben uns durch kleinere und größere Fehlschläge doch immer wieder zu neuen und besseren Anfängen führt.
Immer wieder wird das,
was uns als ein kleiner Tod erscheint,
zu einer neuen Geburt,
auch wenn manche «Schwergeburten»
lange dauern.
Dieses Stirb und werde findet erfahrungsgemäß so verlässlich statt, dass wir uns auch in dieser Hinsicht auf das Leben verlassen dürfen.
Das ist übrigens auch der Grund, warum wir vertrauen dürfen, dass unser endgültiger Tod zu einer endgültigen Neugeburt führen wird, obwohl wir uns das ebenso wenig vorstellen können wie eine Raupe ihr Leben als Schmetterling.
So können wir mit Recht sagen: Leben aus der Hoffnung ist auf Lebensvertrauen gegründet. Wir können also hoffnungsfrohe Menschen werden, indem wir unser Lebensvertrauen auf zweierlei Weise stärken:
- Wir können uns dankbar bewusst machen, wie weitgehend wir uns auf körperliche Lebensprozesse verlassen dürfen, z. B. dadurch, dass wir mehrmals am Tag innehalten und auf unseren Atem achten.
- Wir können uns abends einige besinnliche Augenblicke gönnen, in denen wir den Tag überdenken und uns dankbar bewusst werden, dass das Leben es gut mit uns meint. Unsere Lebenserfahrung legt Lebensvertrauen nahe.
Das gilt für alle Menschen. Wenn wir es in christlicher Sprache sagen wollen, dann dürfen wir hinzufügen:
Lebensvertrauen ist Gottvertrauen.
Was meinen wir denn mit dem Wort «Gott», wenn nicht das innerste Geheimnis aller Lebendigkeit?
Der Apostel Paulus kann vom lebendigen Gott genau das sagen, was vom Leben gilt:
«Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.» (Apg 17,28)
Oder denken wir an eine Strophe des bekannten Kirchenliedes «Lobe den Herren» von Joachim Neander (1650–1680):
«Lobe den Herren, der künstlich
und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen,
dich freundlich geleitet.
In wie viel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet.»[2]
In den ersten vier Zeilen geht es um die biologischen Gründe für Lebensvertrauen/Gottvertrauen, in den nächsten um die biografischen. Wenn uns der Zusammenhang einmal aufgefallen ist, dann entdecken wir überall und immer wieder: Was für Lebensvertrauen gilt, gilt auch für Gottvertrauen, auf dem die Hoffnung gründet.
Christlich verstanden, ist Lebensvertrauen/ Gottvertrauen der Glaube, aus dem die Hoffnung aufblüht.
Zu einem Leben aus der Hoffnung heranzuwachsen ist unsere Aufgabe als Einzelne. Der nächste Schritt aber muss die Zusammenarbeit vieler sein, denn die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam bewältigen ‒ gemeinsam und mit jenem freudigen Vertrauen, das Menschen ausstrahlen, die aus der Hoffnung leben.
Wo alle, denen die Hoffnung fehlt, vor Angst erstarren, da bringt dieses Vertrauen Schwung in unseren Einsatz – sei es im privaten Bereich oder in den großen Aufgaben unserer Tage.[3]
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt.Im Weltall soll es so viele Sonnen geben,
wie es Sandkörner gibt an allen Ständen der Erde.
Jedes Sandkorn wieder enthält mehr Atome
als es Sonnen gibt im Weltall.
Begeistert von diesem Übermaß
im Kleinsten wie im Größten,
möchte ich jubeln und dir zu Ehren singen.
Dir zu Ehren?
Kanarienvögel singen, wenn sie springlebendig sind.
Jeses Wesen singt, wenn es sich freut,
dem Leben ein dankbares Ja entgegen.
Durch ein solches Ja soll heute
mein dankbares Staunen Dich preisen,
Du, Urquell allen Lebens. Amen.»
Es lässt sich nicht vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Daher ist eines sicher: Die Zukunft wird überraschend sein. Was immer auch kommen mag: Wenn wir uns in der Hoffnung üben, werden wir gut vorbereitet sein, denn Hoffnung ist ja vertrauensvoll offen für Überraschung.[4]
[Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 3f.]
[Ergänzend:
1. Gottvertrauen im Leiden und Sterben; Gottvertrauen in Entbehrung und Unglück
2. Sinnvoll leben, dankbar leben (2024): Interview von Olivia Röllin mit Bruder David in der ‹Sternstunde Religion›, siehe das Video Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024):
(034:32) «Ich möchte weder Optimist noch Pessimist sein, sondern Realist, Realist mit Hoffnung. ‹Hoffnung› im spirituellen Sinn ist etwas anderes als ‹Hoffnungen›.
Hoffnungen – im Plural – beziehen sich immer auf etwas, was man sich konkret vorstellen kann. Hoffnung dagegen ist Offenheit für Überraschung. Überraschend ist immer etwas, was unvorstellbar ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in einer Welt, in der wir heute leben, überhaupt weitergehen kann. Aber ich bin voll Hoffnung, dass es weitergehen wird. Denn dass immer wieder Überraschungen kommen, das habe ich auch in meinem eigenen Leben erfahren.»
«Man kann also sagen: Bruder David ist voll unkonkreter Hoffnung – und das trägt ihn weiter?»
«Wir wissen doch aus Erfahrung – und auch mein eigenes langes Leben zeigt das: Konkrete Hoffnungen zerschlagen sich immer, früher oder später. Aber wenn sie zerschlagen werden, schenkt uns das Leben etwas noch Besseres. Was ich gelernt habe, ist Lebensvertrauen. In meinem Alter ist jeder Tag, an dem ich wieder aufwache, ein Geschenk. Jeder neue Tag vermehrt das Vertrauen ins Leben. Und auch wenn etwas schief geht – das Leben schenkt uns etwas noch Besseres.»
(10:10) «Du sprichst vom Leben so, als wäre es ein Subjekt. Was ist das: ‹das Leben, das etwas von mir will›?»
«Es ist unser großes ‹Du›, und es ist das ‹Es›, das alles gibt. Es gibt sogar mich! Was ist dieses Es? Es ist das geheimnisvolle Herzstück, die Mitte des Lebens. Wir stehen ständig im Dialog damit.»
______________________
[1] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹66 ‒ Hoffnung›, 75
[2] Gotteslob 392, 3. Strophe, siehe auch Gotteslobvideo (GL 392): Lobe den Herren
[3] Seien wir offen für das Unvorstellbare: Lebens- und Gottvertrauen als Quelle wahrer Hoffnung (2024)
[4] DU großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹20 ‒ Staunen›, 29, und die Schlusszeilen des Textes in Anm. 3
Horchen und Gehorchen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Hören, DU großes Geheimnis, ist Dein Geschenk. Dich hören zu können, ist deine große Gabe an mich; auf dich zu horchen ist meine große Aufgabe vor dir. Öffne DU die Ohren meines Herzens. Mach mich ganz Ohr.
In den Singenden singst DU; in den Weinenden weinst DU; in den Schweigenden schweigst DU ‒ mit beredtem Schweigen. Lass mich so still werden, dass auch deine Stille deutlich zu mir redet. In deinem Schweigen darf ich schweigend ruhen.
Lass mich so hellhörig werden, dass am Wendepunkt, an dem deine Gegenwart mir entgegenwartet, mein Horchen zum Gehorchen wird und mein Hören zum dir Angehören. Amen.»[1]
Das Schlüsselwort für meinen Zugang zum geistlichen Leben heißt Horchen.
Damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, ein Hinhorchen des Herzens.
So zu horchen, ist das Rückgrat der mönchischen Tradition, in der ich stehe.
Das allererste Wort der Regel des heiligen Benedikt lautet: «Horch!» ‒ «Ausculta!»[2] ‒, und aus dieser ersten Geste des Horchens aus ganzem Herzen erwächst die gesamte Disziplin der Benediktiner, wie eine Sonnenblume aus ihrem Samen wächst.[3]
Die Spiritualität der Benediktiner geht ihrerseits auf die umfassendere und ältere Disziplin der Bibel zurück.
Aber hier ist der Begriff des Horchens von grundlegender Bedeutung. Aus biblischer Sicht kommen alle Dinge durch Gottes schöpferisches Wort in die Welt; die gesamte Geschichte ist ein Dialog mit Gott, der zum Herzen der Menschen spricht.
Die Bibel verkündet mit großer Klarheit, dass Gott eins ist und transzendent.
Bewundernswert ist die Einsicht des religiösen Geistes, der in der biblischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, dass Gott zu uns spricht.
Der transzendente Gott spricht in Natur und Geschichte. Das menschliche Herz ist dazu aufgerufen, zu horchen und zu antworten.
Horchen und Antworten ‒ das ist die Form, welche die Bibel unserem grundlegenden religiösen Streben als menschliche Wesen vorzeichnet: dem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, dem Streben nach Sinn.
Unser Glücklichsein gründet sich nicht auf Glücksgefühle, sondern auf inneren Frieden, den Frieden des Herzens.
Selbst inmitten einer sogenannten Pechsträhne, inmitten von Leid und Schmerz können wir unseren inneren Frieden finden, wenn wir aus all dem Sinn heraushören.
Die biblische Überlieferung zeigt uns den Weg, indem sie verkündet, dass Gott selbst in der schlimmsten Notlage und durch sie zu uns spricht.
Indem ich mich der Botschaft des Augenblicks ganz öffne, kann ich zur Quelle der Sinnhaftigkeit vorstoßen und den Sinn des Lebens erkennen.
So zu horchen heißt, mit dem Herzen horchen, mit dem ganzen Wesen.
Herz bedeutet das Zentrum unseres Wesens, in dem wir wahrhaftig eins sind. Eins mit uns selbst, nicht aufgespalten in Verstand, Wille, Gefühle, Körper und Geist, eins mit allen anderen Geschöpfen.
Denn das Herz ist der Bereich, in dem wir nicht nur mit unserem innersten Selbst in Berührung sind, sondern gleichzeitig mit dem ganzen Dasein innigst vereint sind.
Hier sind wir auch vereint mit Gott, der Quelle des Lebens, welche im Herzen entspringt. Um mit dem Herzen zu horchen, müssen wir immer wieder zu unserem Herzen zurückkehren, indem wir uns die Dinge zu Herzen nehmen.
Wenn wir mit dem Herzen horchen, werden wir Sinn finden, denn so wie das Auge Licht wahrnimmt und das Ohr Geräusche, ist das Herz das Organ für Sinn.
Die Disziplin des täglichen Horchens und Antwortens auf den Sinn wird Gehorsam genannt
Dieser Begriff von Gehorsam ist viel umfassender als die beschränkte Vorstellung von Gehorsam als Tun-was-einem-gesagt-wird.
Gehorsam, im umfassendsten Sinn, heißt, sein Herz auf den einfachen Ruf einstimmen, der in der Vielfalt und Vielschichtigkeit einer gegebenen Situation enthalten ist.
Die einzige Alternative dazu ist Absurdität, Ab-surdus bedeutet wörtlich «absolut taub».
Wenn ich eine Situation absurd nenne, gebe ich zu, dass ich taub für ihren Sinn bin. Ich gestehe indirekt ein, dass ich ob-audiens werden muss ‒ aufmerksam horchend, gehorsam.
Ich muss mein Ohr, mich selbst, so völlig dem Wort, das mich erreicht, hingeben, dass es mir zum Auftrag wird.
Vom Wort gesandt, werde ich meiner Sendung gehorchen und so, durch liebevolles und wahrhaftiges Handeln, nicht durch eine Analyse der Wahrheit, fange ich an zu verstehen.
Was aus all dem für mein Handeln folgt, liegt auf der Hand.
Umso wichtiger ist es, im Auge zu behalten, dass es uns hier nicht vornehmlich um ethische, sondern um religiöse Erwägungen geht, nicht um Zweckbestimmung ‒ selbst dann nicht, wenn es sich um die edelsten Zwecke handelt ‒, sondern um jene religiöse Dimension, aus der jeder Zweck seinen Sinn ableiten muss.
Die Bibel nennt das Horchen und Antworten des Gehorsams «vom Wort Gottes leben», und das bedeutet viel mehr, als nur Gottes Willen tun.
Es bedeutet, sich vom Wort Gottes zu nähren wie von Speis und Trank ‒ vom Wort Gottes in jedem Menschen, jedem Ding, jedem Ereignis, dem wir begegnen.
Das ist eine tägliche Aufgabe, ein Training, welches uns von Augenblick zu Augenblick herausfordert:
Ich esse eine Mandarine, und schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft, sprechen eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss.
Jenseits des Bewusstseins, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat (auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten), liegt das Bewusstsein, dass all dies reines Geschenk ist. Oder könnte man eine solche Nahrung jemals verdienen?
Ich halte die Hand eines Freundes in der meinen, und diese Geste wird zu einem Wort, dessen Bedeutung weit über Worte hinausgeht. Es stellt Ansprüche an mich. Es beinhaltet ein Versprechen. Es fordert Treue und Opferbereitschaft. Vor allem aber ist diese bedeutungsvolle Gebärde Feier von Freundschaft, die keiner Rechtfertigung durch einen praktischen Zweck bedarf.
Sie ist so überflüssig wie ein Sonett oder ein Streichquartett, so überflüssig wie all die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Sie ist ein überfließendes Wort Gottes, von dem ich Leben trinke.
Aber auch ein Unglück, das mich trifft, ist Wort Gottes. Ein junger Mann, der für mich arbeitet und mir so lieb und teuer ist wie mein eigener Bruder, hat einen Unfall, bei dem Glassplitter in seine Augen dringen. Im Krankenhaus liegt er mit verbundenen Augen.
Was sagt Gott dadurch? Zusammen tasten wir uns vor, kämpfen, lauschen, bemühen uns zu hören. Ist auch dies ein lebenspendendes Wort?
Wenn wir in einer gegebenen Situation keinen Sinn mehr sehen können, haben wir den entscheidenden Punkt erreicht. Jetzt wird unser gläubiges Vertrauen gefordert.
Einsicht kommt, wenn wir es ernst nehmen, dass uns jeder Augenblick vor eine gegebene Wirklichkeit stellt.
Ist sie aber gegeben, so ist sie auch Gabe. Als Gabe aber verlangt sie Dankbarkeit.
Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.
Beherztes Vertrauen auf den Geber aller Gaben ist Glaube.
Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden.
Denn nicht Glücklichsein macht uns dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.
Übung im Horchen mit dem Herzen lehrt uns in einem lebenslangen Prozess, unterschiedslos nach jedem Wort zu leben, das aus dem Munde Gottes kommt.[4]
Wir lernen es, indem wir in allen Dingen unsere Dankbarkeit bezeugen.
Die klösterliche Umgebung soll genau dies erleichtern. Die Methode ist Losgelöstheit.[5]
Ich kenne zwei alte Schwestern, die ihre eigene Methode haben: Jedes Mal, wenn die Pendeluhr schlägt, sagt eine von den beiden:
«Denk an Gottes Gegenwart!»,
und die andere antwortet:
«Und sei allzeit dankbar!»[6]
Das mag manchen ein bisschen verschroben anmuten. Man braucht es aber nur selbst zu versuchen, um zu entdecken, was sich da ereignet:
Kronos verwandelt sich in Kairos,
Uhrzeit in einmalige Gelegenheit,
ein unpersönlicher Zeitpunkt
in tief persönliche Begegnung
mit dem Geber aller Gaben.
Wenn wir nur einmal anfangen, wach zu sein für die Gelegenheit, die ein gegebener Augenblick uns bietet, dann ist es nur ein kleiner Schritt von sinnenfroher Aufgewecktheit zur wachen Antwort ernster Verantwortlichkeit.
Meistens, ja fast immer, ist die Gelegenheit, die uns geboten wird, Gelegenheit zu sinnlicher Freude.
In dem Maß, in dem wir lernen, diese Gelegenheiten dankbar freudig zu ergreifen, werden wir auch ganz da sein, wenn ein gegebener Augenblick Schwieriges von uns verlangt ‒ etwa für unsere Überzeugung einzutreten.
So gesehen, zeigen sich traditionelle Elemente christlicher Askese von einer neuen Seite. Wenn der Heilige Bernhard zum Beispiel von der Nützlichkeit des Fastens spricht, erwähnt er an erster Stelle, dass Hunger uns lehrt, den Geschmack der Speisen erst so recht zu würdigen.
Auch die «lectio divina» der Benediktinermönche gehört hierher. Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um «geistliche Lesung» im engen Sinn, sondern um ein waches «Lesen» der Botschaft, die jeder Augenblick bringt. Nur so ist die zentrale Stellung von «lectio» in der benediktinischen Askese zu verstehen.
Einmal liest der Mönch mit gesammelter Aufmerksamkeit die Worte der Heiligen Schrift, ein andermal mit derselben Konzentration die Zeichen der Maserung im Holz, mit dem er arbeitet, oder die Zeichen der Zeit in der er lebt.
Ein und dieselbe innere Haltung kennzeichnen das «Lesen» in all diesen Bereichen. Wer die Zeichen der Zeit nicht lesen kann oder die Schrift der Eisblumen an den Fensterscheiben, der liest vielleicht die Buchstaben in der Bibel, bleibt aber doch geistlicher Analphabet.
Um Botschaft und Antwort dreht sich alles in der christlichen Askese, um Gelegenheit und Bereitschaft, um Horchen und Gehorchen.[7]
«Gehorchen will ich letztlich nur DIR, DU ‹sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen›.[8]
Wie Jakob eine ganze Nacht lang rang mit deiner dunklen Gegenwart, so rang und ringt die Menschheit in der Nacht der Zeit mit dir schon von Anbeginn.[9]
Mein Ringen ist mein Nicht-horchen-Wollen, obwohl ich dich hören kann tief im Herzen.
Siege DU über mich ‒ in mir.
Nicht nur horchen will ich dann, sondern so hingegeben horchen, dass mein Horchen zum Gehorchen wird ‒ und zum Überschreiten: zum Überschreiten meiner eigenen begrenzten Einsichten und Absichten; zum Überschreiten aller Hindernisse durch gehorsames Tun; zum Überschreiten auch ‒ im Vertrauen auf dich ‒ von allem, was ich mir selber je zugetraut hätte.
Als ‹sanftestes Gesetz› lass mich dich erkennen.
In wahrhaft wachen Augenblicken ist mir ja klar, dass DU die Freiheit bist, nach der ich mich sehne. Amen.»[10]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1, 5, 7, 10]
[Ergänzend:
1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(06.45) «Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.
Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.
(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben.
(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.»
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Wort:
(32:33) Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten (Rilke, Die erste Elegie) – Die Gestalt des Orpheus – Da schufst du ihnen Tempel im Gehör (Die Sonette 1. Teil, I) – Jeden Morgen weckt er mein Ohr (Jes 50,4)
(41:22) Eine Linie zum völlig offenen Horchen über das Hören ‒ Horchen ‒ Hinhorchen ‒ Gehorchen. Unterschied von Gehorchen und Dressur. Das erste Wort der Benediktinerregel: Horche! Ausculta! – Ohr und inneres Gleichgewicht in den Forschungen von Alfred A. Tomatis
2.2. Horchen ‒ die Kunst des Betens (2002): Interview von Johannes Kaup mit Bruder David:
(06:37) Wir horchen auf das Wort, das uns jeder Augenblick zuspricht. Dieses ES, das alles gibt, darauf horchen wir hin. Jede Gelegenheit, jeder Augenblick, jedes Ding, jede Begegnung, jede Situation ist Wort und hat Sinn, will uns etwas sagen. Und wenn wir uns darauf einlassen und darauf hinhorchen, dann hören wir auch etwas, und was wir hören, ist, dass wir zu einer Entscheidung aufgerufen werden. Jeder Augenblick ist in gewissem Sinn Entscheidung.
(10:42) Im Kloster gehört zur ‹lectio divina›, zur heiligen Lesung, nicht nur die Schriftlesung. Eine meiner liebsten Formen der heiligen Lesung ist Biologiebücher zu lesen: die Evolution der Pflanzen, der Tiere; die Komplexität dieser Vorgänge, die Schönheit der Blüten usw.. Das ist für mich sehr erhebend und kann ebenso spirituelle Lesung sein.
2.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Vortrag:
(25.11) Öffne die Ohren ‒ ‹neige Dein Ohr› ‒ Gott spricht in jedem Augenblick
2.4. Mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
(00:00) Mit dem Herzen horchen fällt uns nicht leicht ‒ Erlauben wir uns eine halbe Minute der Stille (02:04) Wie können wir von Herz zu Herz sprechen? Die Dichtung gibt uns eine helfende Hand
2.5. Beten ‒ mit dem Herzen horchen (1988)
Vortrag:
Gesammelt horchen
Gelassen horchen
Gläubig horchen
Verantwortlich horchen
Dankbar horchen
3. Weitere Texte
3.1. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 265: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 18f.:
«Für den Mönch drückt sich das Hinhorchen, darin aus, dass er sein Leben mit dem kosmischen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten in Einklang bringt; mit der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist›, wie T. S. Eliot es ausdrückt.[11]
In meinem eigenen Leben verlangt der Gehorsam oft Dienste außerhalb des klösterlichen Rhythmus. Dann kommt es ganz besonders darauf an, die lautlose Glocke der ‹Zeit, die nicht unsere Zeit ist› zu hören, wo immer es auch sei, und zu tun, was es zu tun gibt, wenn es dafür Zeit ist ‒
‹jetzt und in der Stunde unseres Todes.›
‹Und die Todesstunde ist jeder Augenblick›, sagt T. S. Eliot, denn der Augenblick, in dem wir wirklich hinhorchen, ist ‹Augenblick in und außer der Zeit.›[12]
Eine Methode, mit deren Hilfe man Augenblick für Augenblick in dieses Mysterium eindringen kann, ist die Disziplin des Jesus-Gebetes, Training im Herzensgebet, wie es auch heißt.»
3.2. Die Achtsamkeit des Herzens: Die Umwelt als Guru (2021), 23f. [derselbe Text in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger im Buch Auf dem Weg der Stille : Kp. 7 «Auf die dynamische Ordnung der Liebe eingestimmt sein» (2016), 103]:
«Um im Rhythmus zu bleiben, muss man hinhorchen. Um den Weg zu sehen, muss man hinschauen. Das Kloster ist deshalb ein Ort, an dem man lernt, Augen und Ohren offen zu halten. ‹Höre!› ist das erste Wort der Klosterregel des Heiligen Benedikt. Ein weiteres Schlüsselwort lautet: ‹Betrachte!› (lateinisch: considera, von sidus = das Sternbild/Gestirn, also wörtlich: seinen Kurs nach den Sternen bestimmen).
Der Heilige Benedikt, Vater des abendländischen Mönchtums, will, dass die Mönche ‹apertis oculis› und ‹attonitis auribus› leben, d. h. mit so offenen Augen und so horchenden Ohren, dass die Stille göttlicher Gegenwart sie wie Donner trifft.
Deshalb ist ein Benediktinerkloster ‹schola Dominici servitii›, eine Schule, in der man lernt, sich auf die höchste Ordnung einzustimmen.»
3.3. Im Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] setzt Bruder David das Gebet «Vom Worte Gottes leben» mit Glauben in Beziehung. Siehe folgende Auszüge:
Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzhaften Prüfung (2021)
Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021)
3.4. Vor 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67:
«Im letzten Sinn ist unser ganzes geistliches Leben einfach ein Üben, von jedem Worte Gottes zu leben. Es ist daher ein üben im Hinblick auf das letzte Wort Gottes, von dem wir wissen, was es für jeden von uns sein wird, so verschieden auch die Worte sind, die wir im Laufe unseres Lebens hören. Das letzte Wort für jeden von uns wird sein: ‹Jetzt musst du sterben›. Dann wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, von jedem Wort Gottes zu leben.» (38)]
_________________
[1] Leseprobe aus dem Buch Erwachende Worte (2023), 19
[2] Für Bruder David ist der Ausdruck «Ausculta» ‒ von «auscultare: horchen, lauschen, gehorchen» ‒ geläufig, obwohl in den lateinischen Ausgaben der RB «Obsculta» ‒ «Höre» steht.
[3] Bruder David übersetzt RB Prol 8f. in Sinne und Sinnlichkeit (1996), 280, dem Auszug aus Die Achtsamkeit des Herzens: Der Dreischritt des horchenden Herzens (2021), 51:
«Auf also endlich!» ruft uns der Heilige Benedikt im Prolog zur Regula zu:
«Auf also endlich, auf mit uns, denn die Heilige Schrift spornt uns an, wenn es heißt:
‹Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.›
Unsere Augen offen für das Licht, das uns göttlich macht, lasst uns auf die göttliche Stimme horchen, die in unseren Ohren donnert, wenn sie uns täglich ruft und ermahnt und spricht:
‹Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht eure Herzen!›»
Siehe auch Sinnenfreudiges Morgenlob: Haupttext und Ergänzend: 2.2
[4] Siehe das Gebet «Vom Worte Gottes leben» in Gebet ‒ drei Innenwelten
[5] Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch (1996), 261-264: Der Text ist aus dem Buch Die Achtsamkeit des Herzens: Mit dem Herzen horchen (2021), 13-17
[6] In Musik der Stille (2023), 89:
«Ich habe zwei Schwestern gekannt, deren Standuhr jede Viertelstunde schlug. Jedes Mal, wenn die Uhr schlug, sagte die eine: ‹Denk an Gottes Gegenwart› und die andere antwortete: ‹und sei allzeit dankbar›.
Es ist so einfach, sich ein paar Mal am Tag oder jeweils zur vollen Stunde daran zu erinnern, dass wir in Gottes Gegenwart stehen. Der heilige Benedikt betonte, dass eben dies das Wesen des Gebets ausmacht. Drum freue ich mich immer, wenn ich in Europa die Kirchenglocken höre. Sie tauchen die ganze Landschaft in klösterliche Schwingungen.»
[7] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 84-86
[8] R. M. Rilke: ‹Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz› (Das Stunden-Buch: ‹Vom mönchischen Leben›)
[9] Bruder David geht auf das Ringen Jakobs mit dem Engel ein in TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 94f.
[10] Erwachende Worte (2023), 27
[11] Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription:
(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»
[12] Siehe Auszüge aus T. S. Eliot: Four Quartets in Stillehalten
Ich-Selbst
Text, Videose und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn ich von meinem Selbst spreche, meine ich mein ureigenstes Wesen. Ich bin mir bewusst, dass ich «in mich gehen» kann, in einen inneren Bereich, der nur mir selbst zugänglich ist. Nur ich kann mein Bewusstsein erfahren, die andren erfahren nur meine von außen sichtbare Gegenwart als Körper unter andren Körpern. Aber normalerweise sagen wir nicht «Ich b i n ein Körper», sondern «Ich h a b e einen Körper». Das ist jedoch seltsam, wenn wir es bedenken. Da sitzt ein Körper und sagt: «lch h a b e einen Körper.»
Wer spricht denn da? Es ist mein verkörpertes Selbst, das spricht ‒ als eins mit meinem Körper. Und zugleich spricht es über meinen Körper als seine sichtbare Erscheinung. Innen und außen können nicht getrennt, sondern nur unterschieden werden.
Wenn ich also «lch-selbst» sage, dann meine ich eine Einheit, mein verkörpertes Selbst. Wie aber kann ich mein Ich klar von meinem Selbst unterscheiden? Kann ich den Unterschied zwischen Selbst und Ich bewusst erleben?
Das lässt sich an einem Experiment erproben. Unser reflektierendes Bewusstsein ermöglicht es uns, uns selbst zu beobachten. Beobachte dich also, wie du dasitzt und diese Zeilen liest. Damit uns das gelingt, müssen wir uns innerlich von dem, was wir beobachten, «distanzieren».
Schau noch einmal genau hin mit deinem inneren Auge: Siehst du irgendwie gleichzeitig dich selbst als beobachtet und als Beobachter? Dann musst du dich noch ausschließlicher auf das Beobachten konzentrieren. Früher oder später wird es dir gelingen, nur mehr das Beobachtete zu beachten, weil du dich vollständig mit dem Beobachter identifizierst. Wenn dir das gelingt, hast du das Ziel erreicht. Der Beobachter, den niemand mehr beobachtet, ist das Selbst.
Wo ist dieses Selbst? Nirgends und überall. Du kannst es nicht verorten. Daher ist es auch nicht in Teile zerlegbar. Daraus entspringt die überraschende Einsicht, dass es nur ein einziges Selbst gibt: eins für uns alle ‒ ein grenzenloses, unteilbares Ganzes!
Trotzdem ist unser Ich einzigartig und verschieden von jedem andren Ich.
Das eine unerschöpfliche Selbst drückt sich immer wieder in einem neuen Ich aus. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht einmal unsre Fingerabdrücke sich zweimal unter Milliarden andrer finden. Und doch meinen wir alle ein und dasselbe Selbst, wenn wir «Ich selbst» sagen. In jedem, dem ich gegenüberstehe, begegnet mir das eine Selbst, das uns allen gemeinsam ist. Dies ist von schwerwiegender Bedeutung für meine Beziehung zu andren.
Das Selbst ist nicht nur über den Raum erhaben, sondern auch über die Zeit und ist in diesem Sinne überzeitlich.
Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, finde ich ein andres, ein kindliches Ich, nicht mein jetziges. Trotzdem aber ist mein Selbst damals wie heute das gleiche; es bleibt auch in meiner Erinnerung unverändert. Schulfreunde erkennen einander nach dreißig Jahren wieder, obwohl nicht ein einziges Molekül in ihren Körpern mehr das gleiche ist. Sie erkennen einander, weil das bleibende Selbst sich im stets veränderlichen Ich des andren ausdrückt. Trotz all unsrer Einschränkungen ist jeder Mensch eine neue Verwirklichung der unbegrenzten Möglichkeiten des Selbst.
Erinnerst du dich an den Beginn deiner allerersten Freundschaft ‒ vielleicht schon im Kindergarten? War das nicht ein Augenblick überwältigten Staunens: Wie kann ein andres Kind so völlig anders sein und gleichzeitig so ich? Nicht wie ich ‒ die große Verschiedenheit zwischen uns macht das Ganze erst so spannend ‒ und doch im wahrsten Sinn des Wortes ich!
Der griechische Philosoph Aristoteles (385-332 v. Chr.) verstand Freundschaft als «eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt» ‒ ein einziges Selbst in unsrer Terminologie.
Natürlich wohnt in allen Körpern «ein einziges Selbst», wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber die Augen von Freunden sind offen für diese ausschlaggebende Tatsache und sie sind sich ihrer Bedeutung füreinander bewusst.
Wenn wir uns dessen in Bezug auf alle andren wenigstens manchmal bewusst sein könnten, dann wäre unsere Welt ein freundlicherer Ort.
Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil, Menschen kennenzulernen, deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ. In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter, «ich selbst» zu sein. Sie machten mir bewusst, dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck des einen großen Selbst bin.
Verschiedene Traditionen geben dem Selbst unter diesem Aspekt unterschiedliche Namen. Für die Pima in Arizona heißt es z. B. «I’itoi», für Hindus «Atman», für Buddhisten «Buddha-Natur». Christen nennen es «Christus in uns».
In diesem Sinne schreibt der heilige Paulus: «lch lebe, aber nicht ich, Christus lebt in mir» (Gal 2,20).
Dieses Selbst immer klarer durchscheinen zu lassen durch unser Ich, stellt die große Aufgabe dar, «zu werden, wer wir wirklich sind».
Das ist die Aufgabe, «unsre Rolle im Leben gut zu spielen», wie man sagt.
Was heißt das aber? Unsre Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch, und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren ‒ wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen oder wie Jazzmusiker. Jazz entfaltet und verändert sich ständig auf unvorhersehbare Weise, weil die Spieler aufeinander hinhorchen und jeder von allen andren beeinflusst wird.
Was ein Einzelner beitragen kann, wird von seinem Instrument mit all dessen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Das Instrument, das wir von Geburt an mitbekommen, ist weitgehend durch Faktoren bestimmt, die nicht unter unsrer Kontrolle stehen. Wie viel hängt allein schon von Zeit und Ort unsrer Geburt ab ‒ von Zeit und Ort unsres «Auftritts» auf der Bühne des großen Welttheaters, auf der das Stück schon seit Jahrtausenden läuft.
Und denken wir an unsre Stärken und Schwächen, unsre ererbten Begabungen und Unzulänglichkeiten. Ganz gleich, wie wir mit ihnen umgehen, werden sie jedenfalls die Möglichkeiten und Grenzen unsrer Improvisation weitgehend mitbestimmen. Die Erfüllung unsrer Aufgabe «gut zu spielen», kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben. Sie muss davon abhängen, wie «gut» wir es spielen.
Woran kann ich aber erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele? Was heißt hier «gut»? Die Antwort ergibt sich aus dem, was wir über das Selbst gesagt haben:
Sie lautet: Du musst als «Du selbst» spielen. Wie gut wir «unsre Rolle im Leben spielen», hängt nicht von unsrer Veranlagung ab, sondern davon, dass unser Ich immer transparenter wird für das Selbst.
Das bedeutet auch, dass wir uns dessen bewusst bleiben, dass wir ‒ die Spieler ‒ alle ein Selbst sind. Und dass wir unsre gegenseitige Zugehörigkeit durch unsre Art zu spielen bekräftigen. Dann wird unser Spielen ‒ alles, was wir tun ‒ ein «gelebtes Ja zur Zugehörigkeit» ausdrücken. Das aber ist genau unsre Definition von Liebe.
Wenn du darüber nachdenkst, wirst du finden, dass Liebe in all ihren authentischen Formen «das gelebte Ja zur Zugehörigkeit» ist. «Unsre Rolle gut zu spielen», heißt also, durch alles, was wir im Leben tun, Liebe auszudrücken.
Das entspricht der Forderung, die wir in jeder Form von Spiritualität wiederfinden und die in der jüdisch-christlichen im allbekannten Gebot ihren Ausdruck findet: «Liebe deinen Nächsten als dich selbst!» (Lev 19,18).
Nicht «wie dich selbst» lautet es, sondern, «a l s dich selbst» ‒ da dein Selbst ja auch das Selbst deines Nächsten ist. In jedem unsrer Mitspieler begegnen wir unsrem gemeinsamen Selbst ‒ auch in unsren Feinden. Daher ist «Liebe deine Feinde» (Mt 5,44) keine widersprüchliche Zumutung.
Zum Beispiel bleiben alle, die den Regenurwald zerstören, meine Feinde, obwohl ich als Christ sie lieben will. Würde Liebe alle zu Freunden machen, dann könnte ich ja niemals Feinde lieben. Meine Liebe wird sich daran zeigen, dass ich zwar alles tue, um ihren Bemühungen entgegenzuwirken und es ihnen unmöglich zu machen, Schaden anzurichten, ihnen aber gleichzeitig den Respekt erweise, der jedem Menschen gebührt, und sie so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte, wenn unsre Rollen vertauscht wären.
Inmitten meiner tatkräftigen Opposition darf ich niemals vergessen, dass das Selbst meiner Feinde mein Selbst ist.
Es gibt nur e i n Selbst. In dem Ausmaß, in dem wir diese Tatsache aus dem Bewusstsein verlieren, ist uns auch nicht mehr bewusst, dass letztendlich das Selbst alle Rollen spielt.
Wenn ich das vergesse, werde ich wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle verliert, dass er sich am Ende nicht mehr von der Rolle unterscheiden kann. Wenn dies geschieht, hat mein Ich mein Selbst vergessen. Wir nennen das Ich, das seine Beziehung zum Selbst verloren hat, das Ego.
[Orientierung finden (2021): ‹Das Selbst ‒ mein ureigenstes Wesen›, 19-23]
[Ergänzend:
1. Videos
1.1. Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
«Wenn man von der Selbstfindung spricht, denken leider sehr viele Menschen nicht an wirkliche SELBST-findung, sondern an noch größere Vereinzelung dadurch, dass man sein EGO, sein kleines ICH in Zeit und Raum beweihraucht oder genau definiert oder was immer. Wirkliche SELBST-findung heißt ja, das in uns selbst finden, was uns mit allen andern verbindet.
Das SELBST ist, was uns mit allen andern verbindet. Letztlich gibt es nur ein SELBST. Und dieses eine SELBST drückt sich in vielen ICH aus.»
1.2. Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Video: Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE)
2. Audios
2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
2.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Der Doppelbereich
Die Themen des Gesprächs:
‹Selbstlos› ‒ Selbst ‒ Heilung
2.3. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego?
2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift:
(18:43) Was meinen wir, wenn wir Ich sagen und was meinen wir, wenn wir ‹Ich selbst› sagen?
(29:51) Wie kommen wir in Kontakt mit unserem Selbst? Durch alle die verschiedenen Formen der Meditation und der spirituellen Praxis: Auch dankbar leben ist ein ganz ebenso gültiger Weg wie jede andere spirituelle Praxis, ein Weg mit dem Selbst in Kontakt zu kommen, aus dem Selbst heraus zu leben
2.5. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Heilung von Körper und Geist: Gespräch mit Pater Johannes und Bruder David:
(22:04) Ich und Selbst unterscheiden: Das Selbst, der Quellgrund in uns
Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Sehen lernen:
(01:24:43) Ich und Selbst: die göttliche Wirklichkeit in uns
3. Weitere Texte
3.1. Das grosse Geheimnis (2019): Interview in Visionen (3/2019) zum 93. Geburtstag von Bruder David:
«Erwachen – was löst der Begriff aus in einem 93jährigen Benediktiner mit viel Zen-Erfahrung?»
Bruder David: «Die christliche Taufe bedeutet ursprünglich ‹Erleuchtung› – griechisch ɸωτισμος (phōtismos). Und in einem Taufhymnus aus dieser frühesten Zeit des Christentums heißt es: ‹Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten› (Epheser 5:14). Erwachen und Erleuchtung sind hier aufs Engste verbunden. Worum aber geht es dabei? Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas weiter ausholen.
Wir Menschen leben im Doppelbereich von Ich und Selbst. Unser Ich steht in Raum und Zeit, hat Anfang und Ende, ist also vergänglich. Wir rühren aber auch an Unvergängliches (das Große Geheimnis habe ich es genannt) und wissen in unseren lebendigsten Augenblicken – etwa in Gipfelerlebnissen – dass wir mit unserem innersten Selbst auch dieser Wirklichkeit angehören. Dabei kann uns bewusstwerden, dass unser Selbst über Raum und Zeit erhaben, und daher unvergänglich und unteilbares Eines für uns alle ist. Es gibt nur ein Selbst, ob wir es Christus nennen, wie in dem erwähnten Taufhymnus, oder unsere Buddha-Natur, oder Ātman, oder mit sonst einem Namen. Wenn wir vollbewusst ‹ich selbst› sagen, betonen wir zugleich unsere Einzigartigkeit als Ich und unsere Verbundenheit mit allen Andren im Selbst. Alles, was wir aus dieser Mitte heraus tun, blüht auf in Harmonie mit dem Universum.
Aber leider vergisst unser Ich allzu oft sein Selbst und schrumpft dadurch zum Ego zusammen. Das Ego ist ein Ich, das vergessen hat, dass es durch sein Selbst mit dem Ganzen verbunden ist. Daher muss das Ego sich vereinzelt und von all den anderen Egos eingeschüchtert und bedroht fühlen. Aus Furcht wird es bereit zu Gewalt, Rivalität und Habsucht – alle drei Grundübel unserer Gesellschaft. Wenn mein Ego aber wieder zu vollem Selbstbewusstsein erwacht, dann wird es zum Ich-Selbst und kann Gewalt durch Gewaltfreiheit ersetzen, Rivalität in Zusammenarbeit verwandeln und Habsucht in Teilen. Das sind Stichworte für eine Gesellschaft, wie wir alle sie uns ersehnen.»
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 103-112, 148-150:
«Das SELBST ist eines, aber ist so unerschöpflich, dass es sich immer wieder, immer wieder neu in noch einem ICH und noch einem ICH und noch einem ICH ausdrücken will, muss und kann. Drum gibt es so viele ICH und nur ein SELBST für uns alle. Und wenn man nur bedenkt, wenn man mit dem Bewusstsein, mit dem SELBST-Bewusstsein, lebt, wie anders man sich dann zu anderen Menschen verhält: Jeder Mensch, auch der unsympathischste, bin ich selbst. Nicht ich, aber das ist mein SELBST, wir haben nur ein SELBST, auch wenn er unsympathisch ist, der Mensch, nur ein ganz anderes ICH. Aber es hilft schon, zu wissen, er ist mein SELBST.»]
Ich-Selbst und Ego
Text, Videose und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Ego ist das lateinische Wort für «lch», aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort «egoistisch» ist Ego negativ belastet. Das «lch» wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein «Ich-Selbst» schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie.
Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht gegen diese Angst. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.
Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft ‒ leider unsre eigene! ‒ gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!
Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil ‒ also durch Achtsamkeit und Vertrauen ‒ kann es den Heimweg finden.
Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.
Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.
[Orientierung finden (2021): ‹Das Ego ‒ wenn das Ich das Selbst vergisst›, 24f.]
[Ergänzend:
1. Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(20:10) «Wie schaut die Welt des Selbst aus?
(23:29) Wir leben in einer Gesellschaft, die eben durch das Ego geprägt ist, und die daher eine Art Pyramide ist. Der Stärkste ‒ zugleich auch wahrscheinlich der, der am meisten Furcht hat, das macht ihn so aggressiv ‒, ich sage ihn, das ist eine sehr männliche Haltung, aber es kann auch Frauen passieren:
Wer am meisten Angst hat, der kommt am höchsten hinauf, weil er die Andern am stärksten tritt. Und da baut sich diese Pyramide auf und jeder ‒ auf jeder Schicht ‒, buckelt nach oben und tritt nach unten, wie ein Radfahrer. So baut sich diese Machtpyramide auf. Das Gegenteil ist eine Welt, nicht der Pyramide, sondern der Vernetzung.
(26:47) «An dem Beispiel der Flüchtlinge und der Flüchtlingskrise, in der wir leben, zeigt sich eigentlich recht schön, wie das im Praktischen ausschaut:
Es heißt noch nicht: ‹Ich weiß schon, was man da machen muss ‒, ich habe schon alles ausgedacht› ‒ ‹Keine Ahnung, ich habe sogar Angst, dass mir gar nichts einfallen wird. Aber ich vertraue, ich sträube mich nicht. Diese Situation ist gegeben. Ich baue keine Zäune, das ist das Sträuben. Ich setze mich damit auseinander und gemeinsam werden wir irgendeine Lösung finden.›
Man braucht noch nicht das Rezept zu haben, man muss nur die Haltung haben, aus der sich früher oder später die Lösung entwickelt. Vielleicht ganz ohne Rezept sich einfach entwickelt, weil man gewisse Grundsätze, zum Beispiel Ehrfurcht vor dem Andern: Das ist ja nicht nur Nummer 50364 von den Flüchtlingen, das ist ein Mensch mit einem ganz eigenen Schicksal ‒, dem trete ich ehrfürchtig entgegen und versuche gemeinsam:
‹Was können wir da machen›? Und wenn genügend Leute fragen: ‹Was können wir da machen?› ‒ das ist schon ein Weg auf eine Lösung hin, wenn genügend Leute fragen.
… Aber das Gegenteil ist, zu sagen: ‹Abschließen, Mauern, Zäune, niemanden mehr hereinlassen› …
Das ist ganz ein anderer Ansatz. Und dieser kreative Ansatz entspringt dem Bewusstsein: Wir sind ein Selbst, das viele, viele verschiedene Rollen spielt, aber es ist das eine Selbst und es wird schon etwas herauskommen, wenn wir unsere Rolle gut spielen: Der Flüchtling spielt die Flüchtlingsrolle, der Helfer spielt die Helferrolle. Der Zuschauer spielt die Zuschauerrolle. Wir müssen unsere Rollen gut spielen.»
2. Audios
2.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 3 Vormittag:
‹Das Ego ‒ die Fehlform des Ich› (Bruder David)
2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 16 und 28:
(28:55) Das Ego: wenn das Ich sich fürchtet und gewalttätig wird
(42:53) Gespräch: Warum fallen wir immer wieder ins Ego?
2.3. Das glauben wir ‒ Spiritualität in unserer Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
Ich ‒ Selbst ‒ Liebe ‒ Ego
2.4. Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift:
(26:44) Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?
2.5. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(03:16) Wenn das Ich das Selbst vergisst
3. Weitere Texte
3.1. Machtpyramide und Netzwerke; Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 112-115:
«Wenn das ICH jetzt plötzlich das SELBST vergisst, wird es zum EGO.
Das ICH schrumpft ein, es schrumpft zusammen und fürchtet sich. Das ist das Erste. Wenn wir uns fürchten, werden wir aggressiv. Aggression, Gewalttätigkeit kommt immer von Furcht.
Das nächste ist: Wir wollen weiter hinaufkommen: kompetitiv, Wettbewerb um jeden Preis, höherkommen wie die anderen, es sind ja so viele, vielleicht steigen die auf mich drauf, da steig ich lieber auf sie drauf. Und dann der Gedanke, da ist ja nicht genug für uns alle: Wir werden neidisch und geizig, wollen mehr und mehr.
Und das sind alles die Charakteristiken, die unsere Welt, Kulturwelt, die wir geschaffen haben, charakterisieren: Gewalttätigkeit, Wettbewerb und Geiz und Neid und in allen spirituellen Traditionen aus der Erfahrung aus dem SELBST heraus wird eine Welt vorgestellt und erhofft, wo Frieden ist, nicht Gewalttätigkeit, nicht Aggression, Zusammenarbeit statt Wettbewerb und Teilen.»]
Ich-Selbst werden
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Jeder von uns weiß es aus eigener Erfahrung, kann es zumindest selbst nachprüfen. «Erkenne dich selbst!» stand über dem Eingang des Apollotempels in Delphi, aber nicht nur die alten Griechen sahen darin den Schlüssel zur tiefsten Einsicht. Sobald ein Mensch zu Selbstbewusstsein erwacht, steht er vor der Herausforderung zur Selbsterkenntnis.
Und schon bei den ersten Schritten auf dem Weg der Selbst-Erkundung stoßen wir auf den Unterschied zwischen dem Bewusstsein, das wir beobachten, und dem höheren, größeren Bewusstsein, das beobachtet.
Ein Nach-innen-Schauen kann uns zeigen, wie sehr wir uns meist mit dem Ego identifizieren, das wir beobachten können; es ist uns aber auch möglich zu lernen, mehr und mehr daheim zu sein im Beobachter selbst, in unserem wahren Selbst.
In dem Ausmaß, in dem uns das gelingt, wird das Ego aufgehoben ‒ aufgehoben in der dreifachen Bedeutung dieses Wortes:
Unser Selbst-Verständnis wird auf eine höhere Ebene des Bewusstseins hinaufgehoben; unsere Selbst-Identifizierung mit dem Ego, unserer äußeren «Maske», wird für ungültig erklärt, aber das, worum es uns eigentlich geht, unsere Selbst-Wertschätzung, wird unverlierbar bewahrt.
Wir können es auch so sagen: Selbstbeobachtung / Selbstreflexion, Selbsterkenntnis zeigt uns, wie sehr wir im Ego verstrickt sind. Wir sind nicht einmal imstande, dem Sturzbach unserer Gedanken Einhalt zu gebieten. Nur selten denken wir; meist denkt es uns. Nur selten gebrauchen wir unser Denken als Werkzeug, das uns gehorcht; meist werden wir einfach mitgerissen vom Strudel der Gedanken und Geschichtchen, durch die unser Ego die Illusion seiner Eigenständigkeit aufrechterhält.
Wir können aber lernen, dem ein Ende zu machen, indem wir im Jetzt leben; die Gedanken sind nämlich immer mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt.
Wer im Jetzt des Augenblicks lebt, findet da den Beobachter der Gedanken, sein wahres Selbst.
Klassische Statuen haben typischerweise ein Standbein und ein Spielbein. Rufen wir uns zum Beispiel Michelangelos David in Erinnerung. Sein rechtes Bein trägt ihn, sein linkes schwingt fast tänzerisch aus. Anfänger in der Selbsterkenntnis stehen mit ihrem Standbein fest im Ego. Die Aufgabe besteht darin, unser Schwergewicht zu verlagern, bis unser Schwerpunkt im großen Selbst liegt ‒ in unserer Buddha-Natur würden Buddhisten sagen.
Andere Traditionen drücken das Heimfinden zum wahren Selbst anders aus.
Christen werden etwa mit Paulus sagen:
«Ich lebe, doch jetzt nicht ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20) ‒ was Paulus da meint, ist das eine, uns allen eigene Selbst, das uns zu Menschen macht.
Dieses unser wahres Selbst kann lächeln über die Kniffe, durch die das Ego sich zu verewigen sucht; es ist ja eins mit allen; was soll es da fürchten?[1]
Es hat grenzenloses Vertrauen; das heißt, es glaubt, im tiefsten Sinn des Wortes.
Darum heißt es [im Glaubensbekenntnis] auch nicht «wir glauben», sondern ‒ die Verwirklichung vorwegnehmend ‒ «ich»: der Mensch schlechthin, das eine allumfassende Selbst, ‒ «Purusha» in der Hindu-Mythologie, oder etwa «I’itoi» in der Mythologie der Tohono O’Odham in Arizona; der kosmische Christus, der hier im Christen das erste Wort des Glaubensbekenntnisses spricht, das Wort, in dem alles Weitere zusammengefasst und schon vorweggenommen ist.
Welchen Namen wir ihm auch geben wollen, dieses von Natur aus gläubige Selbst in uns zu finden, ist uns möglich, ja, es ist das Ziel aller spirituellen Übungen.[2]
Das Jetzt ist «der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit» (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.[3] Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, «das beständige Jetzt», das «nunc stans», wie Augustinus Ewigkeit definiert.[4]
Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit. Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.
Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die «Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst», wie Rilke in der «Elegie an Marina» schreibt.[5]
Und für T. S. Eliot ist das Jetzt «der Augenblick in und ausserhalb der Zeit» ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.[6]
Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit.
Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt zu leben. Nur dann bin ich «Ich-Selbst».
Dann werde ich aus einem Ego, das sich in Vergangenheit und Zukunft verstrickt hat, wieder zum «Ich-Selbst».
Darum ist es so wichtig zu lernen, bewusst in diesem Doppelbereich zuhause zu sein.
Schon «Erkenne dich selbst!» ist eine Aufgabe, die wir nur im Jetzt lösen können. Und die Herausforderung «Werde, wer du bist!» verlangt, dass wir ein Leben lang lernen, im Jetzt zu leben.[7]
Nun spielt sich das aber nicht so schlagartig ab, sondern es ist wie eine Skala, eine lange fließende Skala, und auf der einen Seite wird’s mehr und mehr Ego und auf der anderen Seite wird’s mehr und mehr «Selbst». Und wenn wir uns unsere Bekannten und Verwandten anschauen, dann sehen wir, dass manche mehr auf der Ego-Seite sind und andere mehr auf der Selbst-Seite sind und gewöhnlich die Menschen, die wir besonders bewundern, die sind so durchleuchtend für das Selbst, dass das Ich schon fast verschwindet, es wird so ganz durchscheinend. Und beim Ego ist das Ich recht handfest.[8]
Öfter als früher denke ich über meine Ahnen nach, versuche sie mir vorzustellen, weit zurück. Meine rechte Handfläche zeigt eine Kontraktur der Bindegewebe,[9] die mich nicht stört, aber daran erinnert, dass ich sie vielleicht von Wikinger-Vorfahren geerbt habe. Welche Raubüberfälle da in meiner Vorgeschichte liegen könnten oder welche Pogrome, bei denen vielleicht meine aristokratischen Vorfahren in Polen meine chassidisch-jüdischen niedermetzelten. Wie kam es dazu, dass sie dann doch zusammenflossen in meiner Person? [10]
Das Wort «Person» kommt aus dem Bühnenwortschatz der Römer und bedeutete die «Rolle», die «Maske», welche die Stimme des Schauspielers durchtönen lässt (per = durch, sonat = tönt).
Welche Zufälle mögen mitgespielt haben, damit mir die Rolle zufiel, die ich jetzt spiele? Ja, im Bild des Rollenspiels kann ich mir die Beziehung zwischen meinem Ich im Fluss der Zeit und meinem überzeitlichen Selbst vorstellen.
Die ganze unabsehbare Vergangenheit hat die Rolle bestimmt, die mir jetzt aufgegeben ist. Wie vieles war schon bei meiner Geburt festgelegt ‒ mein Geschlecht, meine Hautfarbe, die Familie und Kultur, in die ich hineingeboren wurde, Tausende andere unabänderliche Gegebenheiten.
Am 1. Sonntag im Monat spielen im Europakloster die Brüder nach dem Kindergottesdienst Kasperltheater. Ein und derselbe Bruder kann da etwa mit der rechten Hand den Seppl spielen und mit der linken das Krokodil. So spielt auch das eine große Selbst unzählige Rollen. So spielt mein eigenes Selbst, das daheim ist im großen Selbst, die Rolle, die mir zugefallen ist.
Selbst und Ich sind eins im Spielen; ich kann sie unterscheiden, aber nicht trennen.
Was heißt es, frage ich mich, meine Rolle «gut» zu spielen? Die Antwort muss wohl lauten: gut zu spielen heißt, mit Liebe zu spielen ‒ ein Ja zu grenzenloser Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen. Wenn das Ich dieses Ja verweigert, gibt ihm das Selbst trotzdem Kraft zu spielen, aber dann spielt das Ich «schlecht».[11]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2, 7f., 11)
[Ergänzend: Wir im Spannungsfeld von ‹Ich glaube› und Ego
1. Anfangs- und Schlussakkord und des Buches Credo (2015): ‹Ich glaube›, 18f. und ‹Amen›, 229; siehe auch Glaube:
«‹Ich glaube›: Was heißt das eigentlich?
Nur in der Zusammensetzung ‹Ich glaube› enthüllt jedes dieser beiden Wörter seine volle Bedeutung: Glauben ist für das Ich, um das es hier geht, unendlich mehr als ein Für-wahr-halten; und nur das Ich, das in diesem Vollsinn glaubt, ist unser wahres menschliches Selbst.
Das kleine Ich ‒ unser Ego, das letztlich aus einer Täuschung entspringt ‒ kann bestenfalls etwas als tatsächlich anerkennen; glauben kann es nicht.
Und warum nicht? Weil der Glaube nicht eine Ansammlung von Behauptungen ist, die ein gläubiger Mensch für wahr hält; der Glaube ist vielmehr tiefstes, wagemutiges Vertrauen.
Sein Gegenteil ist nicht Zweifel, sondern Furchtsamkeit.
Angst und Furchtsamkeit aber sind das Lebenselement des Ego, das der Selbsttäuschung des Abgetrenntseins vom Ganzen sein Scheindasein verdankt. Kein Wunder, dass es in seiner Vereinzelung den Rest der Welt als drohend und beängstigend erlebt.
Unser wahres Ich ist im Ganzen des Seins eingebettet ‒ wovor soll es da Angst haben?
Wenn wir also sagen ‹Ich glaube› und beiden Wörtern ihre volle Bedeutung geben, treten wir damit in die Größe und Tiefe wahren Menschseins ein.
Wir können das zur Verdeutlichung etwas dramatisch ausmalen:
Da tritt ein Menschlein in ein Kirchlein ‒ alles recht zahm und alltäglich, bis es zum Credo kommt und zum ‹ich glaube›.
Für Augen, die sehen könnten, was sich da in Wirklichkeit ereignet, flögen plötzlich Dach und Kirchturm davon, die Mauern würden zerstieben, Raum und Zeit wären nicht mehr. Es betet jetzt das eine, allumfassende menschliche Ich im ewigen Jetzt.
Das Ich, das sagen kann ‹ich glaube› und es im Vollsinn sagen kann, ist unser wahres Ich, das eine echte, allen Menschen gemeinsam eigene Selbst.»
«AMEN zu sagen heißt, sich auf Gottes Verlässlichkeit zu verlassen.[12] So fasst das AMEN am Schluss des Glaubensbekenntnisses noch einmal zusammen, was glauben heißt: Unser Herz vertrauensvoll auf Gott zu setzen und dementsprechend zu leben. Nicht, als ob Gottes Vertrauenswürdigkeit überhaupt in Frage gestellt werden könnte. Nur das, was uns so verlässlich erscheint, dass wir uns vorbehaltslos darauf verlassen können, verdient ja Gott zu heißen. In dem Ausdruck ‹uns verlassen› schwingt die Vorstellung mit, dass wir unser kleines Selbst zurücklassen und uns vertrauend auf etwas Größeres hinbewegen. Diese innere Bewegung haben wir schon mit dem ersten Wort des Glaubensbekenntnisses begonnen. ‹Ich glaube› heißt genau das gleiche wie ‹ich verlasse mich›. Und mit AMEN schließt sich nun der Kreis.»
2. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David):
(08:17) Es war noch nie jemand da wie du, um einen Ton der Rühmung zu singen / (10:52) Das Selbst ist über Raum und Zeit erhaben ‒ Die Balance Ich und Selbst in spirituellen Übungen und Gipfelerlebnissen / (13:57) Ganz im Jetzt sein / (18:15) Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch ‒ Immer wieder ins Jetzt kommen: das Kernanliegen aller spirituellen Wege
(27:54) Sich auf das große Geheimnis verlassen heißt glauben
(38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater
3. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Amen: Unsere Antwort auf die ‹amunah›, die Treue Gottes:
(00:00) Glaube ‒ sich verlassen auf die Verlässlichkeit Gottes
4. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014) 109-115:
«Und das Ego vergisst eben, dass es ja nur ein Spiel ist. Alles was wir hier aufführen ist ein Spiel.
Ein Spiel dieses Selbst.
Es kann auch eine Tragödie sein, es kann auch sehr schön sein.
Wir sind Schauspieler sozusagen.
Uns ist ein Drehbuch mitgegeben bei der Empfängnis.
Und wir haben keine Ahnung für gewöhnlich, wenn wir nicht beginnen darüber nachzudenken, wie detailliert dieses Drehbuch ist: Dass wir überhaupt hier geboren sind, zu dieser Zeit, von diesen Eltern, mit diesen Begabungen, mit diesen Krankheiten oder was immer: Fehlern.
Das ist schon so ein Drehbuch und wie kann man das gut spielen?
Indem man diese Rolle gut spielt.
Und gut spielt man sie, solange man sich erinnert: Das ist mir aufgegeben! Das ist meine Aufgabe. Ich selbst spiele das.
Wenn ich das Selbst vergesse, glaube ich, ich bin die Rolle. Ich verwechsle mich mit der Rolle.
Und eine Schauspielerin, die sich mit der Rolle verwechselt, spielt nicht gut.
Sie spielt nur gut, solange sie sich wirklich, sich völlig hineinlebt, aber immer noch weiß, wer sie ist. Dass sie nachher sich wieder abschminkt und nach Hause geht und sich duscht und dann in der Küche sich etwas richtet.
Aber wenn sie das vergisst, wenn sie glaubt, ich bin jetzt die Minna von Barnhelm, ist sie verrückt geworden. Und wir leben meistens verrückt! (Lachen im Saal). ‒
Wir identifizieren uns so mit unserer Rolle, dass wir gar nicht wissen, dass es nur eine Rolle ist.
Wenn wir sie gut gespielt haben, wenn es fertig ist: Wie ein Puppenspieler spielt das Selbst mit allen diesen Puppen, hat viele Hände ‒, nimmst dann die Puppe ab, legst sie weg, das Selbst bleibt.
Was wirklich innerhalb von mir gespielt hat, das war ja das Selbst.
Meine Rolle ist ja nur diese Puppe, die ich da anziehe.»]
________________________
[1] Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen … Reinkarnation:
(26:08) Wortwörtlich nehmen klammert sich ans kleine Ich entgegen der Intention des Buddhismus wie auch des Christentums: ‹Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir› (Gal 2,20)
[2] Credo (2015): ‹Ich glaube›, 19f.
[3] T. S. Eliot: ‹ But to apprehend the point of intersection of the timeless / With time …› (Four Quartets: The Dry Salvages, V);
siehe auch Stillehalten und Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription, 5:
(25:01) «T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.»
[4] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8
[5] R. M. Rilke: ‹Von der Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron); siehe auch Audio (39:16) ‹Schweigen› in Lebendige Spiritualität (2015)
[6] T. S. Eliot: ‹The moment in and out of time› (Four Quartets: The Dry Salvages, V); siehe auch Stillehalten
[7] Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.
[8] Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift
[9] Dupuytrensche Kontraktur. Das Hauptverbreitungsgebiet ist Haithabu, die Hauptstadt der Wikinger.
[10] Bruder David spricht über seine Vorfahren in ihrem Schloss in Maria Rast am Stein im Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab 04’:50.
[11] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 183f.
[12] «In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]; siehe auch Sinne und Kind werden, Anm. 8
Ja-sagen
Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn die Gipfelerfahrung Sie trifft oder fortträgt oder was immer, dann ergibt alles blitzartig einen Sinn.
Nun ist das etwas ganz anderes, als wenn man mühsam die Lösung für ein Problem sucht; üblicherweise meinen wir ja, dass wir, auf diese Art und Weise schließlich dazu kommen, dass alles einen Sinn ergibt. Wir glauben, dass wir die Antwort haben, aber sobald sie da ist, tauchen neue Probleme auf. Also denken wir: Nun gut, gehen wir auch dieser Frage noch bis zum Ende nach; wir glauben, dass wir uns von Frage zu Antwort, von neuen Fragen zu neuen Antworten und zu weiteren Antworten forthangeln könnten, bis wir dann irgendwann die letzte Antwort finden. Aber was schließlich passiert ist, dass die Kette zum Kreis wird, in dem wir immer und immer und immer wieder herumgehen; die letzte Antwort wirft wieder die erste Frage auf und so geht es weiter.
In Ihrer Gipfelerfahrung wird Ihnen intuitiv bewusst, dass Sie die Frage fallen lassen müssen, um die Antwort zu bekommen.
Etwas reißt Sie fort, und für den Bruchteil einer Sekunde lassen Sie die Frage fallen, und in diesem Augenblick ist die Antwort da.
Auf einmal haben Sie den Eindruck, dass die Antwort schon immer versucht hatte, zu Ihnen durchzudringen, und dass der einzige Grund, weshalb das nicht gelang, die Tatsache war, dass Sie zu sehr mit dem Fragen beschäftigt gewesen waren.
Warum ist das so? Warum geschieht dies während unserer Gipfelerfahrung? Es scheint ein grobes Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu geben. Ich habe doch nichts anderes getan, als einem Strandläufer zuzuschauen, der den Wellen nachlief und vor ihnen wieder davonlief; ich habe doch nichts anderes getan, als wach zu liegen und dem Regen zu lauschen, wie er aufs Dach trommelte; warum sollte alles plötzlich einen Sinn ergeben?
Es gibt noch einen anderen Weg, diese Sache anzugehen.
Man könnte sagen, sofern man die Erfahrung wirklich durch und durch nachvollzieht und untersucht, dass da etwas ist, das Sie immer wieder dazu bringen will, Ja zu sagen.
Sie sehen den Strandläufer, und etwas in Ihnen sagt aus vollem Herzen Ja; oder Sie hören den Regen und Ihr ganzes Wesen sagt Ja dazu. Es ist eine besondere Art von Ja: es ist ein unbedingtes Ja.
Und in dem Augenblick, da Sie zu einem Teil der Realität Ja gesagt haben, haben Sie auch bedingungslos zu allem anderen Ja gesagt; nicht zu jedem einzelnen Ding, sondern Ja zu allem, was sie sonst in die Schubladen von «gut» und «schlecht» und «weiß» und «schwarz» und «oben» und «unten» stecken.
Sie machen plötzlich keine Unterscheidungen mehr. Sie sagen nur Ja und mit einem Mal ordnet sich alles zu einem Muster, und Sie bejahen das ganze Muster allein. [Der Mönch in uns (1978)]
Ausschnitt aus Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019)
(39:31) Frage: «Wie erkenne ich, ob ich jetzt in Angst bin oder in Furcht?»
Bruder David: «Furcht sagt ‹Nein›, Furcht sagt immer ‹Nein›! ‒ ‹Nein, Nein, Nein, das will ich nicht›!
Angst sagt ein oft sehr zaghaftes ‹Ja›, aber doch ‹Ja ‒ es wird schon gehen ‒ es wird schon gehen› ‒ mindestens: Es ist ein Ausdruck des Vertrauens.
Den Unterschied fühlt man schon selber:
Sage ich jetzt mehr ‹Ja›, oder mehr ‹Nein› in diesem Augenblick?
Und wenn ich finde, dass ich mehr ‹Nein› als ‹Ja› sag, dann ist es Zeit zu sagen: ‹Erinnere dich doch! Du warst schon in so ähnlichen Situationen. Sträuben hilft nichts. Vertrauen bringt dich durch und kommt was Besseres heraus›.
Sich daran zu erinnern ist wichtig.
Hilft das ein bisschen?»
«Ja.» [Video Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019) und Mitschrift des Vortrages]
Jedes Mal, wenn wir ein einfaches «Danke» sagen und es meinen, üben wir jene innere Gebärde des Jasagens.
Und je häufiger wir das tun, um so leichter fällt es uns.
Je schwieriger es ist, ein dankbares «Ja» zu sagen, um so mehr lernen wir, wenn wir es dennoch tun.
Das wirft neues Licht auf das Leiden und andere schwierige Geschenke.
Im gewissen Sinne sind die schwierigen Geschenke die besten, denn an ihnen wachsen wir am meisten. [FN 1) 149; 2-5) 153; 6) 152f.]
[Ergänzend:
1. In Der Mönch in uns (1978) untersucht Bruder David, wie wir jedes Gipfelerlebnis ‒ jede mystische Erfahrung ‒ paradox wahrnehmen und ausdrücken:
«Ich habe mich verloren und zugleich gefunden»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Wenn ich am meisten bin, bin ich mit allem eins»: Mich-Verlieren ‒ Finden
«Um die Antwort zu finden, musst du die Frage aufgeben.»
Hinweis: Der Mönch in uns (1978) ist eine Übersetzung des amerikanischen Originaltextes aus dem Jahr 1974. Kapitel 3 «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 44-63, enthält den Originaltext in der Übersetzung von Bernardin Schellenberger; siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981)
2. Retreat-Woche in Assisi (1989):
Paradoxien und Meilensteine auf dem Weg vom Gottahnen zum Gottesbewusstsein bis zum Bekennen: ‚Ich glaube an Gott‘:(07:38) Wenn ich die Frage loslasse, bin ich endlich aufgeschlossen, die Antwort zu empfangen — Ja ist die Antwort auf jedes warum?
3. Audio-Fokus aus Audio-Vortrag 1989 – Retreat-Woche in Assisi «Die Antwort auf jedes Warum ist 'Ja' – im Wachbewusstsein.»
4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Audio und Mitschrift: Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen
Siehe auch die Mitschrift des Vortrags: Wie das Göttliche in uns wächst (2005), 03:
«In diesen Augenblicken sagen wir so etwas wie ein unkonditionelles
JA
zu allem, was ist, wie es ist.
Urteilsfrei — wir urteilen nicht, wir sagen einfach JA.
Wir schauen alles an, was wir sonst gut nennen, was wir sonst böse nennen.
Ich kann es alles anschauen —
es bleibt gut, es bleibt böse, aber wir können Ja dazu sagen, was ist.
Wir sagen JA zu dem, was ist.»]
Jesus
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir geschichtlich eines wissen über Jesus Christus, so ist es, dass er die tiefe Intimität mit Gott hatte, diese kindliche Intimität und Gott als Abba ansprach, einem Wort, das zu der Zeit nicht geläufig war und als ein bisschen zu intim angesehen wurde. Das spricht ganz klar aus, dass wir Jesus Christus zuerst und zutiefst als Mystiker verstehen müssen.
Unser heutiges Verständnis von Jesus Christus, aus unserer heutigen Perspektive heraus, setzt voraus, dass wir mit Jesus Christus als Mystiker anfangen. Und zwar Mystik im ganz einfachen Sinn verstanden als die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zu Gott.
Zumindest im biblischen Bereich können wir den Begriff Gott hier einführen, sonst müsste man sagen, im Allgemeinen sei Mystik die Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit zum Urgrund des Seins. Wir kennen die Mystik auch in Traditionen, die den Gottesbegriff nicht so ausdrücklich kennen, in nicht theistische Traditionen.
Jesus ist also zuerst, an wichtigster Stelle, Mystiker. Und da bleibt er nicht stehen. Er ist Mystiker, der diese Erfahrung grenzenloser Zugehörigkeit übersetzt in Sozialreform. Und das ist das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist eine Gesellschaftsordnung, die er ja nicht nur predigt, sondern auch lebt mit seinen Jüngern, mit den Ausgestoßenen, Verachteten und den «Sündern» ‒ alle sind hineinbezogen in diese Familie Gottes, wie man sagen könnte.
Und das ist die neue Gesellschaftsordnung aus der Zugehörigkeit heraus, eine Gemeinschaft aller ‒ aus der Vereinzelung heraus ein Daheimsein in Gottes Familie, aus der Entfremdung heraus eine Zugehörigkeit zum Erdhaushalt, wie man das nennen könnte.
Das ist Bekehrung: dieser Umschwung von der konventionellen Gesellschaft zur Gesellschaftsordnung, die dem Zugehören entspricht. Das ist die Bekehrung zum Reich Gottes. Darum geht die Botschaft Jesu Hand in Hand mit dem Ruf nach Bekehrung:[1]
Von der Ausbeutung Anderer bekehrte man sich zu diesem Haushalt Gottes, zu diesem «Oikos». Daher ist das Reich Gottes «ökumenisch» ‒ das Wort kommt von dem Wort «oikos», dem Haushalt, es ist «ökologisch», denn es beschränkt sich nicht nur auf die Menschen: die ganze Familie Gottes gehört zu diesem Erdhaushalt Gottes, und es hat sogar ganz entschiedene ökonomische Auswirkungen, denn auch das gehört zum Haushalt. Daher auch politische.[2]
Und da liegt schon ein weiterer, ganz besonders wichtiger Zusammenhang zwischen der Zeit Jesu und unserer Zeit, dass beide gekennzeichnet sind als Krisenzeiten, und dass sich alle die Krisen[3] unserer Zeit und auch seiner Zeit zurückführen lassen auf eine Krise, die wir Autoritätskrise nennen könnten.
Wir stehen in einer Krisenzeit, und wenn wir lang genug hinschauen, sehen wir, dass alle Schwierigkeiten, und also auch die Schwierigkeiten des multikulturellen Zusammenlebens und die Schwierigkeiten der Spannungen zwischen uns und unserer Erde, die Spannungen zwischen Männern und Frauen, die Spannungen, die sich in Kriegen auslösen, alle diese Spannungen letztlich auf Autoritätskrisen, auf die Autoritätskrise zurückzuführen sind.
Es fragt sich eben: Wo wird Autorität lokalisiert? Wo wird sie gesehen?
Und Jesus Christus weist hin auf die Autorität Gottes, nicht wie bisher außerhalb irgendwo, sondern in den Herzen seiner Hörer.
Das ist das Entscheidende: Gegen die Autorität der Unterdrückung und der Entmächtigung spricht er für die authentische Ermächtigung jedes einzelnen Menschen, denn wenn wir alle Söhne und Töchter Gottes sind, dann gehören wir alle der Familie Gottes an, dann leben wir, wie es schon auf der ersten Seite der Bibel heißt, mit Gottes eigenem Leben.
Das war schon immer in der jüdischen Tradition. Jesus war aber der erste, der das so hervorgeholt hat.
Er war daher nicht Prophet ‒ man liest das ja noch in den Evangelien, dass man anfänglich versucht hat, ihn einzuordnen und einer dieser Einordnungsversuche war, ihn Prophet zu nennen, «ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden» (Lk 7,16), aber es hat einfach nicht gepasst. Und zwar deshalb nicht, weil der Prophet typisch die Autorität Gottes hinter sich weiß. Der Prophet kommt und sagt: «So spricht Gott der Herr.» Der Prophet ist Sprachrohr Gottes. Und Jesus sagt nicht ein einziges Mal: «So spricht Gott der Herr» oder irgendetwas, was so ähnlich klingen könnte. Sondern ‒ was sagt er?
Er lehrt in Gleichnissen. Und das ist wieder einer der wenigen Punkte, die wir ganz sicher historisch über Jesus wissen, dass er in Gleichnissen lehrt. Und das heißt?
Sein typisches Gleichnis beginnt mit der Frage: «Wer von euch weiß das nicht schon?» ‒ «Wer von euch, der Saat sät oder Brot backt oder fischen geht oder Kinder hat oder Gäste empfängt, weiß das nicht schon?»
Und die Hörer sagen einstimmend: «Das weiß ja jeder.»
«Ah, wenn ihr es alle wisst, warum handelt ihr dann nicht darnach?»
So wirkt das Gleichnis: Wir schlucken diesen Fischhaken und schon hat er uns und zieht uns.
Die Voraussetzung für das typische Gleichnis Jesu ist: Dass wir alle in unserem Herzen ‒ und zwar alle Menschen: Ausgestoßene ‒ «Sünder» ‒, dass wir alle in unserem Herzen alles wissen, was notwendig ist von Gott:
Dass Gott zu uns in unserem eigenen Herzen spricht, dass wir, wie es Paulus ja noch vor dem Niederschreiben der Evangelien, wie wir sie jetzt haben, schon sagen wird:
«Wir haben den Geist Gottes empfangen, so dass wir die Tiefen Gottes ausloten können, dass wir Gott mit Gottes eigenem Selbstverständnis verstehen können» (1 Kor 2,10-12).[4]
Das entspricht vollkommen der Lehre Jesu.
Und das erklärt nun, warum einerseits seine Hörer ‒ und zwar besonders die einfachen Leute, die armen Leute, die Entmächtigten ‒ sagen: «D e r Mensch spricht mit Autorität» ‒ das steht schon ganz am Anfang des Markusevangeliums (Mk 1,21).
Und dann kommt gleich der Satz: «Nicht wie unsere Autoritäten.»
Und mit dieser ganz einfachen Feststellung ist schon der ganze Lebenslauf Jesu vorgezeichnet. Von dem Augenblick an wissen wir schon, er wird am Kreuz enden.
Wer spricht mit Autorität? Jeder, der die göttliche Autorität in unsern eigenen Herzen zum Mitschwingen bringt. Und das ermächtigt uns.
Und die autoritären Autoritäten ‒ Autoritäten haben gewöhnlich die Tendenz, autoritär zu werden ‒ sind nur daran interessiert, uns zu entmächtigen, denn sonst können sich die autoritären Autoritäten nicht in ihrer Position halten.
Wer aber wirklich Autorität hat und mit Autorität spricht, der kann es sich leisten, die andern zu ermächtigen.
Und so ermächtigt Jesus seine Hörer und sie können plötzlich stehen, wenn sie lahm waren und sehen, wenn sie blind waren. Wir kennen ähnliche Ereignisse aus unserer eigenen Zeit, wunderbar bleiben sie, aber es ist verständlich, dass sich dieses geistige «auf seinen eigenen Füßen stehen», auch physisch ausdrücken kann.
Und damit ist aber auch schon gesagt, dass sich sowohl die autoritären politischen Autoritäten wie die autoritären religiösen Autoritäten früher oder später zusammentun werden, um ihn wegzuräumen.
Und wir sehen das heute noch, dass wenn jemand in dem Geist Jesu lebt und lehrt, dass das immer wieder geschieht.
Wer die Entmächtigten und Entmündigten ermächtigt und ermündigt ‒ sei nun in Lateinamerika oder in Südafrika, oder sonst wo in der Welt ‒, der wird von den autoritären Autoritäten früher oder später ans Kreuz genagelt.
Und so geht es uns selber ja auch. Wenn wir aus diesem Geist Jesu leben und sprechen, werden wir ja auch gekreuzigt ‒ nicht so dramatisch ‒, aber halt am Konferenztisch oder im Familientreffen oder sonst irgendwo ganz privat. Aber man kann dem nicht entgehen.
Und so kann Jesus dem auch nicht entgehen, und zwar schon deshalb nicht, weil die Ermächtigten ‒ und das ist der entscheidende Punkt ‒, plötzlich sehen, dass sie damit eine Verantwortung übernehmen müssen.[5]
Im innersten Herzen wissen wir, dass Gottes Autorität in uns ist, nicht nur außer uns.
Die gerechte Autorität, die es immer geben muss, zeigt sich darin, dass sie andere ermächtigen kann, weil sie selber in Ordnung ist. Autorität, die in Ordnung ist, ist eine feste Grundlage für das Gemeinschaftsleben. Sie ist im Frieden, sie ist befriedet.
Aber Autorität, die sich nur in Machtposition halten kann, wenn sie andere unterdrückt: das ist autoritäre Autorität und das finden wir sehr häufig. Und die hinterfragt er. Darauf räumen ihn sowohl die politischen wie die religiösen Autoritäten schließlich aus dem Weg; hätten das aber nicht tun können, wenn alle die einfachen Leute, die armen Leute, die er da ermächtigt hat, hinter ihm gestanden wären.
Warum stehen sie nicht hinter ihm?
Und die Antwort ist ganz einfach und die ist auch angedeutet in den Evangelien an einer ganz entscheidenden Stelle:
«Von nun an gingen die Vielen ‒ diese Massen, die ihm zugelaufen sind, weil sie sich eben ermächtigt fühlten ‒, nicht mehr mit ihm» (Joh 6,66).
Warum gehen sie nicht mehr mit ihm?
Sie haben plötzlich erkannt, das mit dieser Autorität, die in uns verlegt wird, mit dieser Bürde, die uns auf unsern eigenen Füßen stehen lässt, auch Verantwortung kommt. Und die wollen wir nicht. Und das wissen wir alle selber: Wir wollen zwar Autorität, aber wir wollen nicht Verantwortung. Wir schieben die lieber ab. Wir wollen sie so wenig, dass wir sie lieber abschieben an diese religiösen Autoritäten und an die politischen Autoritäten, und uns dann beklagen: Ja, ja, die sind schuld, und nicht unsere Verantwortung selber auf uns nehmen.
Lieber geben wir die Autorität auf, als dass wir die Verantwortung übernehmen, die mit der Autorität geht.
Die Bekehrung, die Umkehr, der Eintritt in diesen Gotteshaushalt würde voraussetzen, dass wir die Autorität als Kinder Gottes auf uns nehmen mit der Verantwortung, die damit kommt.
Darum sagt Jesus auch an einer andern ganz entscheidenden Stelle über Autorität:
«Die Autoritäten in der Welt ‒ in der weltlichen Welt, die wir geschaffen haben ‒, die drücken die Andern nieder, die beuten die Andern aus: Mit euch soll es anders sein, der Größte unter euch soll der Diener aller sein» (Mt 20,25f.).
Autorität soll nur dazu verwendet werden, die Andern auf ihre Füße zu stellen, die Andern zu ermächtigen, zu ermündigen. Und darum wäscht er ihnen auch zu der Stunde die Füße, macht sich zum Diener aller ‒ es ist kein Zufall, dass er ihnen die Füße wäscht: «Ihr könnt auf euren eigenen Füßen stehen.»[6]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 5f.)
[Ergänzend:
2. Credo: ‹gekreuzigt› (2015), 111f.:
«Nichts ist revolutionärer als die Vorrangstellung, die Jesus in seinen Gleichnissen dem gesunden Menschenverstand einräumt. Dieser stellt geradezu den Gegenpol dar zum konventionellen Denken.
Durch ihn spricht ja der Heilige Geist im Menschenherzen.
Jesus beruft sich also nicht darauf, sozusagen Sprachrohr der göttlichen Autorität zu sein; darin unterscheidet er sich von den Propheten vor ihm.
Er maßt sich auch nicht selber höchste Autorität an, sondern ‒ und das ist etwas völlig Neues in der Religionsgeschichte ‒ er appelliert an die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer:
Gott spricht zu uns durch unseren gesunden Menschenverstand ‒ das ist es, was jedes Gleichnis voraussetzt, und es ist zentral für das Gottesverständnis Jesu.
Dadurch löste seine Lehre eine gewaltige Autoritätskrise aus, deren Erschütterungen wir bis heute fühlen.
Jesus ermächtigte seine Zuhörer, für sich selber zu denken.
Das hat ungeheure politische Konsequenzen. Es war damals, und ist heute noch, bedrohlich für alle autoritären Strukturen; Jesus wird daher ‒ vom Standpunkt der Machthaber aus mit Recht ‒ als subversiv gebrandmarkt und gekreuzigt.
Von den einfachen Menschen aber, die Jesu zuhörten heißt es:
‹Sie waren außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Vollmacht hat.›
Und dann fügten sie vergleichend hinzu, ‹nicht wie die Schriftgelehrten› (Mk 1,22 / Mt 7,28f.).
Mit diesem Vergleich ist sein Schicksal besiegelt. Die Schriftgelehrten werden ihm das nie verzeihen. Sie machten ihre Zuhörer klein; Jesus hob sie über sich selbst hinaus.
Dadurch war der verhängnisvolle Ausgang seiner Karriere praktisch unausweichlich. Gegen alle autoritären Machtansprüche einzutreten, hat nicht nur religiöse, sondern auch politische Konsequenzen. Das wissen wir. Die letzte Konsequenz für Jesus war seine Kreuzigung.»
3. Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis (2005): Die Gotteserfahrung Jesu und sein Heilen, 77-80:
«Wir wissen nicht so viel über Jesus, wie manchmal behauptet wurde, aber doch mehr als manchmal zugegeben wird. Ich beschränke mich hier auf vier Tatsachen, die heute kein Wissenschaftler bestreitet, der sich mit Jesus als geschichtlicher Gestalt befasst. Er war Heiler, er nannte Gott ‹Abba›, er verkündete eine neue Gesellschaftsordnung, die er ‹Reich Gottes› nannte, und er lehrte in Gleichnissen. Diese nackten geschichtlichen Tatsachen, die allen Interpretationen vorausgehen, genügen um zu zeigen, dass Jesu Heilungen untrennbar damit verbunden sind, dass er aus mystischer Sicht seine Gesellschaft reformierte und die von ihm ererbte Religion umgestaltete. Sein Gottesbild entsprang seiner mystischen Erfahrung, floss über in seine Vision einer heilen Gesellschaft und erreichte deren einzelne Mitglieder mit psychischer und physischer Heilkraft.
Vor Jesus war ‹Abba› als Anrede Gottes selten. Es drückt sich darin eine Vertrautheit zu Gott aus, die unserem deutschen Wort ‹Vater› fehlt. ‹Papa› kommt da schon näher. Eigentlich umfasst ‹Abba› den vollen Gefühlsgehalt, der für uns heute anklingt, wenn wir von ‹Mütterlichkeit› sprechen.
Dies stand im Gegensatz zu der im Alten Testament vorherrschenden Vorstellung von Gott als kosmischem Monarchen, die in der religiösen Haltung von Jesu Zeitgenossen, den Pharisäern, Ausdruck fand. Sie stellten sich Gott als von uns durch Heiligkeit getrennt vor. Daher ihre Bemühung, sich zu heiligen, indem sie sich von allen trennten, die als ‹unrein› galten. ‹Heiligkeit durch Reinheit› war ihr Ziel.
Jesus dagegen steht in einer mystischen Tradition des Alten Testamentes, in welcher die Nähe Gottes das Gottesbild bestimmt. Verbundenheit durch Mitgefühl und Barmherzigkeit, nicht Reinheit durch Trennung ist hier Ziel des spirituellen Weges.
Die Bemühung der Pharisäer um Reinheit führte zu gesellschaftlicher Spaltung. Nur die Wohlhabenden konnten es sich leisten, die peinlich genauen Reinheitsvorschriften zu befolgen. Die ungewaschene Menge der Armen war ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Reinen, Gottgefälligen.
Jesus ersetzte diese Gesellschaftsordnung der Exklusivität durch eine solche allumfassende Barmherzigkeit. Das fand Ausdruck in seinem schockierenden Umgang mit ‹schlechter Gesellschaft›. Er setzte sich mit allen an den Tisch, auch mit Unreinen und Ausgestoßenen.
Das ‹Reich Gottes› war in den Augen Jesu eine von allen Ausgrenzungen geheilte Gesellschaft: rein und unrein, arm und reich, ‹Gerechte› und ‹Sünder› ‒ alle sind sie von Gottes bedingungsloser Liebe umarmt. Und nicht nur Menschen: die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes ‒ die ganze Natur ist in dieser neuen Ordnung eingeschlossen.
Das ganze Universum ist die Gottes-Familie, in der jeder Zuhause ist, weil alle Gottes Kinder sind. Von solchem Zugehörigkeitsbewusstsein fließt eine heilende Kraft aus. Daher auch die enge Verbindung zwischen Heilung und Sündenvergebung.
Sein Gottesbild, das auf mystischer Erfahrung gründet, erlaubt Jesus, den Ausgestoßenen zu verkünden, dass Gottes Barmherzigkeit ihre ‹Sünden› vergeben hat, obwohl religiöse Autoritäten sie ihnen vorwerfen.
Es sollte uns nicht erstaunen, dass Vertrauen in diese neue Weltsicht Blinde sehend machte, und dass der Glaube an diese Frohbotschaft Taube wieder hören ließ. Noch öfter berichten die Evangelien, dass Jesus Lahme heilte; sie konnten wieder auf ihren eigenen Füssen stehen und das entsprang einem ganz neuen Selbstbewusstsein. Die Gleichnisse Jesu sind Grundlage eines vorher nie da gewesenen menschlichen Selbstbewusstseins durch Verinnerlichung göttlicher Autorität.
Das typische Gleichnis Jesu beginnt mit einer Frage, die sich an den gesunden Menschenverstand richtet. Wer von euch weiß nicht, wie selbst ein widerspenstiges Kind den Eltern am Herzen liegt? Wer von euch weiß nicht, wie wichtig und teuer ein Ding wird, im Augenblick wo wir es verlieren? Wer von euch weiß nicht, dass man beim Unkrautjäten leicht auch den Weizen ausreißen könnte.
Indem Jesus so den gesunden Menschenverstand seiner Hörer herausfordert, bringt er sie dazu, diesen auch auf ihre Weltsicht, ja auf ihr Gottesbild anzuwenden.
Was dahinter steht ist verblüffend: Jesus beruft sich auf die Stimme der göttlichen Autorität, nicht in heiligen Texten und Lehren, sondern in den Herzen seiner Hörer.
Er stellt sie sozusagen auf ihre eigenen Füße. Nichts können verunsicherte Obrigkeiten weniger dulden als das; und das gilt für religiöse sowohl wie für politische Autoritäten. Damit ist das Schicksal Jesu besiegelt: er muss eliminiert werden. Obrigkeiten sind zu jeder Zeit an dem Bild Gottes als kosmischem Monarchen interessiert. Dieses stellt ja die Spitze einer Machtpyramide dar, in der sie sich um die nächsthöhere Position streiten.
Jesus ersetzt diese vertikale Machtstruktur durch horizontale Vernetzung.
‹Die weltlichen Könige herrschen, und die Gewaltigen heißt man gnädige Herren. Ihr aber nicht also! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener› (Mt 20,25f. / Lk 22,25f.).
Das verlangt ein völliges Umdenken, nicht nur politisch, sondern auch theologisch: der Gott hierarchischer Ferne wird von Jesus als Gott mystischen Nahseins erlebt und verstanden ‒ als Vater, mit dem er als Sohn im heiligen Geist liebender Lebendigkeit verbunden ist.
Die Heilung, die jene erfahren, die Jesus folgen, hat ihre Wurzeln in der Gemeinschaft mit Gott im eigenen Herzen.
Wer sich darauf einlassen will, kann jederzeit selber erfahren, dass uns die göttliche Wirklichkeit ‒ das alles übersteigende Mehr ‒ auf dreifache Weise bewusst wird: als der unauslotbare Seinsgrund, aus dem wir kommen und auf den wir bezogen bleiben; als das abgründige Geheimnis, das wir uns selber sind; und als das Leben, die Liebe, und das Verstehen, die uns durchpulsen und doch unendlich über uns hinausgehen.
Erst später projizierten die Theologen diese persönliche Erfahrung von dem Gott, in dem wir ‹leben, weben und sind› (Apg. 17,28) ‒ auf einen ganz andersartigen, von uns getrennten, theistischen Gott im Jenseits.
Hier stoßen wir auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Gottesvorstellung, die auf Jesus zurückgeht, und ihrer theistischen Uminterpretation.[7]
Der Schritt vorwärts auf ein lebensförderndes Gottesverständnis hin verlangt von Christen heute eine Rückbesinnung auf das Gottesverständnis Jesu.»
4. Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): «Wo stehen wir?»:
«Und wenn wir uns dieser Botschaft unvoreingenommen öffnen, so werden wir finden, dass Jesus von Nazareth kein Religionsstifter war, sondern dass in ihm ein menschheitsgeschichtlicher Durchbruch stattgefunden hat: In ihm finden wir menschlichen Universalismus erstmals umfassend verwirklicht.
Dieses wird allerdings nur verständlich, wenn wir Jesus von Nazareth als Mystiker sehen. Nur als Mystiker können wir ihn verstehen. Und der Grund dafür liegt darin, dass wir selber Mystiker sind.
Auch wir kennen eben jenes mystische Erleben des Aufgehobenseins in der Gegenwart, aus der heraus Jesus ausdrücklich spricht ‒ jenes mystische Aufgehobensein, das sich bei ihm ausdrückt als tiefste Intimität mit Gott.
Aus diesem Erleben heraus spricht Jesus Gott als ‹Abba› an, und aus ihm heraus versteht er sich als Gotteskind. Und auch wir erfahren ja dieses Gotteskind in uns, auch wir fühlen uns in diesen besten Augenblicken als Kind dessen, der uns ent-gegenwartet. Wir fühlen uns aufgehoben, wie man bei einer Mutter aufgehoben ist ‒ und tatsächlich schwingt ja in ‹Abba› sehr viel Mütterliches mit im Gegensatz zu unserem Wort ‹Vater›.
Aus diesem auch uns bekannten mystischen Erleben heraus also spricht Jesus, und was er sagt, begreifen wir dann erst richtig, wenn uns klar wird, auf welche Autorität sich Jesus beruft.
Wir scheinen uns diese Frage noch nicht so genau überlegt zu haben. Wen immer wir fragen, auch unter gebildeten Christen, wird sagen, Jesus spricht mit der Autorität Gottes, die sozusagen hinter ihm steht. Tatsächlich aber erlaubt kein einziger Satz in den Evangelien, das so zu sehen. Jesus beruft sich vielmehr auf die Autorität Gottes in den Herzen seiner Hörer. Schauen Sie sich doch die Evangelien ‒ vor allem die synoptischen ‒ einmal genau daraufhin an. Sie werden feststellen, dass Jesus sich immer wieder auf die Autorität Gottes in den Hörern beruft. Und die typische Form, in der dies geschieht, ist die Gleichnisrede.
Sogar auf die ausdrückliche Frage ‹Mit welcher Vollmacht tust du dies? Wer hat dir diese Autorität gegeben›? (Mt 21,23-27) antwortet Jesus nicht, mit der göttlichen Autorität in mir, sondern auch hier richtet er sich an den Geist Gottes in den Herzen derer, die ihn fragen, indem er zurückfragt: mit welcher Autorität hat Johannes der Täufer gesprochen und gehandelt, mit göttlicher oder menschlicher Autorität? Und es heißt, da getrauten sie sich nicht, ihm zu antworten. Denn sie dachten sich, wenn wir sagen, mit göttlicher, dann sind wir überführt; wenn nämlich Johannes mit göttlicher Vollmacht sprach, warum dann nicht er? Wenn wir aber sagen, mit rein menschlicher Autorität, dann fallen die einfachen Leute über uns her:
Die einfachen Leute, das sind die, die viel unkomplizierter nach dem Hausverstand leben, weil sie nicht so viel zu verlieren haben. Als Professor an einer Universität hat man viel zu verlieren, dann lebt man lieber nach den Spielregeln der Universität. Und als Angehöriger einer Korporation lebt man nach den Spielregeln der Korporation. Auf diese Weise stecken wir alle in irgendeiner Gemeinschaft mit eigenen Spielregeln und lassen uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen und nach der Wahrheit zu leben.
So lassen wir uns alle tyrannisieren von gesellschaftlichen Zwängen und davon abhalten, wirklich lebendig zu werden.
Es fällt uns offensichtlich nicht schwer, unter solchen Zwängen zu leben.
Nichts fällt uns schwerer, als auf eigenen Füßen zu stehen. Wir wollen keine Verantwortung tragen. Wir beruhigen uns, in dem wir sagen: wir tun ja nur, was jeder tut. ‒ Ist es aber deshalb richtig? Sehen Sie, hier liegt die wirkliche Krise, und die Herausforderung des Christentums.
Und das führt uns nur zu dem frühzeitigen und furchtbaren Ende der Geschichte Jesu: Jeder, der das Kind in sich, das göttliche Kind, sprechen lässt, kommt unausweichlich mit den Autoritäten um uns in Konflikt.
Wir leben in einer Welt autoritärer Macht, die alles unterdrückt. Die wahre Autorität des Geistes unterdrückt nie, sie b a u t auf.
Dieser Vollmacht aber steht eben die Autoritätsordnung unserer Welt gegenüber, von der sich sogar die Apostel nicht so ganz freizumachen vermochten. So wehrt sich beispielsweise Petrus (Joh 13,8): ‹Nie sollst Du mir die Füße waschen›! Damit meint er doch, dass es eine Ordnung gibt in der Welt, ein Oben und Unten, und dass danach Jesus ‹über ihm steht›. Aber dahinter steht wohl ein bisschen die Haltung: früher oder später werde ja ich oben stehen, und dann will ich eben auch nicht anderen die Füße waschen müssen.
Mit anderen Worten: Jesus bringt uns in eine t o t a l e A u t o r i t ä t s k r i s e , die wir bis heute, 2000 Jahre später, noch nicht bewältigt haben. Er sagt uns: In der Welt, da lassen sich die Mächtigen gnädige Herren nennen und unterdrücken alle. ‹Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Sklave sein› (Mt 20,25f.).
Nicht dass wir nicht gern einander dienen würden; aber so zu sprechen und handeln, wie es der Geist eingibt, das führt eben unweigerlich zum Konflikt mit den führenden religiösen und politischen Mächten, die, sofern sie autoritär sind, alles unterdrücken wollen.»
Und so kam es ja dann auch zu jener eigenartigen Mischung von religiöser und politscher Todesstrafe. Jesus wurde von den religiösen Autoritäten den politischen Machthabern ausgehändigt; das Kreuz war eindeutig eine Strafe für politische Verbrecher. Das Wirken des Geistes hat eben unausweichlich auch politische Implikationen. Er ist allumfassend.
Doch das Kreuz darf ja nicht isoliert gesehen werden. Es ist unlöslich verknüpft mit der Auferstehung, mit Ostern, mit Leben. Und Pfingsten bedeutet den Durchbruch dieses Lebens.
Ja, er ist gestorben; er wurde aufgehoben, ausgelöscht.
Aber zugleich wurde er hinaufgehoben – Himmelfahrt ist der symbolische Ausdruck für diese Aufhebung.
Und zugleich ist er auch aufgehoben in seinem ureigensten Sein – so aufgehoben, dass dieses Sein niemals wieder verloren gehen kann. – Und aus diesem Geist leben nun die Gläubigen, das heißt diejenigen, die sich vertrauend auf dieses Geschehen verlassen. ‹Sich darauf verlassen› – wie wunderschön – und w o r a u f verlassen sie sich? Auf den Geist, der uns alle gemeinsam erfüllt, auf diesen Geist-Atem, über den wir, wie wir sahen, mit allem verbunden sind.»
5. Weitere Audios
5.1. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004):
(04:22) Die Evangelien sind Bekenntnis zu Jesus, aber sie haben einen ganz wesentlichen geschichtlichen Kern und dieser bescheidene, aber äußerst schwerwiegende Kern ist völlig ausreichend für unser Verständnis für das ungeheure Gewicht seiner Persönlichkeit:
(05:50) Jesus ist Mystiker und hat Gott mit dem Kosenamen Abba, Vater angesprochen.
(12:41) Jesus spricht vom Reich Gottes
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen
Themen des Vortrags mit Link zu weiterführenden Texten und Audios von Bruder David:
(25:11) ‹Dieses Gottesbild, das jedem Menschen zugänglich ist, ist nicht theistisch›
(28:40) ‹So wurde es uns dargestellt›
(42:04) ‹Jesus war ja nicht göttlich, trotzdem er Mensch war ‒ er war göttlich, weil er Mensch war›
5.2. TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen; siehe auch Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 1.1.
Vortrag:
(29:00) Wie Jesus auf die Frage der Hohenpriester und Ältesten antwortet auf ihre Frage: ‹Mit welcher Vollmacht tust du das›? (Mt 21, 23-27) – Viele wandten sich von ihm ab (Joh 6,66)
5.3. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
Highlights aus dem Gespräch von 4.1 mit Lama Sogyal Rinpoche in 9 Themen zusammengestellt:
Wie Jesus die Auffassung von Autorität revolutioniert
5.4. Aufwachsen in Widersprüchen (1989)
Dialog mit David Steindl-Rast
Teil 3:
(29:09) Wie Jesus uns ermächtigt ‒ er traut uns etwas zu: ‹Du kannst das doch›! ‒ einander etwas zutrauen
5.5. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn:
(12:11) ‹Abba›: Wie Jesus seinen himmlischen Vater anspricht im Unterschied zum Begriff Gott Vater in der Religionsgeschichte
(15:00) Jesus als Mystiker verstehen
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(00:00) Die Kernaussage: ‹Jesus Christus ist Kyrios› zielt für uns heute auf den entscheidenden Punkt im Autoritätsanspruch Jesu: Er verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer.
(10:23) Mit Jesus bricht durch,[8] was in Israel angelegt war: Wir sind lebendig mit Gottes eigenem Lebensatem. Jesus ist nicht in erster Linie Verkünder, sondern erinnert uns, dass wir in unserem eigenen Herzen mit dem innersten Gesetz unseres Lebens, in eins mit dem Baugesetz ‒ dem Hologramm ‒ des Kosmos, vertraut sind.]
_____________________
[1] Reich Gottes ‒ erlösende Kraft: Ergänzend: 2.2.:
«Das Neue, das mit Jesus anbricht, fasst Markus (1,15) ganz klar zusammen: ‹Die Zeit ist erfüllt› (jetzt), ‹Das Reich Gottes ist herbeigekommen› (hier). Ihr seid also erlöst. ‹Tut Buße und glaubt die Botschaft›
Nun hängt alles daran, was wir darunter verstehen: ‹Tut Buße›! ‒ Es gibt eine weltliche Auffassung von Buße, und es gibt eine christliche Auffassung.
Buße tun heißt umdenken. Dass wir das mit ‹Buße tun› übersetzen, ist etwas gefährlich, etwas zu weltlich. Die weltliche Auffassung von Buße ist alt: Wir haben etwas falsch gemacht, und wir müssen es jetzt so schnell wie möglich gutmachen. Das Beste, was dabei herausschauen kann, ist Flickwerk, und auch das gelingt uns selten, wie wir wissen.
Das Neue ist: Gott hat es getan! Es ist bereits geschehen. Wir sind erlöst. Wir müssen nur umdenken, neu denken. Es heißt nicht: Tut zuerst Buße, und glaubt danach! Sondern: Tut Buße, indem ihr umdenkt und glaubt, was zu gut scheint, um wahr zu sein.»
[2] Ausführlich in Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011 und im Buch Erkenntnis (2023)
[3] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 1996-2006, 164:
«Wenn wir aus dem Bewusstsein der Fülle leben, was viel realistischer ist als die Vorstellung von Mangel, dann stehen wir auch ganz anders zu einer Krise. Dann ist die Krise nicht das Ende von allem.
‹Krise› stammt von der selben Sprachwurzel wie das Wort ‹Sieb›. Krise bedeutet ein Aussieben. In jeder Krise scheidet sich das, was lebensfähig ist, vom dem, was nicht mehr überlebensfähig ist. Das ist ein ähnlicher Prozess wie in der Natur: wenn sie die ausgetrockneten Hüllen abstreift, damit die jungen Blätter sich frei entfalten können.»
[4] Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes; Sinn ‒ dreifaltiges Mysterium: Anm. 9; Dreifaltigkeit: Ergänzend: 1.6.;
TAO der Hoffnung (1994): Diskussion nach dem Vortrag:
(08:23) Den dreifaltigen Gott von innen her verstehen (1 Kor 2,10-12)
[5] Audio Löwe Lamm und Kind (1992): Vortrag, transkribiert (25:21-36:05)
[6] Audio TAO der Hoffnung (1994)
Den Frieden hinterfragen ‒
Vortrag bei der Stiftung Gewaltfreies Leben, transkribiert (30:59-34:25); siehe auch Reich Gottes ‒ die Vision leben: Ergänzend: 7.
[7] Siehe auch Gott: Ergänzend: 3.1., Auszug aus: Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003)
[8] Reich Gottes - erlösende Kraft: Ergänzend: 1.2.:
(48:20) ‹Und das war nichts Neues, das war nur ein Durchbruch des Ältesten, so wie immer das Neuste der Durchbruch des Ältesten ist, auch heute›, denn schon in der ersten Seite der Bibel, im Schöpfungsmythos steht, dass wir Menschen ‒ Adam, der Mensch ‒ wir alle ‒ lebendig sind mit Gottes eigenem Lebensatem: Wir leben mit Gottes eigenem Leben.›
Jesus-Gebet
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Meine Methode ist das Jesus-Gebet, das ursprünglich östlich war, in der westlichen Christenheit aber auch weit verbreitet ist.
Ich benutze selbstgemachte Perlenschnüre, die ich an meinem Finger als Ring trage. Sie haben zehn Perlen, so dass ich sie als Rosenkranz benutzen kann. Diese Perlen zu bewegen, setzt einen psychomotorischen Kreislauf in Gang. Es braucht einige Übung, aber immer, wenn man die Perlen bewegt, lässt das dieses Gebet auf einer unterbewussten Ebene ablaufen. Während ich mit jemandem rede oder andere Dinge tue, löst die Bewegung der Perlen etwas in mir aus, das dieses Gebet durch mein Herz flammen lässt. Es gibt bekanntlich mehrere unterschiedliche Arten des Jesus-Gebets, längere und kürzere Formen. Ich benutze nur die kurze Form: «Herr Jesus, Erbarmen; Herr Jesus, Erbarmen.» Ich finde die anderen zu lang; ich werde abgelenkt. Außerdem passt «Herr Jesus, Erbarmen; Herr Jesus, Erbarmen» besser zu meiner Atmung. Abgesehen davon finde ich, dass in unserer Tradition viel Betonung auf Sünden liegt, und die längere Form «Hab Erbarmen mit mir Sünder verstärkt diese Betonung noch. Wir sind sicherlich Sünder. Nicht einmal so sehr persönlich, aber wir leben in einer Welt der Entfremdung, der Sünde; egal wie viel guten Willen man hat, man kann nicht verhindern, dass man allein durch die Tatsache, dass man selbst in der Ersten Welt lebt, verursacht, dass in der Dritten Welt Millionen Menschen ausgebeutet werden. Das ist Sünde, viel mehr als unsere kleinen Kavaliersdelikte. Ich bin mir dieser Sündhaftigkeit durchaus bewusst. Aber ich glaube nicht, dass es notwendig ist, mit jedem Atemzug darauf herumzureiten. Ich preise Gott lieber für seine Vergebung und die Überwindung der Sünde. Wenn ich sage «Herr Jesus, Erbarmen», kann das ein Ruf nach Erbarmen sein oder auch ein Dank für erwiesenes Erbarmen. Es ist ein Gebet des Lobes und der Danksagung.
[ST 71f., Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
Das Jesus-Gebet ‒ Herzens-Gebet, wie es auch heißt ‒ besteht im Wesentlichen in der mantrischen Wiederholung des Namens Jesu im Rhythmus des eigenen Atems und Herzschlags. Wenn ich den Namen Jesu in einem gegebenen Augenblick vor mich hin spreche, so mache ich diesen Augenblick transparent für das Jetzt, das nicht vorübergeht.
Was die Bibel «vom Worte Gottes leben» nennt, ist zusammengefasst im Namen Jesu, in dem ich als Christ das fleischgewordene Wort anbete. Wenn ich jedem Ding und jedem Menschen, den ich treffe, diesen Namen gebe, wenn ich ihn mir in jeder Lage vergegenwärtige, dann erinnere ich mich daran, dass all dies nur Erscheinungsformen der unerschöpflichen Fülle des einen ewigen Wortes Gottes, des Logos, sind. Ich erinnere mein Herz daran, hinzuhorchen, hellhörig zu werden.
Dieses Bild, könnte irreführen, als ob zwischen Gott, der spricht, und dem gehorsamen Herzen eine dualistische Spaltung bestehe. Die dualistische Spaltung, auf die wir hier stoßen, ist aber im Geheimnis der Dreifaltigkeit aufgehoben, im Vollsinn dieses Wortes. lm Lichte dieses Mysteriums verstehe ich mich zugleich als Wort aus dem Herzen des Schöpfers und als vom Schöpfer im Herzen angesprochen.
Aber die Verbundenheit geht noch tiefer. Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.[1]
Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben ausmacht, ist also keine dualistische Angelegenheit, sondern vielmehr Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille.
Mein Herz, wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit. [ST 72f., Quelle: AH 1-2) 19f.; 3-5) 19f.]
[Ergänzend:
______________________
[1] Siehe auch Sinn - dreifaltiges Mysterium, Anm. 9
Jesus, der Christus
Video, Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 13:35) «Die Lage von der Treppe stimmt vollkommen … Und da hab ich geträumt ‒ da war ich noch ziemlich klein, ich muss sechs oder so gewesen sein ‒, hab ich geträumt, dass ich die Treppe heruntergekommen bin und Jesus, wie ich ihn halt von Bildern gekannt habe, Jesus ist heraufgekommen über die Treppe und wir sind so verschmolzen, wir sind nicht aneinander vorbeigegangen, sondern ineinander hineingegangen, sozusagen.
Dieses Erlebnis hat mich begleitet, mein Christusverständnis auch geformt. Geschichtlich sind sowohl Gautama wie Jesus geschichtliche Personen, die man auch geschichtlich fassen und behandeln kann. Buddha ist Gautama als der Erleuchtete und Christus ist Jesus als der Auferstandene: die beiden kann man auch wieder auf dieser Ebene vergleichen von Ich und Selbst und dieses Selbst ist, was wir Christen die Christuswirklichkeit in uns nennen und was die Buddhisten die Buddha-Natur nennen. Das ist dieses große Selbst, das ist ein und dieselbe Wirklichkeit.»[1]
Ganz früh schon sagten Christen: «Hast du deine Schwester, deinen Bruder gesehen, dann hast du Gott gesehen.»[2]
Die Menschen, auf die das Credo letztlich zurückgeht, waren überrascht, wie leicht es war Gott zu sehen, wenn man Jesus in die Augen schaute, Gott zu hören, wenn Jesus sprach. Begeistert legten sie in Wort und Tat Zeugnis dafür ab, und bis heute begegnen Christen Gott in und durch Jesus Christus. Dabei darf sich jedoch keine Ausschließlichkeit einschleichen. Wir können Gott jederzeit, irgendwo und in irgendeiner Form begegnen; das wird hier vorausgesetzt.
Für uns Christen ist Jesus Christus der zentrale Begegnungspunkt mit der göttlichen Wirklichkeit; das gibt unserem Gottesglauben eben seine spezifisch christliche Färbung und macht uns zu Christen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass wir nicht nur von Jesus sprechen, oder von Christus, sondern von Jesus Christus.
Die Benennung Jesus Christus hält zwei Pole in schöpferischer Spannung miteinander verbunden: Jesus, eine geschichtliche Persönlichkeit, und Christus, die gottmenschliche Wirklichkeit (in jedem Menschen, also auch in uns selbst, die in Jesus einzigartig aufleuchtet).
Wir dürfen diese Spannung nicht aufheben. Wenn ich den einen Pol ‒ Jesus ‒ auf Kosten des Christus-in-mir betone, so verliert Jesus seine einzigartige Bedeutung für mich persönlich; er kann mir zwar ein bewundernswerter Lehrer sein, aber ich erkenne in ihm nicht die geschichtliche Verwirklichung meiner eigenen gottmenschlichen Möglichkeit.
Wenn ich aber den anderen Pol so ausschließlich betone, dass ich den Christus-in-mir nicht in Jesus von Nazareth verwirklicht sehe, dann ist meine innere Christuswirklichkeit ihres objektiven geschichtlichen Bezugspunktes und Maßstabes beraubt und ich kann sie allzu leicht subjektiv verzerren.
Beide Pole verlangen unsere beständige Aufmerksamkeit. Ich muss mich bemühen immer klarer zu sehen, worauf ich mich einlasse, wenn ich Jesus nachfolge. Zugleich muss ich immer bewusster aus meiner innersten Mitte leben und so Christus in mir verwirklichen. Dieser doppelten Aufgabe muss ich mich stellen, um dem gerecht zu werden, was die Worte «Ich glaube an Jesus Christus» im Credo für den Gottesglauben bedeuten.
Was wir von Jesus wissen, das haben wir von anderen erfahren; was Christus heißt, das kennen wir aus eigener Erfahrung, auch wenn wir nie von Jesus hören. Von dieser inneren Christuswirklichkeit soll hier zuerst die Rede sein.
«Verliebte sind blind», heißt es; sie sind aber zugleich auch besonders hellsichtig. Wenn wir jemanden aus ganzem Herzen lieben, dann kann es vorkommen, dass wir plötzlich erfahren, wie uns in einem anderen Menschen Gott begegnet.
Das ist weit entfernt von vernarrter Vergötterung. Worum es geht, ist vielmehr ein gegenseitiges Anschauen Liebender: so innig und so tief, dass der Blick bis zum göttlichen Wesensgrund des Anderen durchdringt.
Eine solche Erfahrung kann zur Einsicht führen, dass, was wir Gott nennen, nicht nur alle unsere Horizonte überschreitet, sondern uns zugleich «zuinnerst näher ist als wir uns selber sind» («Intimior intimis meis», sagt Augustinus).[3]
Im Bild der Bibel heißt das, dass wir «als Gottes Ebenbild» geschaffen sind. Unsere Gottesähnlichkeit wird umso strahlender leuchten, je mehr wir unser ureigenstes Selbst ‒ Christus-in-uns ‒ verwirklichen. In diesem Sinne muss man nicht Christ sein, um Christus zu kennen. Einfach als Menschen sind wir mit Christus in dem Ausmaß vertraut, in dem wir uns selber kennen, sind ihm in dem Ausmaß verbunden, in dem wir unserer innersten Wirklichkeit getreu leben. Indem du dich selber kennst, kennst du Christus; indem du dich selber verwirklichst, wirkt Christus in dir; indem du dein wahres Selbst findest, findest du Christus.
Je mehr wir unser wahres Selbst kennenlernen, umso klarer erkennen wir Christus in uns. Was Jesus für uns bedeutet und welchen Zusammenhang wir zwischen Jesus und Christus finden können, das ist eine andere Frage. Die Antwort wird von äußeren Umständen abhängen, von unserer kulturellen Einbettung, unserer religiösen Erziehung (oder deren Mangel), sogar von unserer Geschichtskenntnis. Ein christliches Kind mag aufwachsen, ohne je klar zwischen Gott und Jesus zu unterscheiden; ein jüdisches Kind mag entdecken, dass Jesus auch nur zu erwähnen, tabu ist. Wenn wir Glück haben, begegnen wir überzeugten Christen, die ihren Glauben leben und Liebe ausstrahlen. Es kann uns aber auch zustoßen, dass wir es mit widerwärtigen Menschen zu tun haben, die als öffentliche Vertreter Jesu gelten. Es macht wohl auch einen Unterschied aus, ob meine Kultur im Namen Jesu von Missionaren (trotz bester Absicht) zerstört wurde, oder ob höchste Gipfel meiner Kultur ‒ etwa der «Christus» Rembrandts, das Rote Kreuz, oder Beethovens «Missa Solemnis» ‒ vom Namen Jesu untrennbar sind. Vielen Menschen wird Unvoreingenommenheit gegenüber Jesus ehrliche Bemühung kosten ‒ ob es sich dabei um negative Vorurteile handelt oder um positive. Jedenfalls verdient eine Persönlichkeit, die in der Geschichte soviel Widerspruch erregt hat, unsere Aufmerksamkeit und ehrliche Auseinandersetzung: Es geht letztlich um die Entscheidung zwischen der Liebe zur Macht und der Macht der Liebe.
Dreierlei muss zusammenkommen, bevor wir sagen können, dass wir an Gott und an Jesus Christus glauben:
Wir müssen unser wahres Selbst, die Christuswirklichkeit in uns, wenigstens keimhaft erfühlen.
Wir müssen die geschichtliche Gestalt Jesu und die gewaltfreie Revolution, für die er sein Leben gab, genügend kennenlernen.
Und wir müssen diese beiden verbinden, indem wir uns mit Überzeugung hinter sein Programm sozialer Veränderung ‒ «das Reich Gottes» ‒ stellen und so zugleich unser göttliches Selbst (Christus-in-uns) verwirklichen.
Manche, die sich Christen nennen, erfüllen leider diese drei Bedingungen nicht. Wenn wir sie erfüllen, dann sehen wir in Jesus Christus unsere eigene gottmenschliche Selbstverwirklichung vorgebildet.
Der Glaube an Jesus (als) Christus schließt ein, dass wir in Jesus unser eigenes gott-menschliches Selbst erkennen, das Selbst, das als Gottes «Ebenbild» geschaffen ist und Gottes eigenen Lebensatem atmet.[4]
Diese Bilder verwendet die Bibel, wo die Rede ist von der Erschaffung Adams, dem Urbild jedes Menschen. Wer an Jesus Christus glaubt, setzt sein gläubiges Vertrauen darauf, dass Gottes liebende Gegenwart in uns Wirklichkeit werden will, und durch uns in der Welt. Sich dazu zu bekennen ist schon der erste Schritt zu der neuen Weltordnung, die Jesus das Reich Gottes nannte.
Das hilft uns verstehen, warum der Glaube an Jesus Christus keine Kluft aufreißt zwischen Christen und Andersgläubigen; obwohl das in der Vergangenheit oft missverstanden wurde. Im Gegenteil, die wichtige Einsicht, die das Credo hier ausspricht, ist:
Das Göttliche kann sich inmitten des Menschlichen verwirklichen ‒ also auch in mir selbst.
Das gilt nicht nur für Christen, sondern für uns alle. Gott will sich im Menschlichen offenbar machen, wenn wir nur unsere Herzen dafür öffnen. Nur gemeinsam können wir dieser Anforderung gerecht werden. Mensch sein ist nicht Privatsache. Unsere Zeit stellt uns vor die Aufgabe, ein für alle Menschen gültiges Weltethos klar zu formulieren. Unser Überleben hängt davon ab. Die ganze Menschheit und jeder Einzelne von uns ist da herausgefordert. Es gibt keine höhere Aufgabe für uns Menschen als Menschlichkeit.
Das wichtige und in unserem Satz «Ich glaube an Gott … u n d an Jesus Christus» bedeutet, dass ich nicht nur an den Gott jenseits aller Horizonte glaube, sondern auch an Gott in mir, Gott immanent in der Welt ‒ und auf ausgezeichnete Weise in Jesus Christus. Das gibt unserem Glauben an Gott einen handgreiflichen Bezugspunkt ‒ den geschichtlichen Jesus ‒, und es gibt uns eine klare Aufgabe: durch gewaltfreie Revolution für eine neue Weltordnung einzutreten, für das Reich Gottes. Beides ist wichtig.[5]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1 und 5)
[Ergänzend:
1. Christuserlebnis von Bruder David in seiner Kindheit:
Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:
«‹Wenn unser Ich in Raum und Zeit vergeht, bleibt noch unsere Beziehung zum Ur-Du. Die war und ist das grundlegend Erste, aus dem alles entspringt, und wird das Letzte sein, was übrig bleibt.› Dies ist der tiefste mystische Gedanke, den Steindl-Rast mitteilt und der vermutlich auf eine frühe Kindheitserfahrung zurückgeht, die ihn zeitlebens prägte und führte: ‹In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns aufeinander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.»
Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹1. Mensch werden: Meine Herzmitte finden und den Zugang dazu, 1926-1936›, 9f. und 199: Anm. 6:
«… Eine steinerne Wendeltreppe führt in den ersten Stock hinauf; ich nenne ihn den ‹alten Stock›, weil meine Großmutter und meine Urgroßmutter dort oben wohnen. Im ‹alten Stock› bin ich am liebsten. Dort baut meine Großmutter oft ein Zelt aus einem bunten Tischtuch, das sie über zwei Sessellehnen breitete; da fühle ich mich geborgen und lasse mich von meiner Omi bewirten. Wir staunen gemeinsam über das Tanzen der Sonnenstäubchen, wenn Lichtstrahlen zwischen den schweren Vorhängen ins Zimmer strömen. Wir beten auch gemeinsam. Von meiner Großmutter lerne ich das Vaterunser, das Angelus-Gebet und bald den ganzen Rosenkranz.
Weit auseinanderliegende Wirklichkeitsbereiche fließen in meinem Erleben zu dieser Zeit noch ganz ineinander. Es ist kurz vor Weihnachten. Alles strahlt schon vor Vorfreude. Da glitzert etwas auf dem Teppich im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich nehme das winzige Goldfädchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Was kann das nur sein? ‹Vielleicht ist das Christkind schon vorübergekommen und hat ein Haar aus seinen Locken verloren?› schlägt meine Mutter vor. Das genügt, um mich in Verzückung zu versetzen. Auch rückblickend muss ich sagen: Das war für mich eine echte, freilich kindliche Begegnung mit dem unergründlichen Geheimnis, mit dem wir uns als Menschen auseinandersetzen müssen.
In diese Zeit, also etwa in mein viertes oder fünftes Lebensjahr, fällt auch ein Traumbild, das mir ‒ ohne dass ich es damals ahnte ‒ grundlegend werden sollte für mein Lebensgefühl: Ich gehe die steinerne Wendeltreppe vom ‹alten Stock› hinunter. Auf halber Höhe begegnet mir Jesus Christus, der von unten heraufkommt. Er sieht so aus wie auf dem Bild, das über dem Bett meiner Großmutter hängt. Wir bewegen uns auf einander zu, aber anstatt aneinander vorbeizugehen, verschmelzen wir miteinander.
Grundlegend wurde dieser Traum in dem Sinn, dass sein Verschmelzungsbild auch auf alle weiteren Phasen meines Menschwerdens immer wieder passt. Der Traum löste in mir kein Gefühl von Ehrfurcht oder Ergriffenheit aus. Er war überhaupt nicht gefühlsgeladen. Ich würde eher sagen, dass er eine Einsicht auslöste, die über mein Begreifen weit hinausging, mir aber vielleicht gerade deshalb als gewichtig in Erinnerung blieb.»
2. Jesus, der Christus ‒ zwei Pole:
Credo ‒ ein Glaube, der alle verbindet (2010)
David Steindl-Rast in der Evangelischen Ludwigskirche, Freiburg (DE)
Fragerunde in folgende Themen zusammengefasst:
(33:39) Die unerschöpfliche Christuswirklichkeit (Kol 1,24) und Jesus, der Bezugspunkt
Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004)
Vortrag:
(00:00) Einführung: Der Vortrag ist in drei Teile aufgebaut: Im ersten Teil geht es um Jesus, die historisch fassbare Persönlichkeit.
Das Thema des zweiten Teils ist Christus, die mystische Erfahrung Jesu, die uns mit ihm innigst verbindet. Jesus und Christus bilden zwei Pole in einem Spannungsverhältnis: Jesus ohne Christus ist für uns nicht verbindlich, Christus ohne Jesus ist eine mystische Erfahrung ohne Bezugspol in der Außenwelt.
(23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können, denn in unseren besten und lebendigsten Augenblicken wissen wir, dass wir dem Göttlichen zutiefst verbunden sind: Gott als das Geheimnis, das alles umfasst, uns selbst als Gabe Gottes, und den Geist Gottes als Danksagung, die von uns zu Gott zurückfließt. Oder wir können sagen: Wir kennen Gott als das Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen oder Vater, Sohn und Heiliger Geist.
(40:33) Bruder David schließt mit unserer Aufgabe: Mensch werden: Mensch sein ist nicht Privatsache, wir hängen alle zusammen. Wir sind das Missing Link zum vollen Menschen Jesus. Die Evolution selbst von Stufe zu Stufe bis zum Menschen ist Menschwerdung Gottes und nach der ersten Seite der Bibel leben wir vom ureigensten Leben Gottes: Wir sind Gott-menschliche Wesen
Retreat-Woche in Assisi (1989)
Ich glaube an Jesus Christus, unsern Herrn:
(10:41) Epochaler Durchbruch in der Religionsgeschichte durch Jesus Christus
(13:16) Der Mensch lebt nach der biblischen Anthropologie vom ureigensten Leben Gottes ‒ Christus und Buddha
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(11:25) Jesus Christus, ein Name mit zwei Polen: Der Christus in uns und Jesus, wofür er steht. Geistliches Leben, das immer wieder Maß nimmt am Leben Jesu
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Jesus, der Christus ‒ zwei Pole
3. Christuswirklichkeit in der Bewegung von ‹to selve› zu ‹justicing› im Eisvogel-Sonett von Gerard Manley Hopkins und Ergänzend:
1. Christus, der Logos, das Wort, in der Gestalt der Sophia, der alttestamentlichen Weisheit
2. Christus-in-uns: unser ureigenstes gott-menschliches Selbst
3. «Ich und der Vater sind eins» ‒ «Atman ist Brahman und Brahman ist Atman»
4. Christus als Choryphaeos, Anführer im Reigentanz der Hl. Dreifaltigkeit
4. Christusgeburt in uns:
Credo (2015): ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, 94f.:
«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.
Wir müssen den Mut haben, Gottes Geist jungfräulich zu empfangen, und selber das göttliche Kind zu gebären, denn das heißt ja nichts anderes als für die Christuswirklichkeit lebendiges Zeugnis abzulegen. Angelus Silesius spricht für die mystische Tradition, wenn er sagt:
‹Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn
Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn.›
Positiv drückt er dieselbe Einsicht in den weniger bekannten Versen aus, die an Maria gerichtet sind:
‹Sag an / O werte Frau / hat dich nicht auserkorn
Die Demut / dass du Gott empfangen und geborn?
Sag / obs was anders ist? Damit auch ich auf Erden
Kann eine Magd und Braut und Mutter Gottes werden.›
So verstanden wird dieser Glaubenssatz: ‹Geboren von Maria der Jungfrau›, der sonst nur überflüssige und unbeweisbare Information für Neugierige enthielte, zur begeisternden Herausforderung für Mutige.»
Die Wiedergeburt christlicher Mystik (1988)
Vortrag in Themen aufgeteilt:
Christliche Mystiker wie Angelus Silesius und Franz von Assisi
5. Christus, der Weg:
Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 299-301:
«Dieser Tage bekam ich ein Flugblatt in die Hand. Ich bewundere die jungen Menschen, die es verteilt haben. Sie haben sich wirklich getraut, für ihre Überzeugung einzutreten. Aber der Inhalt dieses Blattes zeigt mir, dass sie in ihrem Glauben nicht weit genug gegangen sind, zumindest nach christlichem Maß. Denn das Blatt besteht aus Bibelzitaten, und das sollte uns schon zu denken geben. Ist die Bibel für Christen ein Handbuch, aus dem man Sätze herauszieht, mit denen man seine Gesprächspartner bestenfalls überzeugt und schlimmstenfalls mundtot macht? Oder ist die Bibel Wort, das mich persönlich jetzt und hier herausfordert? Heraus-fordert, aus was heraus? Aus der Angst in den Glauben! Aus der Angst in das Vertrauen.
Ich lese gleich am Anfang: Jesus Christus spricht: ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6).
Ich würde es als gläubiger Christ sehr unter der Würde dessen, was wir als Christen von Jesus Christus glauben, halten, dass wir ihn nur als einen von vielen Wegen darstellen. Was heißt es denn, auf dem Weg zu sein? Auf dem Weg sein, heißt, sich bewegen. Jeder, der sich vorwärtsbewegt nach jenem Kompass des Herzens, der immer auf Gott weist, der ist auf dem Weg. Der ist also auf dem Weg, den wir als Christen ‒ Gott sei Dank ‒ als Jesus Christus kennen. Aber es ist viel weniger wichtig, dass man den Namen kennt, als dass man auf dem Weg ist. Christus, der Weg, kennt alle, die sich auf den Weg gemacht haben. Und die Wahrheit, so steht darüber, die Wahrheit wird Euch frei machen. Was uns nicht frei macht, kann nicht die Wahrheit sein. Was uns frei macht, etwa von Angst, das ist Wahrheit. Frei in Verantwortung. Unverantwortlichkeit ist nicht frei.
Einer der frühen Kirchenväter hat schon ganz deutlich gesagt: ‹Wenn es wahr ist, frag nicht, wer es gesagt hat. Die Wahrheit kommt immer vom Heiligen Geist.›
Wenn wir das nur auch heute noch wüssten! Hier ist nun der Punkt, wo im Hören des Wortes und in der Antwort durch die Tat Schweigen und Arbeit sich verbinden. Hier beginnt ein Prozess, den Rilke so wunderbar das Reifen Gottes nennt.
Wir haben oft ein viel zu statisches Gottesbild. Dass Gott eine Wirklichkeit ist, die in und um uns reift, ist zutiefst christlich. Wir Christen warten ja auf die Wiederkunft Jesu Christi. Aber nicht Wiederkunft, so wie er schon einmal gekommen ist, sondern das endliche Kommen, die endliche Verklärung der Welt. Daher schon sollten wir uns in Gemeinschaft verbunden wissen mit all denen, die auf dem Weg sind.
Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift. Jetzt sind wir wieder bei den dunklen Tiefen, mit denen wir angefangen haben. Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:
Daraus, dass Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, dass wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluss zutag,
der in die Stille der Steine greift, der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift.»
Begegnung der Religionen (1993)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(20:13) ‹Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben› (Joh 14,6)
6. Orpheus, eine Christus-Figur:
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, 53f.:
«Und Rilke sagt: er wurde nicht zerrissen, er wurde verteilt, so wie die Kommunion verteilt wird. Und darum singen wir jetzt: Er singt in uns, in den Felsen, in den Löwen, in den Bäumen singt er noch, er wurde verteilt. Er wird zur Christus Figur. Sie konnten sein Haupt nicht zerstören, das Haupt schwimmt am Fluss hinunter und singt noch. Und die Leier wird zum Himmel gehoben und wird zum Sternbild. Er wird verteilt an die ganze Welt. Das ist der große Gott, der göttliche Sänger. Und der singt in uns.»
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus]
_____________________
[1] Video Dem Geheimnis auf der Spur (2016)
[2] Zwei Audios mit dem Wort der frühen Christen in Sehen ‒ schöpferisches Schauen: Ergänzend: 2.1. (29:53) und 2.2. (01:05:31)
[3] Augustinus: ‹Confessiones›, III, 6,11
[4] Siehe auch: Hl. Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 2. Weitere Texte: 2. Wir leben vom ureigensten Leben Gottes (1972): Auszug aus dem Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in Die Frage nach Jesus (1973), 59-63
Jetzt im Doppelbereich
Text, Videos und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Durch meinen Leib bin ich an die Zeit gebunden und mein Ich ist vergänglich, mein Selbst aber hat Bestand. Und doch erlebe ich mich als Einheit, als ich selbst ‒ nicht als ich u n d selbst.
Dieses Einssein ist mir jedoch nur bewusst, solange ich im Jetzt lebe, im Augenblick, im Doppelbereich von Zeit und Ewigkeit.
Sobald ich an Vergangenem hängen bleibe oder mich in Zukunftsfantasien verstricke, bin ich mir nur mehr des Zeitablaufs bewusst, und es bedrückt mich, dass meine Zeit rasch abläuft und ausläuft.
«Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt», sagt der Dichter.[1]
Ich sehe es jetzt mehr noch als in früheren Lebensabschnitten als meine große Aufgabe an, immer wieder ins Jetzt zurückzukehren und zu erkennen, dass ich nicht in einem Nebeneinander von Zeit und Ewigkeit lebe, sondern in ihrem Ineinander, in der dynamischen Spannung des einen Doppelbereichs.
Auf Reisen fällt mir das nicht schwer. Da muss ich einfach im Augenblick leben. Und Reisen wurden mir geschenkt in meinem hohen Alter ‒ zahlreicher und weiter und spannender als je zuvor.
Zugleich mache ich immer weitere Reisen nach innen in neue Gebiete des Doppelbereichs. Er ist ungeteilt und unteilbar eins. Das rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein. Meine Reisen in seine Tiefen sind nicht ein Verlassen dessen, was als Oberfläche erscheint. Nein.
I n Raum und Zeit kommt Ewigkeit zum Vorschein ‒ scheint hervor, wirft Licht auf meinen Weg. Alles, was hinter mir liegt auf diesem Weg, war notwendig, um mich genau an diese Stelle zu bringen. Alles, was vor mir liegt, ist nur von diesem Standpunkt aus erreichbar.
Rilke hilft mir zu benennen, was zu entdecken vor mir liegt. «Weltinnenraum», «das Offene», die «Mitte des Immer», das «Namenlose», letztlich die «Unbetretbarkeit» ‒ das Geheimnis. Es ist groß und einfach. Was ich dagegen rückblickend gewahre, ist schier unüberschaubar in seiner tausendfach vernetzten Vielfalt.
Aber alles, was ich erlebe, hat ja schon jetzt eine Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist.
T. S. Eliot nennt das Jetzt «the moment in and out of time»[2] ‒ es gehört der Zeit an und doch auch nicht.
Im Doppelbereich des Jetzt sind Zeit und Ewigkeit eins. Darum kann auch nicht die kleinste Einzelheit von allem, was mir hier lieb ist, je verloren gehen.
«Alles ist immer jetzt», sagt wieder T.S. Eliot, «All is always now»[3] ‒ und spricht damit eine Wahrheit aus, die sich nicht leugnen lässt, denn was nicht jetzt ist, ist nicht, es hat nur eine Schattenwirklichkeit in Vergangenheit oder Zukunft.
Im Jetzt aber kann es nicht verloren gehen, da ist es in einem dreifachen Sinn «aufgehoben»:
Es besteht nicht länger (wie etwa ein Gesetz, das aufgehoben wird), es wird aber auf eine höhere Ebene hinaufgehoben und bleibt dort bewahrt (wie ein Goldreif in einer Schatzkammer gut aufgehoben ist).
In diesem Sinn verstehe ich, warum Rilke im Aufheben unsere Lebensaufgabe sieht: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Leidenschaftlich heimsen wir den Nektar des Sichtbaren ein in die große, goldene Honigwabe des Unsichtbaren.»[4]
Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup: «Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit ‒ in der Erfahrung des Jetzt ‒ eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht.»
«Freilich komme ich dabei um eine Schwierigkeit nicht herum: Jemand könnte sagen: Nur durch meine Sinne, die in Raum und Zeit sind, kann ich das erfahren, und nur mit meinem Gehirn kann ich es denken; wenn aber mein Gehirn zu Staub zerfällt, was dann?
Ich kann nur antworten: Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum.
Und dieser Dimension meines Daseins ‒ dem Bleibenden ‒ gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre.
Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe.
Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet.
Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit. Im Jetzt rühre ich an das Bleibende.[5]
Darauf muss ich mich einlassen, muss mich einfühlen ins Jetzt und dort heimisch werden. Im Getriebe der Zeit geht dieses Bewusstsein allzu leicht verloren.»
«Unser ganzes Leben ist eine Auseinandersetzung in Raum und Zeit mit dem Großen Geheimnis, das über Raum und Zeit hinausgeht.
Schon jetzt nimmt jedes Erlebnis im Doppelbereich an diesen beiden Aspekten teil. Wenn also Raum und Zeit wegfallen, ist das, was ich erlebt habe, damit nicht ausgelöscht. Das zeigt uns schon jetzt unsere Erinnerung, die Tatsache, dass wir uns überhaupt an etwas erinnern können.»
Johannes Kaup: «Aber Erinnern ist ein zeitliches Phänomen.»
Bruder David: «Erinnerung ist ein Phänomen in der Zeit, aber dass Erinnerung nur in der Zeit ist, ist eine sehr reduktionistische Vorstellung. Ja, es gibt etwas wie neuronale Konstellationen oder Engramme, Aufzeichnungen irgendeiner Art, die dann wieder aufgerufen werden. Da ist etwas dran, aber das ist nicht das Wesentliche von Erinnerung.
Erinnerung ist nicht Wiederbringung von Vergangenem, sondern ‹Er-inner-ung›:
Etwas ist ins Innerste eingegangen und gehört nicht nur meinem persönlichen Innersten an, sondern dem Weltinnenraum.
Rilke fasst das in die dichterische Vorstellung, dass wir Menschen die ‹Bienen des Unsichtbaren› sind.
Unser ganzes Leben besteht darin, jeden Augenblick, jede Erfahrung in die ‹große goldene Honigwabe› des Weltinnenraums einzuheimsen.
Nichts kann dort je wieder verloren gehen. Was ich einheimse in diese große goldene Honigwabe, ist mein einzigartiger Beitrag.
Wir sind so verschieden voneinander, dass es wohl nie zwei Menschen gegeben hat, die, sagen wir, eine Rose angeschaut und dasselbe gesehen haben.
Mit meiner einzigartigen Sensibilität reichere ich den Weltinnenraum an.
Ich bereichere ihn mein Leben lang, nicht nur durch alles Angenehme, was ich erlebe, sondern auch durch jedes Leiden. Alles hat Wert und Bestand. Nichts geht verloren.»
Johannes Kaup: «Vom Leiden hoffen wir, dass es ebenfalls verwandelt wird. Deswegen frage ich noch einmal anders: Wird auch die Vergänglichkeit verwandelt?»
Bruder David: «Sie wird schon jetzt verwandelt. Jetzt oder nie.
Der mystische Dichter Kabir fragt: ‹Wenn du als Lebender nicht deine Ketten sprengst, sollen Geister es tun, wenn du tot bist?›
Er meint, ewige Seligkeit, nur weil die Würmer dich fressen, sei ein Wunschtraum. Was du jetzt findest, wirst du dann gefunden haben, was du jetzt versäumst, wirst du dann versäumt haben. Schon jetzt musst du den großen Gast empfangen und umarmen.»
Johannes Kaup: «Ich muss da noch einmal nachhaken. Unvergänglichkeit bedeutet, wenn ich es recht verstehe, dem zeitlichen Strom des Vergehens entrissen zu sein. In gewisser Weise können wir uns nicht anders denken als als leibliche Wesen. Dass der Körper sich bereits zu Lebzeiten verändert, ist unbestritten. Mir geht es um unsere Gestalt. Wir sind immer Gestalt und dadurch erkennbar. Ich möchte einmal, so es mir vergönnt ist, Sie, Bruder David, im Himmel an der ‹Honigwabe› wiedertreffen und Sie erkennen können.»
Bruder David: «Auch jetzt ist es doch schon so, dass wir nach zwanzig Jahren keine Schwierigkeit haben, einen alten Bekannten wiederzuerkennen, und doch ist keine einzige Zelle in seinem Körper dieselbe geblieben.
Es ist die Gestalt, die wir wiedererkennen. Und Gestalt des Leibes ist die Definition von Seele.»
Johannes Kaup: «Anima forma corporis es, (Thomas von Aquin), sagen die scholastischen Theologen. Die Seele ist die Gestalt des Leibes.»[6]
Bruder David: «Sie ist es, was diesen Leib zu diesem Leib macht. Und nicht nur zum Leib, sondern was diesen Menschen zu diesem einzigartigen Menschen macht.»
Johannes Kaup: «Die Seele ist diese Lebendigkeit.»
Bruder David: «Im Doppelbereich haben wir alle eine doppelte Lebendigkeit ‒ in Raum und Zeit und im großen Selbst, das über Zeit und Raum hinausgeht.»
Johannes Kaup: «Bruder David, ich habe noch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man neunzig Jahre alt ist. Da kommt sicher einiges auf mich zu. Doch nicht nur ich bewundere, dass Sie in Ihrem Alter noch so wach, so neugierig und lebendig sind. Was ist das, was Sie heute im vielleicht letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt, umtreibt, bewegt?»
Bruder David: «Es kristallisiert sich für mich immer klarer heraus, dass meine große Aufgabe darin besteht, im Jetzt zu leben und das immer wieder zu üben.
Das sehe ich als meine Hauptaufgabe an, und zugleich ist es ein großes Geschenk, das so viele Jahrzehnte lang üben zu dürfen.
Vielleicht wird uns das Leben nur verlängert, weil wir noch nicht gelernt haben, wirklich im Jetzt zu leben.»
Johannes Kaup: «Woran haben Sie heute noch besondere Freude? Worüber können Sie nach wie vor staunen und was macht Ihr Herz ganz weit?»
Bruder David: «Um das zu beantworten, müsste ich alles aufzählen, was mir im Lauf des Tages begegnet. Alles macht mich staunend, mehr als je zuvor. Schon wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Dass mir noch einmal ein Tag geschenkt wird, ist das nicht eine große Überraschung?
Johannes Kaup: «Ich bin auch noch da ...»
Bruder David: «Aha! Es gibt mich noch. Alles, alles wird immer staunenswerter.
Johannes Kaup: «Das heißt staunenswerter, je älter Sie werden ‒ wie das? Sie könnten ja auch sagen: ‹Ich bin schon abgebrüht, ich kenne das schon.›»
Bruder David: Wie Augustinus sagt: Alles ist Gabe, alles ist Gnade, alles ist Geschenk.
Johannes Kaup: «Bruder David, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.»
Bruder David: «Ich danke Ihnen für Ihre Fragen.»
[Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9. Doppelbereich, 2006-2016›, 181-185 und ‹9. Dialog, 188-191, 193]
[Ergänzend:
1. Videos
1.1. Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(09:46) T. S. Eliot nennt das JETZT: ‹the moment in and out of time›, ‹der Augenblick, der innerhalb und außerhalb der Zeit ist› ‒ beides. Und wir leben in diesem Doppelbereich. Das ist sehr wichtig: Rilke hat sehr viel mit diesem Gedanken des Doppelbereichs gearbeitet, ist immer wieder auf den Doppelbereich zurückgekommen als Dichter.
Dieser Doppelbereich ist, dass wir einerseits in Raum und Zeit leben: einen gewissen Anfang haben, ein gewisses Ende unseres Lebens, überschaubar, und anderseits im JETZT:
Einerseits das ICH ‒ in Zeit und Raum ‒, anderseits das SELBST: im JETZT ‒ über Raum und Zeit erhaben. Und diese beiden zusammenzuhalten ‒ es ist weder gemischt noch getrennt: Es ist eben dieser sonderbare Doppelbereich; und in dem leben zu lernen, das ist in vielen spirituellen Traditionen eigentlich das Ziel.
1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›
2. Audios
2.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Doppelbereich:
(04:26) Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, X)
(39:16) Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
2.2. Lebensorientierung (2015)
3. Tag, 12. Februar, Donnerstagvormittag mit 5. Impulsvortrag (Bruder David), siehe Transkription S. 2, 11-13 und 27f.:
Wer bin ich? Ich-Selbst oder Ego? ‒ (00:15) Immer wieder kommen wir auf den Doppelbereich / (07:14) Der Doppelbereich von ‹innen› und ‹außen› / (21:37) Das Selbst ist immer Jetzt ‒ Einheit und Vielheit ‒ Wandel und Bestand ‒ ‹die Mitte des Immer› (Rilke, Elegie an Marina) ‒ von außen betrachtet bin ich Materie, von innen betrachtet bin ich Geist: Einheit, besser: Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita / (55:57) Seele ist ein abstrakter Begriff, der unsere Verschiedenheit wie auch Einzigartigkeit ausdrückt ‒ In der Definition ‹Anima forma corporis est› (Thomas von Aquin›) ist ‹forma› nicht ‹etwas›, sondern ‹Causa formalis› (Aristoteles): Was mich zu mich selbst macht
2.3. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Eröffnungsvortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.:
(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: W e r b i n i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Die Frage erhebt sich ja gerade deshalb, weil ich weiß, dass vor nicht so langer Zeit ich noch nicht war. Es hat mich einfach nicht gegeben. Und ich weiß auch, dass ich in absehbarer Zeit nicht mehr sein werde, jedenfalls nicht in der Form, in der ich mich jetzt kenne. Ich war nicht, ich werde nicht sein, und trotzdem weiß ich, ich bin! Dieses ‹bin› ist aber, wenn wir recht zusehen, nicht der Zeit unterworfen; es ist ewig; ich kenne mich als ewig und muss mich doch in der Zeit verwirklichen.
Ich weiß, ich bin, aber ‹bin› muss immer in der Gegenwart sein; wenn es in der Vergangenheit ist, heißt es ‹ich war›. Dann bin ich nicht, denn ich bin nicht mehr. In der Zukunft ‹bin› ich auch nicht; ‹ich werde sein›, aber ich bin noch nicht.
Ich ‹bin› nur in der Gegenwart. Und diese Gegenwart, dieser gegenwärtige Augenblick ist etwas, was uns immerfort entgeht und entgleitet. Es ist im tiefsten Sinn fragwürdig.
Wir stellen uns das so vor, dass unser Leben ein langer Weg ist, eine Linie, die aus der Zukunft auf uns zukommt und in die Vergangenheit versinkt. Die kleine Wegstrecke, auf der wir jetzt stehen, das ist die Gegenwart: hier b i n ich.
Solange wir aber von einer Wegstrecke sprechen, hindert uns nichts daran, diese Strecke in die Hälfte zu teilen. Die eine Hälfte ist dann nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist. Wo bin ich dann? In dieser Klemme sind wir vielleicht geneigt, die Gegenwart nicht mehr als Zeitstrecke, sondern als Zeitpunkt zu verstehen. Aber ein Punkt hat keine Ausdehnung; ein Zeitpunkt hat also keine Dauer, die doch zum Begriff der Zeit gehört. Sobald wir aber an Dauer denken, sind wir wieder beim Bild einer Zeitstrecke und eine Strecke lässt sich immer halbieren: die eine Hälfte ist nicht mehr, die andere Hälfte ist noch nicht. Hat also unser Bewusstsein von ‹ich bin› überhaupt Platz in der Zeit?
Nein. Wir existieren, und existieren heißt wörtlich: herausreichen, herausstehen. Wir reichen heraus aus der Zeit ins Sein, ins Ewige.
Ewig heißt ja nicht: lange, lange Zeit; Ewigkeit ist ‒ wie Augustinus definiert ‒ das ‹nunc stans›, also das Jetzt, das niemals vergeht.
‹Ich bin› gehört also zur Ewigkeit, zum Jetzt, das bleibt. Dieses bleibende Jetzt kennt schon jedes Kind, wenn es nur versteht, was ‹ich bin› heißt. Jeder Mensch reicht eben existenziell über die Zeit in die Ewigkeit hinein, in das Sein.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin, der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.
Eben da erhebt sich nun die existenzielle Frage des Menschen: Wer bin ich denn? Und das heißt letztlich: Wie bin ich, von Zukunft verunsichert und von Vergangenheit ausgelöscht, dennoch verbunden mit dem, was wirklich ist?
Was ist meine Beziehung zum Wirklich-Seienden, zum Sein?
Das ist die Frage, die hinter dem: Wer bin ich? steht. Das Herz des Menschen hat von Anfang an schon immer diese Frage gestellt und stellt sie immer neu.
Jedem Menschen stellt sich diese Frage, ob das reflexiv erfasst und deutlich ausgesprochen oder nur so ganz ahnend erlebt wird. Die Frage ist da und das Herz gibt auch Antwort darauf.»
3. Weitere Texte
3.1. Im Buch Orientierung finden (2021):
‹Innen / Außen ‒ zwei Aspekte der einen Wirklichkeit›, 76f.:
«Von biologischem Leben können wir erst sprechen, wenn es ‒ wie bei den einfachsten Einzellern, die wir kennen, ‒ ein Innen gibt, das, durch die Zellwand vom Außen getrennt, auf die Außenwelt reagiert. Auf unser menschliches Leben und Erleben angewandt, sind Innen und Außen bildliche Ausdrücke für zwei Aspekte der einen Wirklichkeit.
Der Unterschied ist uns aus täglicher Erfahrung vertraut: Im Außen kennen wir nur Vielfalt. Innen aber können wir jene Einheit erfahren, welche die Vielfalt zusammenfasst, enthält und übersteigt.
So übersteigt unsre innerste Du-Erfahrung Einheit, aber auch Zweiheit.
Darum spricht der Hinduismus hier nicht von Einheit, sondern von Nicht-Zweiheit ‒ a-dwaita. Was mir als Außen bewusstwird, ist an Raum und Zeit gebunden und beständigem Wandel unterworfen. Als Innen kann ich etwas erleben, was unteilbar und immer jetzt ist. Rilke spricht von der ‹Mitte des Immer› und drückt mit diesem Bild ein innerstes Bleibendes aus.
Unter diesen beiden Aspekten von Innen und Außen erlebe ich die eine ungeteilte Wirklichkeit als Doppelbereich.
‹Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.›[7]
Einen Aspekt dieses Doppelbereichs auf den andren zu reduzieren, würde dem Unterschied von Innen und Außen nicht gerecht. Aber den Unterschied als Dualität zu verstehen, widerspricht der nahtlosen Einheit unsrer Erfahrung.»
‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:
«Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit. Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.»
«Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»
A-DWAITA, in: Das ABC der Schlüsselworte, 128
DOPPELBEREICH, in: Das ABC der Schlüsselworte, 132f.
3.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 98-105; 108f., 118-123; siehe 121f.:
«Als unser letztes Gedicht heute, möchte ich eigentlich um der letzten Zeilen dieses Gedichtes willen, ein Gedicht von Clemens Brentano lesen.
Es heißt ‹Eingang› und ist das Eingangsgedicht zu einem seiner Gedichtbände.»
Beim ersten Vers: ‹Was reif in diesen Zeilen steht›, fügt Bruder David humorvoll an: «Und das gilt auch zugleich für die Dichtung Rilkes, für alle Gedichte. Ich stelle mir vor, dass im Himmel sich alle Dichter treffen und nicht mehr wissen, wer was geschrieben hat.»
(Entspanntes Lachen im Saal). ‒
Und nach der Zeile: «Ans Feldkreuz angeschrieben
Und das ist jetzt die Inschrift: O Stern und Blume ‒
Die ‹Stern-Blume›, Stern ‒ Blume: Doppelbereich.
Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!
Lieb und Leid gehören so zusammen wie Geist und Kleid, wie Stern und Blume.
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»]
_____________________
[1] ‹Stimme eines jungen Bruders
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Laß mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen.›
R. M. Rilke, Das Stunden-Buch
[2] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V; siehe auch Stillehalten
[3] T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, V; siehe auch Stillehalten
[4] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.
[5] Siehe auch Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit (2021): Interview von Stefan Seidel mit Bruder David:
«Ich erlebe schon mitten in Raum und Zeit − in der Erfahrung des Jetzt − eine Dimension, die über Raum und Zeit hinausgeht, und die unterliegt dem Tod nicht. (...) Hier und jetzt bringen mich meine Sinne und mein Denken an die Grenze von etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht, das nicht gebunden ist durch Zeit und Raum. Und dieser Dimension meines Daseins − dem Bleibenden − gehöre ich genauso an, wie ich Zeit und Raum angehöre. Das ist eben der Doppelbereich, in dem ich lebe. Diese Erfahrung gibt mir Vertrauen und Zuversicht auf etwas Bleibendes, auch wenn meine körperliche Wirklichkeit endet. Schon jetzt berühre ich eine bleibende Wirklichkeit.»
[6] Bruder David geht auf die Definition von Thomas von Aquin ein weiter unten im Audio in Ergänzend: 2.2. (55:57)
[7] Rilke: ‹Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten› (Sonette an Orpheus 1. Teil, IX); siehe in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 99-101
Jetzt im Stundengebet
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Die stille Ekstase der Gregorianischen Gesänge spricht Menschen aller Glaubensrichtungen an. Was übt diese zeitlose Faszination aus? Die Gesänge sprechen auch heute unser Herz an: Sie rufen uns auf, in das Jetzt einzutreten, innezuhalten, zuzuhören und auf die Botschaft des jetzigen Augenblicks zu achten. Sie sprechen den Mönch in jedem von uns an und ebenso unsere Seele, die sich nach Frieden sehnt und nach der Verbindung mit jener letztendlichen Quelle von Sinn und Wert.
Mit Informationen übersättigt, oft jedoch jeglichen Sinnes beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Anforderungen gefangen zu sein, gefordert von Dingen, die wir erledigen und in Ordnung bringen müssen. Auch wenn wir uns bange von einer Aktivität in die nächste stürzen, spüren wir dennoch, dass es im Leben mehr geben muss als unsere geschäftlichen Termine. Unbehagen und hektisches Herumjagen sind das Ergebnis unserer verkehrten Zeitempfindung ‒ einer Zeit, die stets abzulaufen scheint.
Die westliche Kultur verstärkt diese irrtümliche Auffassung von Zeit als beschränktem Gut: ständig arbeiten wir auf Termine hin, ständig fehlt uns die Zeit, ständig ist die Zeit abgelaufen.
Die Gesänge hingegen rufen ein anderes Verhältnis zur Zeit wach, in dem Zeit wohl wertvoll, aber nicht knapp ist. Sie beschwören die Urform des klösterlichen Lebens herauf, in welcher die Zeit harmonisch dahinfließt. Die verfügbare Zeit entspricht der vorliegenden Aufgabe. Es ist immer genügend Zeit da für alles, was getan werden muss.
Die reinen, klaren und erhabenen Töne der Gesänge erinnern uns daran, dass es sehr wohl eine andere Art und Weise gibt, in dieser lauten, zerstreuten Welt zu leben, und dass diese nicht so unerreichbar ist, wie es scheint.
Wenn wir uns den Gregorianischen Gesang anhören, werden wir nicht nur der ineinander verwobenen Stimmen der Mönche gewahr, sondern auch eines beinahe unhörbaren Echos, einer zusätzlichen Tiefendimension dieser Musik. Und es ist diese heilige, transzendente Qualität der in einer hohen Kapelle gesungenen melodischen Linien, welche viele am Gregorianischen Gesang so sehr berührt.
Gerade diese Tiefendimension gleicht der Jetzt-Dimension der Zeit. Denn «jetzt» findet nicht innerhalb der chronologischen Zeit statt, sondern transzendiert sie.
Hier kann Zeit nicht als etwas, das knapp wird, begriffen werden, sondern als etwas, das wie Wasser aus einer Quelle steigt und zu jener Fülle der Zeit anschwillt, die jetzt ist.
Genau in die Mitte dieses Lebens im Jetzt holen uns die Gesänge zurück.
Der Gregorianische Gesang regt uns durch seine Harmonie, Ganzheit und Gesundheit dazu an, aus den Vorgegebenheiten und Spannungen des Arbeitstages auszutreten, unser eingefahrenes Selbst loszulassen und uns in unserem wahren Selbst einzufinden.
Der Gesang ist eine Einladung an unsere Seele, den Zynismus hinter uns zu lassen, das innere Geschwätz abzustellen und hinzuhorchen.
Die Stunden sind die «Jahreszeiten» des Tages. Früher wurden sie mystisch verstanden. Frühere Generationen, die nicht von der Uhr beherrscht wurden, verstanden die Stunden persönlich und begegneten ihnen als Boten der Ewigkeit im Fluss der Zeit, der wächst, erblüht und Früchte trägt. Im sich entfaltenden Rhythmus aller Dinge, die auf Erden wachsen und sich verändern, war die Vorgabe jeder Stunde von einer unendlich reicheren und komplexeren Eigenart als unsere sterile Uhrzeit. Man verstand sie als Boten einer anderen Dimension ‒ gleichsam als Engel ‒ die anzeigten, dass jeder Stunde ihre ureigene Bedeutung innewohnte.
Auch heute noch ‒ inmitten unserer vollgepackten Geschäftstermine ‒ können wir feststellen, dass die Zeit vor der Morgendämmerung, die frühen Morgenstunden, der Vormittag und die Mittagszeit eine eigene Qualität haben. Die Zeit mitten am Nachmittag, wenn die Schatten länger werden, hat einen anderen Charakter als die Zeit der Abenddämmerung, wenn wir das Licht einschalten.
So ist eine Gebetszeit denn eher eine unsichtbare Kraft als eine Maßeinheit.
Die Stunden, in denen die Mönche zum Gebet und zum Gesang zusammengerufen werden, sind Engel, denen wir zu bestimmten Zeitpunkten im Laufe des Tages begegnen.
Die Gebetszeiten werden «kanonische» Gebetszeiten (oder Stundengebete) genannt, weil das Wort «Kanon» ursprünglich einen Messstab bezeichnete und weil der Tag nach seinen verschiedenen Stimmungen gemessen wird. «Kanon» kann aber auch Gitter bedeuten, wie ein Spalier, an dem man Reben hochzieht. So können wir uns die Gebetszeiten auch wie einen Rahmen vorstellen, der den klösterlichen Tag und das gesamte mönchische Leben trägt und unterstützt.
Die mönchische Beziehung zur Zeit wird geformt durch die Stunden des Gebetes; dadurch steigert sich unsere Aufmerksamkeit für die feinen Unterschiedlichkeiten im Ablauf des Tages. Und je größer diese Sensibilität wird, desto empfindlicher werden wir für den gegenwärtigen Augenblick.
Die Wechselgesänge jeder Stunde helfen den Mönchen, voll in die flüchtige Dimension des Jetzt einzutreten.
Der Gesang bereitet uns darauf vor, auf den Ruf jeder Stunde zu antworten; denn das wirkliche Leben findet weder in der Uhrzeit noch in der chronologischen Zeit (nach dem Griechischen chronos) statt, sondern in dem, was die Griechen kairos nannten: der Zeit als Gelegenheit oder als Begegnung.
Aus der mönchischen Perspektive ist die Zeit immer eine Reihe von Gelegenheiten, von Begegnungen.
Wir leben im Jetzt, indem wir uns auf den Ruf eines jeden Augenblicks einstimmen, indem wir hören, was jede Stunde und jede Situation von uns verlangt, und indem wir darauf antworten.
Die Gebetszeiten sind noch in einem anderen Sinn mönchische Tagzeiten. Das englische Wort «season» (oder das französische «saison») hat eine lateinische Wurzel, die «säen» bedeutet.
So sind denn die Stunden des Tages die eigentlichen Stationen oder Abschnitte des Tages, zu denen wir in uns, und draußen in der Welt, bestimmte Samen säen. Die Samen, die wir säen, sind die Tugenden, die jeder Stunde eigen sind.
Tun wir einen Schritt aus der bloßen Uhrzeit hinaus, in der wir lediglich reagieren, und gehen stattdessen in die Tageszeit der Stunden ein, indem wir bewusst auf die Botschaft des Engels einer bestimmten Stunde antworten.
Jede Stunde des klösterlichen Tages stellt eine unverwechselbare Aufforderung dar und verlangt daher nach einer einmaligen Antwort.
Dieses wechselseitige Spiel von Botschaft und Antwort findet wiederum ihren symbolischen Ausdruck in der antiphonalen Struktur der Gesänge.
Anrufung und Antwort ist das Wesen dieser Musik. Die Gesänge sind kein Vortrag eines Solisten, sondern die Darbietung eines Chorals. Und die ganze Gemeinde singt, nicht nur einige spezialisierte Sänger. Wichtig ist nicht der Sänger, sondern der Gesang und eine über sich selbst hinausgehende Antwortbereitschaft, die dieser Gesang erfordert.
Die Regel des heiligen Benedikt - das «Spalier» (denn Regel heißt griechisch canon), das Gitterwerk, das 1500 Jahre lang das mönchische Leben getragen hat ‒ erinnert die Mönche daran, dass sie sich jedes Mal, wenn sie singen, in Gegenwart von Engelchören befinden. Und sie singen wie die Engel, von denen man sagt, sie würden einander gegenseitig anrufen und in nie endendem Lobpreis antworten.
So drückt sich auch das spirituelle Leben als Ganzes aus, das wesensgemäß ein Leben der Liebe ist, in der wir Gott und einander zuhören und antworten. Liebe (Agape) ist keine Privatangelegenheit.
In den Gesängen, die nicht so sehr ein akustisches Phänomen als vielmehr eine innere Erfahrung sind, begegnen wir einer Wirklichkeit, die wirklicher ist als das, was wir in unserem geschäftigen Alltagsleben erleben. Weshalb ist das so?
Einer der Gründe für ein Gefühl des Unbehagens in unserem Alltagsleben könnte darin liegen, dass wir entweder über die Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und deshalb nicht im Hier und Jetzt sind, wo unser wirkliches Selbst weilt.
Die Gesänge rufen uns aus der chronologischen Zeit heraus, in der «jetzt» niemals gefunden werden kann, und in das ewige Jetzt hinein, das gar nicht in der Zeit zu finden ist.
Wenn wir uns die Zeit als Linie vorstellen, die von der Zukunft in die Vergangenheit reicht, dann frisst die Vergangenheit die Zukunft ständig und ohne den geringsten Rest auf.
Solange wir uns «jetzt» als eine ganz kurze Zeitstrecke vorstellen, hält uns nichts davon ab, diese Strecke zu halbieren und dann nochmals in zwei zu teilen.
Weil sich die chronologische Zeit immer weiter teilen lässt, gibt es kein «jetzt» auf unseren Uhren, und in der Uhrzeit lässt sich keine «stille Mitte»[1] finden. Es ist ein Gedankenexperiment, das uns klar machen kann, wie wir im Jetzt etwas erfahren, das in der Zeit gar nicht enthalten ist, sondern weit über sie hinausgeht: die Ewigkeit.
Die Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit. Sie ist, wie Augustin sagte: «Das Jetzt, das nicht vergeht.»
Wir können die Ewigkeit nicht dadurch erreichen, dass wir einfach in einer chronologischen Reihenfolge vorangehen, und dennoch ist sie uns in jedem Augenblick als geheimnisvolle Fülle der Zeit zugänglich.
Wir werden ab und zu, in den Augenblicken, in denen wir am lebendigsten sind, in unseren Gipfelerlebnissen, in das Mysterium der Zeit aufgenommen.
Von solchen Momenten sagen wir etwa: «Die Zeit stand still» oder: «So viel hatte in einem einzigen winzigen Augenblick Platz» oder: «Stunden vergingen, und es war wie im Nu, wie eine Sekunde.»
Unser Zeitgefühl verändert sich in solchen Momenten der tiefen und intensiven Erfahrung, und dann wissen wir, was Jetzt bedeutet.
Wir fühlen uns in jenem Jetzt, in jener Ewigkeit zu Hause, weil das der einzige Ort ist, wo wir wirklich sind.
Wir können nicht in der Zukunft sein, wir können nicht in der Vergangenheit sein; wir können nur in der Gegenwart sein.
Wir sind nur in dem Maße wirklich, in dem wir im gegenwärtigen Hier und Jetzt leben.
Opus Dei nennen es die Mönche, wenn sie die Stunden des klösterlichen Tages besingen: das Werk Gottes. Wenn wir verliebt sind, ist der Lobpreis des geliebten Geschöpfes, das uns gegenübersteht, keine Mühe. Ebenso wenig sind es die Gesänge der Mönche. Der Gregorianische Gesang ist ein Lobpreis, der von Herzen kommt. Wenn die Gesänge auch manchmal ein Schmerzensschrei oder ein Ausdruck unserer Not sind, so behalten sie dennoch stets die Ober- und Untertöne des Lobpreisens bei. Lobpreisen ist unsere Antwort auf die Herrlichkeit Gottes, darauf, dass Gottes Gegenwart in allem, in jedem Menschen und in jeder Situation erstrahlt. Je liebevoller wir sind, desto öfter sehen wir diese strahlende Herrlichkeit. Je öfter wir sie erstrahlen sehen, desto eher ist Lobpreisen unsere spontane Antwort darauf. Das ist es, wozu der Mensch gemacht ist. Wir sind wesensgemäß diejenigen, die lobsingen. Das ist unser höchstes Ziel.[2]
In der traditionellen christlichen Spiritualität heißt es, dass alles sub specie aeternitatis anzusehen ist, was soviel heißt, wie die Dinge vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus zu betrachten.
Im Alltagsleben sind wir versucht, den Dingen ein subjektives Maß anzulegen, sei es den irdischen Erfolg, das Erreichen unserer Ziele oder die Erfüllung der Erwartungen anderer. Unser Leben hat aber nur dann Tiefe und Sinn, wenn wir es von einer höheren Warte aus betrachten und unsere zeitlichen Ziele am ewigen Jetzt messen. Dieses Jetzt hallt in den Gesängen nach.
Wir wissen, dass es uns nicht wirklich glücklich macht, nur Ziele auf der pragmatischen, materiellen, zeitlichen (und damit auch befristeten) Ebene zu erreichen.
Wenn uns etwas mit einer tiefen und anhaltenden Freude erfüllt, dann bedeutet dies, wirklich zu sein, ganz lebendig und gegenwärtig im Jetzt zu Hause zu sein.
Doch wer kann lange in diesem gesegneten Bereich verweilen? Wir stellen uns gerne vor, die großen spirituellen Meister, die großen Asketen, könnten das. Können sie?
In einer alten Geschichte aus den Anfängen des christlichen Klosterlebens kommt das schön zum Ausdruck: Ein junger Mönch reist zu einem alten, hoch geachteten Mönch weit draußen in der ägyptischen Wüste und berichtet ihm, dass er immer wieder seinen Geistesfrieden verliert. Der junge Mönch sucht eine Anleitung, um seinen inneren Frieden zu bewahren. Zu seinem großen Erstaunen antwortet ihm der alte Mann: «Ich habe dieses Gewand nun siebzig Jahre getragen, und nicht einen einzigen Tag lang habe ich Frieden gefunden.»
Wenn sogar dieser erfahrene Mönch feststellt, dass der Frieden des Augenblicks ständig bedroht ist, was sollen wir dann erst dazu sagen? Was zählt, ist aber nicht, dass dieser Friede ein fester Besitz ist, sondern vielmehr, dass wir nie aufhören, danach zu streben. Vollkommenheit heißt nicht etwas erreichen; Vollkommenheit liegt im unermüdlichen Streben.[3]
Die gregorianischen Gesänge erscheinen vollkommen, auch wenn sie nicht von Berufssängern vorgetragen werden. Es gehört zur Eigentümlichkeit dieser Musik, dass jeder lernen kann, im Choral mitzusingen.
Diese Gesänge sind eine Volkskunst: Ihre Unvollkommenheit gehört zu ihrer Vollkommenheit. Sie haben für alle Arten von Stimmen und Gesangstalenten Platz; im Kloster werden die Gesänge von allen gesungen, die gerade da sind und die den Geist der Gemeinsamkeit teilen. So sind Unvollkommenheiten unvermeidlich, genau wie im Leben. Und gerade darum geht es: Eine bemerkenswert überirdische Schönheit entsteht, wenn ganz normale Leute mit all ihren Unzulänglichkeiten sich diesem Gesang hingeben.
Singen ist ein wesentlicher Bestandteil vieler religiöser Überlieferungen ‒ der buddhistischen, jüdischen, hinduistischen, islamischen und anderer. Das kommt daher, dass an einem gewissen Punkt der religiösen Erfahrung das Herz einfach singen will, das Singen bricht aus ihm heraus.
Obwohl es widersprüchlich scheint, kann man sagen, dass das Wort dann entsteht, wenn das Schweigen seine Fülle gefunden hat.
Wie es im Buch der Weisheit heißt: «Denn während tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in ihrem schnellen Laufe bis zur Mitte vorgerückt war» – als also die Nacht am dunkelsten und tiefsten war –, «da sprang sein allmächtiges Wort vom Himmel her, vom königlichen Thron» (Weish 18,14f.):
In der Weihnacht beginnt das Schweigen zu singen.
Dieses Buch ist eine Reise durch die Stunden des mönchischen Tages. Um die Musik der Stille zu hören und ihre Botschaft zu erlauschen, müssen wir aus der Uhrzeit in den klösterlichen Fluss der Zeit eintreten, der sich in den Horen, den Stunden des Gebetes äußert.
Wir müssen die Gewohnheit zu reagieren aufgeben und lernen, auf das zu antworten, was im Augenblick gegeben ist.
Wenn wir mit dieser inneren Haltung dem Engel jeder Stunde begegnen, dann werden wir offen sein für den Samen, den der Engel uns zu säen aufträgt, und die Tugend, die sich daraus entfaltet, wird in unserem Leben Frucht tragen.
[Musik der Stille (2023): ‹Einführung›, 15-17, 27-32]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Gregorianische Gesänge, siehe QR Code in Musik der Stille (2023), 32:
Antiphona I: Sancta Maria, sucurre miseris ‒ Psalmus 109 Dixit Dominus; Interpretation: Heinrich Isaac-Ensemble, Karlsuhe; Leitung: Hans-Georg Renner
1.2.Lebendige Spiritualität (2015)
Schweigen:
(57:56) Im Gespräch: Das Geheimnis als Vater und Mutter (Gleichnis vom verlorenen Sohn) – Als tiefes Schweigen (Weihnachtsantiphon, Weish 18,14f.)
1.3. Mit allen Sinnen leben (1993)
Teil 3: ‹Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht› (Angelus Silesius):
(06:39) ‹Es ist jetzt 12 Uhr›: Das Läuten zum Angelus Gebet ist Anstoß zu einer Betrachtung über den Einbruch der Ewigkeit in der Zeit, in der auch die Katzen nicht fehlen
2. Weitere Auszüge aus : Musik der Stille (2023):
Beginn des Vorworts von Anselm Grün, 1f.:
«Der heilige Benedikt hat den Tag für seine Mönche so geordnet, dass sie siebenmal am Tag das Lob Gottes singen und in den nächtlichen Vigilien das Wort Gottes meditieren. Die frühen Mönche hatten noch ein Gespür für die Heiligkeit der Zeit. Jede Stunde sollte durch ein Gebet geheiligt werden. Heilig ist das, was der Welt entzogen wird, worüber die Welt keine Macht hat.
Durch die Heiligung der Zeit im Stundengebet wird deutlich, dass nicht wir es sind, die über die Zeit verfügen, dass die Zeit viel mehr Gott gehört und dass sie uns geschenkt ist. Jeder Augenblick ist, so verstanden, eine angenehme Zeit, eine Zeit der Gnade.
Jede Stunde hat ihre eigene Qualität. Das wird im Charakter der einzelnen Gebetszeiten deutlich, vor allem in den Hymnen.
Der Benediktiner David Steindl-Rast beschreibt die Gnade, die jede Stunde für uns bereithält. Und er verbindet das Geheimnis der Stunden mit der Musik des gregorianischen Chorals.
Der gregorianische Choral kennt acht verschiedene Töne. In diesen acht Tönen singt er die Psalmen. Wie jede Stunde ihre eigene Qualität hat, so auch jeder Choralton. Jeder Ton eröffnet einen Klangraum, in dem Gott anders erklingt. Jeder Ton eröffnet im Herzen des Singenden einen eigenen Geschmack. Und jeder Ton öffnet auch im Herzen der Sänger Räume, damit alle Bereiche der menschlichen Seele von Gottes Heil durchdrungen werden. Der ganze Mensch soll durch das Singen des Chorals geheilt werden.»
‹Die Tagzeiten›, 23-26; Text vollständig in Sinn und Feier:
«Die Glocke erweckt uns zum Jetzt und fordert uns auf, das zu tun, wofür es Zeit ist, weil es jeden Moment Zeit ist, etwas zu tun, auch wenn es bloß Zeit zum Schlafen ist.
Ein altes Motto lautet: ‹Age quod agis› ‒ ‹Tue, was du tust›.
Freiheit liegt darin, das, was du tust, wirklich zu tun.
Die liebevolle Antwort auf die Aufforderung eines jeden Augenblicks befreit uns aus der Tretmühle der Uhrzeit und öffnet eine Tür ins Jetzt.
Der Gesang lehrt uns noch etwas anderes über das Leben in der Gegenwart. Von einem Pragmatischen Gesichtspunkt aus ist er eine nutzlose Aktivität, er vollbringt nichts. Wir sind derart auf das Nützliche ausgerichtet, dass wir das Sinnvolle vergessen, das unserem Leben Freude, Tiefe und Wert verleiht. Musikhören oder Singen heißt etwas tun, was keinem praktischen Zweck dient. Es ist nur Feiern und Lobpreisen, es heißt nur, die Freude und Schönheit des Lebens, die Herrlichkeit Gottes zu kosten.
Musik sogar mitten in einem ganz zielgerichteten Tag anzuhören, erinnert uns daran, unserer Erfahrung eine andere Dimension hinzuzufügen, die Dimension des Sinnes, die das Ganze der Mühe wert macht.
Sich auf die Gesänge einzulassen, kann eine Art nüchterner Ekstase auslösen. Ekstase heißt wörtlich außerhalb von sich stehen.
Wenn wir singen oder Gesängen zuhören, haben wir Zugang zu jener Dimension, die außerhalb der Zeit ist: dem Jetzt.
Paradoxerweise brechen wir aus der Uhrzeit genau dann aus, wenn wir ganz im Augenblick sind.
Der Augenblick und die Ekstase gehören zusammen: Wenn wir wirklich hier, jetzt, in diesem Augenblick sind, dann sind wir ganz spontan auch ekstatisch.
T. S. Eliot spricht von ‹Musik, so innig gehört, dass sie nicht gehört wird, weil man selbst die Musik ist, solange sie forttönt.›[4]
Und in dieser Erfahrung sieht er einen Aspekt vom ‹Augenblick in und außer der Zeit›.[5]
Wenn wir lernen, die beiden miteinander zu verbinden und in und außer der Zeit zu leben, dann lassen wir aus der Polarität zwischen Zeit und Jetzt, zwischen Augenblick und Ekstase eine schöpferische Spannung entstehen.
Dank dieser inneren Einstellung können wir ein volles und schöpferisches Leben leben.»
‹Die Tagzeiten›, 26f.; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.4. und Erlösende Kraft:
«Die Beschäftigung mit dem Gesang entwickelt jene Haltung des Zuhörens und Antwortens in uns, die wir auf jede Handlung im Laufe des Tages übertragen können.
Wenn wir uns nach der Ganzheit und Harmonie sehnen, die entstehen, sobald wir ganz für jeden unserer Augenblicke da sind, so haben wir doch gleichzeitig auch Angst davor.
Wo immer wir den reinen Ruf des Augenblicks erleben und jedes Mal, wenn wir der nackten Wirklichkeit gegenüberstehen, erzittern wir.
Wir haben uns daran gewöhnt, die alltäglichen Düfte der Kompromisse in uns aufzunehmen und uns durchzumogeln ‒ werden wir plötzlich herausgefordert, reinen Sauerstoff einzuatmen, fürchten wir, gleich zu verbrennen.
Deshalb sagte Rilke: ‹Jeder Engel ist schrecklich.›
Und doch, was könnte schöner sein als ein Engel? Überwältigende Schönheit ist nicht hübsch. Eher ist es die Schönheit eines Gewittersturms: Er ist faszinierend und zugleich auch zum Fürchten.
‹Denn das Schöne›, sagt Rilke, ‹ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.›[6]
Wir sehnen uns nach einer Begegnung mit dem Engel. Wir sehnen uns nach einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit, und doch fürchten wir uns gleichzeitig davor, genauso wie wir Angst vor der überwältigenden Erfahrung haben, uns zu verlieben. Wir fliehen davor und werden dennoch unwiderstehlich davon angezogen.
T. S. Eliot bemerkt: ‹Die Menschen ertragen nicht sehr viel Wirklichkeit.›[7]
Warum haben wir Angst, im Jetzt zu leben? Wir fürchten uns, wirklich zu werden, genau wie die Spielsachen im Kinderbuch ‹Der Plüschhase›. Sie wollen alle wirklich werden ‒ das ist der größte Traum der Spielsachen, Zugleich fürchten sie sich davor, und deshalb fragen sie ein erfahreneres Spielzeug: ‹Tut Wirklichwerden weh?› Das ist dieselbe Angst, die wir haben. Tut die Begegnung mit der Wirklichkeit weh? Das alte Spielzeug gibt weise zur Antwort: ‹Wenn du wirklich bist, macht es dir nichts aus, dass es weh tut.›»
‹Vigil ‒ NACHTWACHE›, 36-39:
«DIE VIGIL IST DER SCHOSS der Stille und die längste Stunde. Der Gang zum Oratorium noch vor der Morgendämmerung unter dem Sternenhimmel, wenn die Mönche sich zur Vigil einfinden, erfüllt uns mit Ehrfurcht und ist ein geeigneter Beginn des klösterlichen Tages.
Die Vigil lädt dazu ein, sich der Nacht hinzugeben und trotz der großen Furcht, die sie einflößen kann, auf die Dunkelheit zu vertrauen. Es gilt zu lernen, dem Mysterium mit jenem Mut entgegenzutreten, der lebendig macht. Dann entdecken wir, was im Prolog zum Johannesevangelium mit dem geheimnisvollen Wort ausgesprochen wird: ‹Das Licht leuchtet in der Finsternis›. Das heißt nicht, dass das Licht in die Finsternis hineinleuchtet, wie etwa der Strahl einer Taschenlampe in ein dunkles Zelt. Nein, das Erfreuliche an der Botschaft des Johannesevangeliums ist, dass das Licht mitten in der Finsternis leuchtet. Das ist eine große Offenbarung; die Finsternis selbst leuchtet.
Deswegen singt der Psalmist: ‹Zur Finsternis will ich sprechen: Sei mein Licht!› Die Finsternis selbst als Licht zu erkennen, kann sehr tröstlich sein. Wenn Finsternis in uns herrscht, dann rufen wir mit dem Propheten aus: ‹Wächter, ist die Nacht bald hin?› Wann wird es endlich Tag?
Die Herausforderung besteht darin, tief genug zu schauen, um zu erkennen, dass diese Finsternis alles ist, was wir brauchen, und in ihr finden, was wir suchen. Wenn wir uns in den Gregorianischen Gesang vertiefen, dann hören wir Klang gewordene Finsternis, eine Finsternis, die leuchtet.
Der Nachtwind ist die natürliche Stimme der Vigil. Der Wind ist ein Symbol für Geist, den spiritus, ein Wort, das auch ‹Atem› und ‹atmen› bedeutet. Der Heilige Geist oder spiritus sanctus ist jener Lebensatem, der in der Finsternis weht. Der Gesang ist hörbar gewordener Geist. Er ist ein Symbol für den Wind, der im Geist weht, und wir wissen nicht, von woher er kommt und wohin er fährt. Er ist voller Überraschung und ganz und gar schöpferisch.
Um in diesem Choral mitzusingen, lernt man als Mönch, richtig zu atmen. Wer bewusst atmet, lernt, in seiner Mitte und dort gegenwärtig zu sein, wo er sich gerade befindet.
In einem seiner Gedichte spricht Robert Frost scherzhaft vom Wind, der nicht wusste, wie er blasen sollte, bis wir Menschen ihn in uns aufnahmen und ihm Stimme verliehen. Gesang – wie Poesie – ist der Wind, wie er sein sollte: ‹Der Zweck war Gesang›.[8]
Wir alle haben mit dunklen Zeiten zu kämpfen, wie Jakob, der nachts mit der göttlichen Gegenwart in Form eines dunklen Engels rang, der so verführerisch schön und doch so beängstigend war. Am Ende der Nacht sagt der Engel: ‹Lass’ mich los›. Jakob aber antwortet: ‹Ich lasse dich nicht, bis du mich gesegnet hast›. Als die Dämmerung anbrach, segnete ihn der Engel, aber er verletzte ihn auch, indem er ihn am Hüftgelenk berührte. Von jenem Tag an hinkte Jakob. Es gibt diese geheimnisvolle Verletztheit, die mit einem großen Segen einhergeht.[9]
Wenn wir der Nacht wirklich in ihrer ganzen Schönheit und ihrem ganzen Schrecken entgegentreten, dann haben wir keinerlei Zusicherung, dass wir unversehrt davonkommen. Gehst du aber verletzt daraus hervor, kann dies auch ein Zeichen des Segens sein, den du dort empfangen hast.
DIE STUNDE DER VIGIL ist auch ein Zeichen für das Erwachen, das wir inmitten unseres Lebens vollbringen sollen. Die Welt, in der wir leben, ist in der Tat eine umnachtete Welt. Das Wachen in der Nacht, das Warten auf Licht, ist eine Wachsamkeit, die uns eindringlich darauf hinweist, den Tag hindurch aus der Welt des Schlafs in eine andere Wirklichkeit zu erwachen.»
‹Laudes ‒ TAGESANBRUCH›, 50f., 57-58:
«Die Musik schwingt sich empor: Es ist ein Gesang der Freude und ein Gesang der Dankbarkeit. Diese festliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude zieht sich den ganzen Tag durch die Gesänge hindurch, sogar dann, wenn sie gemessener und zurückhaltender werden. Welche Gesänge wir uns auch anhören, es ist ein Widerhall dieser tiefen Freude darin zu hören, weil Freude selbst mitten im Leiden und mitten im Schmerz angebracht ist.
Freude ist jene Art von Glück, das nicht davon abhängt, was uns zustößt. Meist sind wir glücklich, wenn uns etwas glückt und unglücklich, wenn es uns missglückt. Wissen wir aber wirklich, was gut für uns ist? Was erlaubt uns, so wählerisch zu sein? Wahre Freude finden wir erst, wenn wir uns aus ganzem Herzen auf die Gelegenheit einlassen, die uns gerade jetzt geschenkt ist. Nur in dieser Hingabe finden wir wahre Freude und beständiges Glück, unabhängig davon, was sonst geschieht.»
«Die Gregorianischen Gesänge sprechen das Kind in uns an, weil sie die reine Freude am Lebendigsein ausdrücken. Die Freude äußert sich im Lobpreis Gottes und durchzieht sogar die klagenden Melodien der Gesänge. Freude ist etwas, das wir pflegen können: wenn wir erst einmal diese dankbare Freude in den Gesängen hören und ihre Schönheit unser Herz ergreift, dann können wir auf leichte und natürliche Weise anfangen, Dankbarkeit zu üben.»
«Die schlanken melodischen Linien des Gregorianischen Chorals in ihrer Einfachheit und überirdischen Schönheit wecken unsere volle Aufmerksamkeit. Sie entspringen einer tiefen Stille, und haben die Kraft, uns selbst still werden zu lassen, wenn wir sie nicht nur mit den Ohren aufnehmen, sondern mit dem Herzen. Diese Musik stumpft niemals unser Gehör ab, sondern verfeinert es. Ihre ‹asketische› Schönheit und ihre lautere Sinnlichkeit vermitteln den Hörenden mühelos Sammlung und jene besondere Lebenshaltung, die daraus entspringt.»
‹Prim ‒ BEWUSSTER BEGINN, 72-75; siehe Stop ‒ Look ‒ Go: Ergänzend: 1.:
«Wenn der Dirigent den Taktstock hebt, verharrt das ganze Orchester einen Augenblick in Stille ‒ danach erst setzt es mit dem ersten Abschlag des Taktstocks ein. Würde der Dirigent einfach aufs Podium steigen und unverzüglich damit beginnen, den Taktstock zu schwingen, könnte nie Musik daraus entstehen, sondern lediglich ein klanglicher Wirrwarr. Dieser Augenblick der Stille, bevor die Musik anhebt, ist auch beim Singen unerlässlich.»
«Man singt ja gemeinsam mit anderen, und gerade deshalb ist der Gesang so schön. Es ist nicht nur eine Stimme, die singt, sondern da singt eine Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft singt nicht einfach nur, sondern sie singt ganz bewusst mit der gesamten Schöpfung, mit den Vögeln, den Bäumen, dem Wasser und den Engeln, mit der sichtbaren und der unsichtbaren Kreatur.»
«Solange wir unsere Arbeit aus Liebe tun für diejenigen, die uns etwas bedeuten, macht sie Sinn. Die Liebe ist der beste Grund für unsere Mühsal. Liebe verwandelt alles, was wir tun und erleiden, zu einer Musik, die sich erhebt und weit hinaufschwingt wie ein Lobgesang.»
Terz ‒ SEGEN, 88f.:
«Unser Unbehagen in der Welt, die wir uns geschaffen haben, spricht von unserer Sehnsucht, am Strom der Gnaden teilzuhaben, Gottes Geist in einer wahren Begeisterung zu erleben und zu spüren, dass Lebensfreude mehr ist als ein flüchtiges Gefühl. Der Gregorianische Gesang ist die Musik, die unsere Verbindung zum Ganzen ausdrückt. Er sagt uns, dass wir letztlich nicht verwaist und entfremdet sind. Der Geist des Universums belebt unseren Leib und fließt als Gesang aus unserem Mund»
Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.,100, 102f.; siehe auch Besinnung:
«Am Mittag läutet es zum Angelus. Die Glocken läuten, wenn der Tag seinen Höhepunkt erreicht hat, und zu diesem Zeitpunkt beten wir den Angelus. Dieses Gebet ist nach den ersten Worten der Verkündigung im Lukas-Evangelium benannt ‹Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist.› In dem Bild der Gottesmutterschaft Marias feiern wir den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Und genau das verkündigt eigentlich jeder Engel: dass das Ewige jetzt in unsere Zeit einbricht.»
«DIE SEXT IST mit der Stille und dem Frieden des Mittags verbunden, aber sie lenkt den Blick auch auf Krisen und Gefahr.»
«Der Mittagsteufel ist die Stimme der Negativität, der Verzweiflung und der Depression. Sein Gegenspieler, der ihm entgegengesetzte Engel, ist die Freude. Das Gegenteil von Freude ist nicht die Traurigkeit, sondern die Faulheit, welche die Mühe scheut, auf den geschenkten Augenblick voll und ganz zu antworten, und die Trübsinnigkeit, die daraus entspringt.
Die Gregorianischen Gesänge erinnern uns daran, dass Leid ‒ etwa Kummer über einen Schicksalsschlag, den Tod eines Kindes, das Ende einer Freundschaft, große Enttäuschung – mit Freude doch letztlich vereinbar ist. Sie können inmitten der Freude tieftraurig klingen, niemals aber trübsinnig. In vielen Gesängen ertönen Psalmen, die alle Wechselfälle des Lebens umfassen. Trotzdem schleicht sich nie Verzagtheit ein, weil diese Musik im tiefsten Glauben wurzelt.»
Non ‒ DIE SCHATTEN WERDEN LÄNGER, 107:
«Früher am Tag schwangen Kraft und Begeisterung mit, doch mit der Non begegnen wir der Wirklichkeit, dass im Menschenleben nichts für immer währt. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass wir etwas nicht ewig behalten können? Wie gehen wir mit der unausweichlichen Unbeständigkeit des Lebens um? Genau das ist die Frage dieser Stunde.
Die Gesänge verkörpern sowohl die Vergänglichkeit als auch Dauerhaftigkeit. Keine Note klingt länger an als etwa eine Sekunde. Die Gesänge sind Bewegung und Veränderung. Dennoch vermitteln die ununterbrochenen Gesänge durch alle rhythmischen und melodischen Wechsel hindurch eine Qualität von Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit.»
Vesper ‒ DAS LICHTERANZÜNDEN, 122f.; siehe auch Erlösende Kraft: 3.2.:
«Schon das Anhören des Gregorianischen Gesangs wirkt versöhnlich. Auch andere Musik kann uns besänftigen und uns verwandeln. Diese Gesänge aber, die Klang gewordenes Gebet sind, wirken mit einer ganz besonderen Kraft auf uns. Wir sind nie frei von Konflikten oder Widersprüchen, aber gemeinsames Beten und Singen heilt und versöhnt.
Wenn wir tagein, tagaus in den acht Gebetszeiten in der Gemeinschaft singen, dann sinkt die rhythmische Ruhe der Gesänge tief in unsere Seele. Wir tragen sie dann in uns, wohin wir auch gehen. Diese Stille ist unsere innere Klausur. Und es mag wohl sein, dass diejenigen, die ein Einsiedlerleben in der Abgeschiedenheit wählen, das nur tun können, weil sie vorher jahrelang in Gemeinschaft gebetet und gesungen haben. Sogar wer diese Gesänge zu Hause hört, wird ihren mönchischen Geist tief in sich aufnehmen und ihre heilige Ruhe zu einer wesentlichen Dimension seines Innenlebens machen können.»
«Wir rücken näher zusammen, wenn es dunkel wird. Die Stunde der Vesper ist ein Aufruf zur Nachbarlichkeit. Diese dunkle Stunde der Weltgeschichte lädt uns ein, unsere Nachbarn näher kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam zu arbeiten und zu feiern. Wenn das Gemeinschaftsbewusstsein, das den Gregorianischen Gesang prägt, zu einem stärkeren Füreinandersorgen führt, dann kann das ein großes Geschenk der Mönche an die Welt sein.»
Komplet ‒ DER KREIS SCHLIESST SICH, 132f.:
«In Rilkes Stunden-Buch heißt es in einem Gedicht von geheimnisvoller Schönheit: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim, mit denen ich mich verlor.› Die Aktivität hat mich verschluckt, ich war besessen von Bewegung und Tun, und jetzt trete ich hinaus aus meinen Schwingen, um still zu sein.
Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.
Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.[10]
Er nennt dieses Gebet der Stille ‹ein besseres Gebet›, zumindest besser für diese Stunde. Die Komplet ist die Stunde, in der wir die Rückkehr der Gesänge, der Worte in die Stille feiern, aus der sie kommen.»
Das grosse Schweigen ‒ die MATRIX DER Zeit, 142f., entlässt uns am Schluss wieder in den Alltag; siehe auch Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 3.4.:
«Wir haben nun alle mönchischen Tageszeiten durchlaufen, den Kreis geschlossen und sind im großen Schweigen angelangt, der Brücke der Stille zwischen Komplet und Vigil, die erneut den Kreislauf der Stunden eröffnet. …
Die Botschaft der Stunden lädt uns ein, täglich nach dem wirklichen Tagesrhythmus zu leben. Aufmerksam, bewusst und absichtsvoll zu leben, unser Leben von innen heraus zu lenken und uns nicht von den Forderungen der Uhr oder äußeren Terminen oder von bloßen Reaktionen auf irgendwelche Geschehnisse fortreißen zu lassen.
Wenn wir dem wirklichen Rhythmus zufolge leben, werden wir selbst wirklicher.
Wir lernen, auf die Musik dieses Augenblicks zu lauschen, lernen, ihr süßes Flehen und ihre nüchternen Anweisungen zu hören.
Wir lernen, im Herzen ein wenig zu tanzen, unsere inneren Pforten einen Spalt weiter zu öffnen und auf die Musik der Stille, den göttlichen Herzschlag des Universums, zu horchen.»]
________________________
[1] R. M. Rilke: ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst› (Elegie an Marina Zwetajewa-Efron)
[2] Im Retreat-Woche in Assisi (1989) weist Bruder David bereits zu Beginn im Audio ‹Stärke unseren Glauben› (Lk 17,5) auf den wunden Punkt der Verkündigung hin: Die Trennung von Glauben und Loben.
[3] In Zeit der grossen Glocken:
«In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt.
Wir sind jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das Zeit überwindet.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit. Jetzt geht über Zeit hinaus.
Nur wir Menschen wissen, was ‹jetzt› bedeutet, weil wir ‹existieren›, ‒ weil wir aus der Zeit ‹herausragen›. Das ist ja die Bedeutung von Existenz. Und all diese klösterlichen Glocken wollen uns einfach erinnern: Jetzt! ‒ und sonst nichts.
Freilich können wir nicht behaupten, dass es uns schon gelungen sei. Um nochmals Eliot zu zitieren:
‹For most of us, this ist the aim
Never here to be realised;
Who are only undefeated
Because we have gone on trying.›
‹For us, there is only the trying. The rest ist not our business.›
‹Das Ziel hienieden
Den meisten von uns unerreichbar,
Wir, die nur unbesiegt bleiben,
Weil wir es stets aufs Neue versuchten.›
‹Für uns gilt nur der Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.›»
T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V und East Coker, V
[4] T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, V, in der Übertragung von Norbert Hummelt [Suhrkamp Verlag 2015, 60f.]; siehe auch Mystische Erfahrung: Anm. 1 und Stillehalten:
‹For most of us, there is only the unattended
Moment, the moment in and out of time,
The distraction fit, lost in a shaft of
sunlight,
The wild thyme unseen, or the winter lightning
Or the waterfall, or music heard so deeply
That it is not heard at all, but your are the music
While the music lasts.›
‹Für die meisten von uns gibt es bloß den unbeachteten
Augenblick, in der Zeit und außerhalb der Zeit,
Einen Anfall von Zerstreuung, verirrt in einem Schacht aus
Sonnenlicht,
Den wilden Thymian ungesehen, das Wintergewitter
Oder den Wasserfall, oder Musik, so tief gehört
Daß sie unhörbar wird, und Sie selbst die Musik sind
Solange sie währt.›
[5] Siehe Anm. 4
[6] R. M. Rilke: Erste Duineser Elegie
[7] T. S. Eliot: Four Quartets, Burnt Norton, I; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht: Ergänzend: 3.3. und Erlösende Kraft: Ergänzend: 3.1.:
‹Go, go go, said the bird: human kind
Cannot bear much reality.
Time past and time future
What might have been and what has been
Point to one end, which ist always present.›
[8] Robert Frost: ‹The aim was song›
[9] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 94f.:
«Das ist unser Wachstum eigentlich, nicht Siege, sondern vom immer Größeren besiegt zu sein.»
[10] R. M Rilke: ‹Ich komme aus meinen Schwingen heim› (Das Stunden-Buch)
Jetzt in diesem Augenblick
Video, Audios und Text von Br. David Steindl-Rast OSB
(Video 13:35) Isha Johanna Schury: «Aber was ich bei Dir jetzt heraushöre, ist, dass es unabhängig von dem äußeren Umstand immer mein inneres Jetzt gibt, und das innere Jetzt kann ich jederzeit mit Freude, mit erkennender Freude füllen, indem ich zulasse, zu erkennen, dass ich bereits beschenkt bin, weil ich schon atmen darf, weil meine Augen sehen dürfen, weil meine Ohren hören dürfen, und ich einfach hier sein darf und diesen Moment jetzt erleben darf. Verstehe ich das richtig?»
David Steindl-Rast: «Darum ist es so entscheidend, dass wir innehalten und dann horchen: hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir?
Es gibt mir eine Gabe, immer die Gelegenheit, die das Leben jetzt mir schenkt, ist eine Gabe, aber wie es heißt: In jeder Gabe ist eine Aufgabe enthalten und sehr häufig kommt es vor, dass unsere Ideen, was wir jetzt werden müssen oder sollen oder was wir noch aus uns machen sollen usw.: Das hat sehr wenig damit zu tun, was das Leben von uns will.
Und das ist eine der großen Schwierigkeiten: Nicht seine eigenen Ideen zu haben, sondern hinzuhorchen …
Wenn ich sage: Das Leben ‒ das sind die ganzen Umstände, in denen ich mich jetzt zur Zeit befinde ‒, und dahinter steht natürlich das große Geheimnis des Lebens selber, ist uns ein unauslotbares Geheimnis.
Wenn ich sage ‹Geheimnis, dann meine ich nicht irgendwie so was wie Geheimnistuerei oder etwas Verschwiegenes. Ich meine etwas ganz Konkretes:
Wir sind im Leben immer wieder konfrontiert mit einer Wirklichkeit, die hinter allen anderen Wirklichkeiten steht, eine Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können. Wir können sie nicht in den Griff bekommen, aber wir können sie verstehen, wenn wir hinhorchen.
(18:43) Isha Johanna Schury: «Woher weiß ich, welche Stimme gerade auf mich einspricht? Ich will sie unterscheiden, dass ich auch wirklich höre: Welche Stimme ist jetzt das wirkliche Leben und welche Stimme ist vielleicht mein Ego oder mein Brauchen, mein Wollen, meine Angst?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht meine Güte und mein Mitleid. Wer heute nicht mit tiefem Mitleid und Schmerz auf die Welt schaut, dem fehlt etwas.
Wenn man wirklich wach ist, musss man heute schon an der Welt leiden, leider.
Aber im gegebenen Augenblick ein gutes Glas Wasser zu haben, was Millionen Menschen fehlt, und einfach jetzt dieses Glas Wasser mit Freude und Genuss zu trinken …
Alle diese Ängste und Schmerzen für die Welt sind im Augenblick nicht wichtig für dich. Was für dich dir das Leben jetzt schenkt, ist dieses Glas Wasser und an dem darfst du dich vollkommen freuen und es genießen.
Darum ist dieses Eine jetzt wichtig und das Andere ist natürlich im großen Bild viel wichtiger, aber für dich jetzt ist etwas wichtig, was dir jetzt das Leben sagt.»
(28:35) Isha Johanna Schury: «Warum haben wir immer so das Gefühl, etwas zu versäumen, Bruder David?
Die Menschen haben immer das Gefühl, sie versäumen etwas und landen nie in ihrem Jetzt, sind immer entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und wenn doch Liebe im Leben nur im Jetzt stattfindet, warum versäumen wir dann so gern oder so oft unser Leben?»
David Steindl-Rast: «Es ist wieder die Frage: Können wir im Jetzt wirklich leben, können wir uns Üben, im Jetzt zu leben?
Und wenn wir dankbar leben, wenn wir im Augenblick ‒ in jedem Augenblick idealerweise ‒ hinhorchen, ganz da sind, für das, was das Leben uns zuspricht in diesem Augenblick und es dann versuchen zu tun, der Aufgabe gerecht zu werden: Wenn wir das tun, dann leben wir im Augenblick.
Und im Augenblick hat dieses Gefühl, etwas zu versäumen überhaupt keinen Platz, wird sind ja so beschäftigt mit dem, was wir jetzt tun, dass uns das gar nicht in den Sinn kommt.
Ich verstehe schon, was du damit meinst: immer das Gefühl haben, ich versäume etwas, aber das kommt nur davon, dass wir eben nicht wirklich im Jetzt leben.
Die Übung der Dankbarkeit ‒ Dankbarkeit als ein spiritueller Weg, das ist er ja ‒, auf diesem Weg zu gehen, ist eigentlich ein sehr sicheres Mittel, nicht in diese Angst zu verfallen, etwas zu versäumen.»
(37:05) David Steindl-Rast: «Und wir erleben immer wieder, dass das Leben es besser meint und besser weiß als wir. Das Leben ist weiser als unser kleiner Verstand.»
Isha Johanna Schury: «Ja! Das heißt, wir könnten uns dieses ganze Tamtam schenken mit ‹Finde deinen Lebenssinn, finde dies, finde jenes›: Macht das Sinn? Wahrscheinlich nicht so viel, oder?»
David Steindl-Rast: «Es ist schon eine sehr gute Frage: ‹Wie kann ich meinen Lebenssinn finden›? Und die Antwort ist: ‹Nicht dadurch, dass ich in mir grüble und mir selber Pläne mache ‒ das ist ja ein winziger Teil des ganzen Lebens ‒, sondern ich kann den Sinn meines Lebens dadurch finden, dass ich auf das Leben selber, wie es mir gerade jetzt in diesem Augenblick begegnet, hinhorche und antworte.»
(43:56) Isha Johanna Schury: «Ich hätte dich jetzt gefragt, ob sich aus dir noch etwas mitteilen möchte, abschließend für unser Gespräch, wo du das Gefühl hast, das möchte noch hinaus?»
David Steindl-Rast: «Vielleicht den Gedanken, den Tod allzeit vor Augen zu haben.
Das ist ein Satz aus der Regel des hl. Benedikt, der mich schon, bevor ich Benediktiner geworden bin, sehr berührt hat, und ich habe erkannt ‒ damals war ich so ungefähr 19 oder 20 Jahre, höchstens ‒, dann habe ich erkannt, dass unser ganzes Leben bis dahin dadurch geprägt war, dass wir den Tod allezeit vor Augen hatten. Das war ja mitten im Krieg und unsere Freunde sind immer wieder gefallen an der Front, die Bomben sind gefallen links und rechts, also, wir hatten den Tod allezeit vor Augen.
Und rückblickend, damals habe ich gesehen: ‹Ah, darum waren wir so glücklich!
Darum waren wir so freudig! Weil wir ‒ damals hätte ich das nie so ausdrücken können ‒, weil wir im Jetzt leben mussten.
Wenn man den Tod vor Augen hat, muss man im Jetzt leben.
Warum ich dann Mönch geworden bin und Benediktiner, hat viel damit zu tun, dass ich wirklich den Tod täglich vor Augen halten wollte. Und ich muss sagen, wenn ich auch sonst Vieles besser machen hätte können, aber das ist mir jedenfalls gelungen. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es keinen Tag in meinem Leben gegeben hat, an dem ich nicht viele Male den Tod vor Augen hatte.
Und darum muss ich sagen, ich hatte wirklich ein sehr freudiges Leben. Dafür bin ich auch sehr dankbar.»
[Videointerview Was am Ende wirklich zählt (2022); siehe auch ]
[Ergänzend:
1. Audios
1.1. Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 Nachmittag:
‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch› (Bruder David)
1.2. Wie uns dankbar leben heil und gesund macht (2011): Audio und Mitschrift:
(08:50) ‹Und da könnte man es ganz einfach sagen: Spiritualität ist aus der Ganzheit leben. Das ist dann diese Lebendigkeit, die aus der Ganzheit kommt, aus der Verbundenheit mit allen und allem.
Und da muss ich eben wieder auf ein persönliches Erlebnis zurückgreifen, denn wir wollen ja nicht etwas über die Sache sagen, sondern Ihr Erlebnis wecken: Wo haben Sie diese Einheit mit allen erlebt? Wo haben Sie diesen Geist, Lebensatem, diese Lebendigkeit, die alles verbindet, wo haben Sie die erlebt? (S. 3)
(15:02) Worauf es ankommt, ist, wir erleben dieses Einssein mit allem, und zwar mit uns selbst, mit allen und allem und mit dem Grund des Lebens, dem Lebensgrund. Und in diesen Augenblicken sind wir über ‒ da müssen Sie wirklich genau aufpassen, war das auch wirklich so bei mir? ‒, da sind wir irgendwie über die Zeit erhaben.
Es kann ein Augenblick sein, in dem sich so viel ereignet, als ob es Stunden gewesen wären, fast ein Leben lang. Es kann aber auch sein, dass eine ganze Stunde plötzlich vorüber ist, wie wenn es nur ein Augenblick gewesen wäre.
Also die Zeit verschiebt sich in diesen Gipfelerlebnissen, wir sind im Jetzt! Das ist das Entscheidende, wir sind wirklich im Jetzt. Und meistens sind wir nicht im Jetzt. Meistens sind unsere Gedanken 49% schon in der Zukunft und können es nicht erwarten oder fürchten, befürchten, was sich ereignen wird und 49% hängen noch an der Vergangenheit und bedauern, dass wir nicht mehr dort sind, oder beweinen die Umstände, dass wir uns als Opfer ansehen. Wir hängen an der Vergangenheit, wir strecken uns aus in die Zukunft. Und ungefähr 2% sind da für unser Bewusstsein, im Augenblick zu leben, im Jetzt zu leben. Und in diesen Augenblicken der Gipfelerlebnisse ‒ das ist für Maslow auch so bedeutend ‒, sind wir im Jetzt: vollkommen, 100% im Jetzt. Und darum erleben wir diese große Befreiung.
Es ist eine Befreiung von der Zeit. Wir sind jetzt im Jetzt ‒, wir sind wirklich Wir selbst. Nicht unser kleines Ich, sondern unser Selbst. (S. 4f.)
(23:29) In dem Augenblick, wo wir dankbar sind ‒ wieder, erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie wirklich dankbar waren ‒, sind wir im Jetzt. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.
Sind wir im Jetzt, sind wir Wir selbst. (S. 7)
(27:57) Wie kann man das also jetzt im Alltag auch üben? Wie kann man das praktizieren? Wie können wir es methodisch tun? Und wie können wir uns methodisch immer wieder an die Gelegenheit erinnern, die uns da geboten wird, und diese Gelegenheit verwenden im Jetzt?
Wie können wir immer wieder ins Jetzt kommen? Denn das ist das Ziel jeder spirituellen Übung. (S. 8)
(33:56) Wenn wir im Jetzt leben lernen, und das lernen wir durch die Dankbarkeit: Jedes Mal, wo wir dankbar sind, verschieben wir unser Gewicht vom Ich auf das Selbst. (S. 10)
(35:52) Und wenn wir im Selbst sind und im Jetzt sind, dann sind wir über den Tod erhaben. Dann brauchen wir keine Furcht mehr vor dem Tod haben.
Denn der Tod kommt, wenn meine Zeit um ist, aber das heißt gar nicht, dass mein Selbst davon betroffen wird.
Das Jetzt ist nicht in der Zeit.
Das wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, das Jetzt ist nicht in der Zeit. Aber unsere westliche Philosophie hat das schon sehr lange gewusst:
Die Zeit ist im Jetzt!
Wir stellen uns das meistens so vor, dass die Zeit eine lange, lange Linie ist. Auf der einen Seite ist die Vergangenheit, auf der anderen Seite ist die Zukunft. Wo ist jetzt das Jetzt? Es ist der kleine Abschnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn es ein kleiner Abschnitt ist, lade ich Sie dazu ein, diesen kleinen Abschnitt in die Hälfte zu schneiden und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist: Wo ist das Jetzt? Das ist Haarspalten. Gut ‒, solang es ein Haar ist, können wir es spalten.
Wir können es spalten, bis wir finden, dass das Jetzt, das wir erleben, zu unserem Leben gehört, nicht in der Zeit ist: In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf. (S. 10f.)
1.3. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Vertiefungsseminar:
(00:43) Dankbarkeit, der kürzeste Weg ins Jetzt zu kommen
1.4. Wie das Göttliche in uns wächst (2005)
Peak Experience, mystische Erfahrung, vier Kennzeichen (Mitschrift):
Wir sind JETZT im Augenblick, wir sind völlig gegenwärtig, JETZT im Augenblick
Fragen im anschließenden Gespräch:
Erlösung aus der Verstrickung in der Zeit
1.5. Festival «Die Kraft der Visionen» (1991)
2.1. Der Weg zu Fülle und Nichts ‒ Vortrag und Kanon auch als Mitschrift:
(34:19) Chronos: Zeit der Uhren und Kairos: Zeit zum Entschluss, völlig im Jetzt zu sein ‹dieses einzige Mal› (Rilke: Die Neunte Elegie)
1.6. Retreat-Woche in Assisi (1989); siehe auch Erlösende Kraft: Ergänzend: 2.3.:
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(14:48) ‹Wir sind die Treibenden› (Rilke: Die Sonette 1. Teil, XXII): ‹Sich in dieses Ausgeruhtsein einsinken lassen, das ist Gebet. Gebet im Unterschied von den Gebeten, die Mittel zum Zweck sind. Ausgeruhtsein ist die Voraussetzung zum Handeln›
2. Weitere Texte
2.1. Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Text und Anm. 2:
«Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe. Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt. Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt.»
Dr. Henning Klingen: «Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern ‹Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt.›»
2.2. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 20:
Ein Teilnehmer fragt, welche Formen und Wege es gibt, um ins Schweigen zu kommen und darin zu wachsen. Er erwähnt Zen-Meditation.
Bruder David: «Das Stichwort für dieses ins Schweigen kommen, ist ‹Innehalten›.
Der Grund, warum wir nicht immer schon im Schweigen sind, ist: Wir sind die Eilenden, Wir sind die Treibenden, sagt Rilke (Sonette an Orpheus 1. Teil, XXII):
Wir sind die Treibenden,
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.[1]
Und das Bleibende ist das Jetzt, das große Jetzt, der Augenblick und wir sind meistens so in der Zeit gefangen, wir hängen noch an der Vergangenheit und weinen, dass sie nicht mehr da ist, oder fühlen uns als Opfer der Vergangenheit, oder wir sind ganz ungeduldig in der Zukunft. Also wir sind in der Zeit gefangen. Das ist wie ein reißender Strom ‒ und ein reißender Strom ist noch ein zu schönes Bild, weil es nicht so organisch ist wie ein reißender Strom ‒, sondern ganz mechanisch: Wir sind in dieser mechanischen Zeit der Schweizer Uhren eingefangen, und im Augenblick des Innehaltens ‒ ein schönes Wort, ‹Innerlichkeit› ist da drin ‒ wird es schon schweigen, wird es schon still. Das werden wir dann gleich ein bisschen üben.»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 83-85:
«Zeit hat zwei Aspekte: Einen Positiven und einen Negativen. Der Negative ist, dass wir uns in der Zeit verfangen.
Die meisten von uns müssen zugeben, dass wir oft an der Vergangenheit hängen oder die Vergangenheit bedauern und sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sind oder / und zugleich auf die Zukunft schon nicht mehr warten können, und auch mit ihr beschäftigt sind, oder uns vor der Zukunft fürchten, und es bleibt ganz wenig Energie übrig, um im Jetzt zu sein.
Und auf dieses Jetzt kommt wieder alles an. Im Jetzt zu sein, das ist das Entscheidende.
T.S. Eliot, den ich schon mehrmals zitiert habe, sagt:
‹All is always now.› ‒ ‹Alles ist immer Jetzt.›[2]
Das klingt zuerst wie eine Binsenwahrheit, aber es ist eine ganz tiefe Einsicht.
Es ist nur Jetzt.
Wenn wir nicht im Jetzt sind, dann sind wir nicht wirklich da.
Was sich in uns an die Vergangenheit klammert oder auf die Zukunft schon ausrichtet, ist nicht da.
Das heißt nicht, dass man sich nicht erinnern soll. Erinnerung ist etwas Wunderbares:
Im Jetzt kann Erinnerung sein oder Planung, ist etwas ganz Wichtiges, kann auch Jetzt sein.
Aber es muss immer Jetzt sein, denn wenn’s nicht Jetzt ist, war es nur oder wird sein, und das i s t nicht.
Und wir wollen sein!
Nur im Sein, in der Lebendigkeit des Jetzt-Seins begegnen wir dem Geheimnis.
Der negative Aspekt der Zeit ist, dass wir in ihr gefangen sind.
Der positive Aspekt der Zeit ist, dass sie uns immer wieder neue Gelegenheiten schenkt.
Wir können uns hier überhaupt fragen: Warum soll es überhaupt Zeit geben? Warum ist nicht alles Jetzt?
Wenn alles nur Jetzt wäre, gibt es nur diese eine Gelegenheit, und das Leben ist so großzügig, dass es uns, wenn man diese Gelegenheit verpasst, eine neue Gelegenheit gibt.
Und wenn wir diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen, führt es zu einer weiteren Gelegenheit. Immer wieder eine neue Gelegenheit, solange wir leben, von Anfang bis Ende eine große Gelegenheit nach der andern.
Und dieses Innewerden bezieht sich letztlich auf die Gelegenheit.
Das Innehalten, damit wir diesen Automatismus der Zeit brechen und wirklich im Jetzt sind. ‒
Das Innewerden bezieht sich auf: die Gelegenheit innewerden.
Wozu ist jetzt, das Jetzt, die Gelegenheit?
Und meistens ist es die Gelegenheit uns zu freuen. Uns einfach an dem Geschenk zu freuen.
Wir können es kaum glauben, das ist 99% der Zeit, einfach jeder Augenblick eine Gelegenheit, uns zu freuen.
Aber wenn wir beginnen innezuhalten, innezuwerden, und dann zu antworten auf die Gelegenheit, die uns geboten wird, wird uns plötzlich b e w u s s t, dass eine Gelegenheit nach der andern eigentlich Gelegenheit ist, uns zu freuen.
Man kann das nur übersehen, weil wir entweder so in der Zeit befangen waren, dass wir gar nicht in der Gegenwart waren, oder weil wir alles so als gegeben hingenommen haben und nicht weiter darüber nachdenken.
Durch das Innehalten wachen wir dann auf und werden wirklich inne, was uns jetzt geschenkt ist.
Im Augenblick nachdenken, innehalten, innewerden: Was wird uns jetzt geschenkt?»
Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 88f., 91:
Eine Teilnehmerin fragt Bruder David:
«Wo ist die Entscheidung in dem Stop ‒ Look ‒ Go?»
Bruder David: «Das Entscheidende ist im Augenblick zu sein. ‒
Und das Stop ‒ Look ‒ Go ist eine Methode ins Jetzt zu kommen.
Wenn wir im Jetzt sind, dann fließt die Entscheidung schon durch uns durch und wir brauchen uns gar nicht mehr kompliziert zu entscheiden.
Wir sind eins im Selbst, im Jetzt, und es fließt durch.
Und wir kennen diese Situation, nicht von außen, sondern von innen.
Wir alle haben diese Situationen erlebt, in denen es sich einfach getan hat.
Und nachher fragt man sich, wie hast du denn das gemacht? —
Keine Ahnung! Es hat sich wie von selbst ergeben.
Es ergibt sich.»
Bruder David bringt das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der ein Kind aus den Flammen rettet. Und der Reporter fragt: «Wie war das, diese Entscheidung zu fassen?» «Entscheidung? — Ich hab es schon getan, bevor ich etwas gewusst hatte.»
«… Das ist dieselbe innere Kraft, Lebenskraft, die wir durch uns fließen lassen, wenn wir im Jetzt sind.»
Ein Mann meldet sich: Er kann nicht gut zuhören. … Er strengt sich an …
Bruder David: «Nur immer wieder üben und keine Energie daran verschwenden, sich zu ärgern, weil’s nicht gelungen ist. Die Energie wird schon gebraucht für den nächsten Ausgenblick und die nächste Gelegenheit.
Immer wieder anfangen. Das ist eben das große Geschenk, dass das Leben uns noch eine Gelegenheit und noch eine Gelegenheit gibt.»]
_______________________
[1] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Gedichte, 3; siehe auch Arbeit und Schweigen (1989), 296; Orientierung finden (2021), 98, und Audio in Ergänzend: 1.5.
[2] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Stillehalten
Jetzt und ewiges Leben
Text, Videos und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Morgens, mittags und abends erinnert das Angelusläuten vom Kirchturm die Gläubigen an die Botschaft, die der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria brachte, und an ihre Antwort, wie wir sie im Evangelium nach Lukas (1,26-38) lesen.
«Angelus» heißt (nach seinem ersten Wort im lateinischen Text) dieses täglich dreimal wiederholte Gebet. Es stellt gewissermaßen die christliche Parallele dar zu den durch Gebet geheiligten Zeiten im Islam und in anderen Traditionen.
An den drei Wendezeiten des Tages ‒ wenn die Nacht dem Tag weicht, wenn die Sonne sich am Mittag vom Aufstieg zum Abstieg wendet, und wenn der Tag sich abends neigt ‒ feiert das Angelusgebet den Einbruch des ewigen Jetzt in die Zeit und erinnert uns daran, in diesem Jetzt zu leben.
Die traditionelle Form dieses Gebetes ist einfach. Eine Abfolge der gleichen drei Verse zu jeder Tagzeit bildet sein Herzstück.
«Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist.»
Dieser erste Vers bietet ‒ vorausschauend ‒ eine Zusammenfassung dessen, worum es geht. Der zweite zitiert aus dem Evangelium (Lk 1,38), wie um uns einzuladen, selber mit Maria zu sprechen:
«Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Wort.»
Und der dritte Vers ‒ er stammt aus dem Prolog zum Johannesevangelium (Joh 1,14) ‒ will anzeigen, was sich damals ereignete und immer noch ereignet, wenn wir selber wie Maria das Wort Gottes mit offenem Herzen empfangen:
«Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» ‒
hat (richtiger) «unter uns Wohnung genommen», wohnt also heute wie damals unter uns.
Diese drei Verse sind miteinander verwoben durch ein dreimal wiederholtes Ave Maria, ein kurzes Gebet, das auch zum Großteil aus Worten des Verkündigungsengels an Maria besteht.
Von Kindheit auf habe ich den Angelus gebetet und kann bezeugen, dass er Kraft hat, dem Tagesablauf Form und Halt zu geben. Dreimal am Tag ruft uns dieses Gebet, inmitten aller Eile und Geschäftigkeit der Zeit, zurück ins zeitlose Jetzt.
Wann sollte denn das Wort Fleisch werden, wenn nicht jetzt?
Wie sollte das geschehen, wenn nicht dadurch, dass ich mich empfänglich öffne für den Heiligen Geist?
Was aber könnte mein Leben mächtiger verändern und dadurch auch meine Umwelt? Beim Angelus-Glockenläuten fließt der Mythos der Jungfrauengeburt[1] durch das Ritual des Angelus-Gebetes als lebensspendende Kraft in unser tägliches Leben ein.
Zu beten, nicht nur wenn es uns danach zumute ist, sondern wenn es Zeit ist ‒ und die Glocken erinnern uns daran ‒, das hilft uns, unser Leben auf den großen kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten einzustimmen. Es «erdet» und verankert uns sozusagen in jener größeren kosmischen Wirklichkeit, die unsere verschwindend kleine Existenz hält und trägt.
Und Du? Nimmst Du Dir manchmal Zeit, zu unterbrechen, was immer Du tust und tief zu atmen? Die Welt braucht unser bewusstes Bemühen, immer wieder aus der Zeit ins Jetzt zurück zu kommen und uns in jungfräulicher Empfänglichkeit dem Heiligen Geist zu öffnen.[2]
Durch den Glauben sind wir selber mitten in der Zeit dennoch in dem Jetzt verankert das über die Zeit hinausragt. Das gibt uns festen Halt im Auf und Ab unseres Bemühens, für Gottes Liebe Zeugnis abzulegen.[3]
Wenn Gott den Spatzen nicht vergisst, dann kann sein kurzes Zwitscherleben niemals verlorengehen. Nur in der Zeit kann etwas enden. Wenn aber die Zeit selbst längst nicht mehr ist, bleibt alles, was aus der Zeitperspektive so flüchtig erschien ‒ jedes Spatzentschilpen ‒, taufrisch aufgehoben in Gottes ewigem Jetzt.
Das Jetzt ist über die Zeit erhaben, wir erleben es aber in der Zeit ‒ Augenblick um Augenblick ‒ sozusagen «gebrochen», wie das farblose Licht, wenn es uns ‒ Farbe um Farbe ‒ aufleuchtet.
Darin liegt viel Trost für alle, die über einen Todesfall trauern, denn im ewigen Jetzt dürfen wir ja unsere Freunde, unsere Verwandten und unsere lieben Tiere wiederfinden ‒ allerdings auch alle, mit denen wir uns jetzt in der Zeit streiten; es ist also keine schlechte Idee, uns jetzt schon auszusöhnen.[4]
So ruft auch in meiner Erinnerung Auferstehung des Fleisches Augenblicke wach, in denen meine Lebendigkeit so intensiv wurde, dass sie plötzlich Zeit und Vergänglichkeit überragte und im ewigen Jetzt ‒ wenn auch nur flüchtig ‒ an Unvergänglichkeit streifte.
Ich schließe meine Augen und öffne sie innerlich. Jetzt grünt um mich ein Sommermorgen in den Ost-Tiroler Alpen. Von der blühenden Bergwiese, zu der mich ein Fußpfad heraufführte, geht es fast senkrecht hinunter zum Sommerheim der Wiener Sängerknaben, bei denen ich Präfekt bin. Mit offenen Augen ist das «damals in meinen Studententagen», in der Erinnerung aber ist es jetzt.
Auch damals war es ja jetzt; und jetzt ist immer jetzt.
Das Jetzt lässt sich nicht vervielfachen; es ragt über die Zeit hinaus.
Nur wir verfangen uns immer wieder in der Illusion von Zeit.
Manchmal aber scheint es uns, dass die Zeit still steht, weil wir einen Augenblick lang ganz im Jetzt sind ‒ und so in der Ewigkeit, dem ‹Jetzt, das nicht vergeht›.
(In meiner Erinnerung ist das so ein Augenblick:) Tief unter mir probt der Chor, und durch die große Stille steigt Ton um Ton silberklar zu mir empor ‒ da Vittorias (c 1548-1611) Motette «Duo Seraphim».
Wovon der Text spricht, wird jetzt hier Wirklichkeit: Von Anbetung hingerissen, rufen zwei flammen-geflügelte Engel einander zu: «Heilig, heilig heilig!»
Das ist zugleich meine eigene innerlichste Stimme, die da singt; und nichts sonst ist von Bedeutung, als dieses unerschöpfliche «Heilig, heilig, heilig!» im ewigen Jetzt.
Ein zweites solches Erlebnis fällt mir ein, weil es auch mit Musik verbunden ist, und auch auf die Auferstehung des Fleisches Licht wirft. In der Zeit spielt es sich ein paar Jahre später ab, in der bleibenden Wirklichkeit aber ist es jetzt.
Wieder bin ich Präfekt bei einem Knabenchor, diesmal in Florida. Es ist der Abend vor den langen Ferien. Die meisten der jungen Sänger sind schon auf der Heimreise. Einer steht noch beim Klavier und singt Händels Arie «O hätt’ ich Jubals Harf’ und Miriams süßen Ton» ‒ wohl zum letzten Mal, denn er steht kurz vor dem Stimmbruch und wird nicht zum Chor zurückkehren.
Selbst unter all diesen ausgewählten Knabenstimmen ist sein Alt von einzigartiger Schönheit. Wie bernsteinfarbener Honig fließt das Abendlicht schräg durch die hohen Bogenfenster des halbdunklen Raumes und scheint in dieser Altstimme Klang zu werden.
Jetzt muss ich eine blitzschnelle Entscheidung treffen. Neben mir steht das Gerät, das mir erlaubt, diese Stimme auf einem Tonband zu «verewigen». Soll ich die Taste drücken? Fast schon strecke ich die Hand aus, aber etwas in mir sagt ein klares «Nein!» Dieser Augenblick ist ja schon ewig.
Erinnerungen verblassen und verlöschen. Wenn aber meine Zeit um ist, wird das Jetzt jenes Tiroler Sommermorgens, das Jetzt jenes Abends in Florida, wird jedes Jetzt meines Lebens lebendige Gegenwart sein.
Nichts geht verloren, so flüchtig es erscheinen mag, denn «Alles ist immer jetzt».[5]
Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches und das schließt natürlich auch die Toten ein ‒ weil alles Vergängliche unvergänglich aufgehoben ist im Jetzt, das nicht vergeht.
Es muss nicht wiedergebracht werden aus dem Staub, wie die Leiber der Verstorbenen auf mittelalterlichen Bildern vom jüngsten Gericht. Es ist ja mit dem auferstandenen Christus «in Gott verborgen» (Kol 3,3), gegenwärtig.
Darum vertraue ich, dass wir unsere Lieben mit jeder Sommersprosse und mit jedem Grübchen in der uns so lieben Wange «wiedersehen» werden, wenn wir «Gott schauen». «Gib mir Liebende», sagt Augustinus, «denn die wissen, was ich meine». Das kann auch ich hier sagen.
Vielleicht bist Du schon alt genug, um Fotos von Verwandten und Freunden zu besitzen, die Du von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod kanntest.
Dann schließt Deine Liebe doch das Nackerpatzerl (liebevolle österreichische Ausdrucksweise für kleines nacktes Kind) in der Badewanne ebenso ein wie den zahnlückigen Volksschüler, den ruppigen Buben auf dem Fahrrad, den zum Abschluss-Ball geschniegelten Maturanten, das junge Ehepaar, und so Bild um Bild bis zum letzten matten Lächeln.
In welchem der Bilder siehst Du den von Dir geliebten Menschen? Nicht doch in jedem? Musst Du wählen?
Dieses Jetzt des Lebens ist gegenwärtig im «Jetzt, das nicht vergeht», das heißt in der Ewigkeit.
«Wir sind die Bienen des Unsichtbaren», schrieb Rilke.
«Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»
(«Inständig sammeln wir den Honig des Sichtbaren, um ihn anzuhäufen in der großen goldenen Wabe des Unsichtbaren.»[6])
Unsichtbar heißt hier: dem Bereich der Sinne entzogen. Sommermorgen und Winterabend, das «Heilig, heilig, heilig!» der Seraphim und «Miriams süßer Ton» sind nicht nur physiologisch gespeichert in meinem zur Verwesung bestimmten Gehirn.
Sie sind meinem über Zeit und Raum erhabenen Selbst mit der Glut des Geistes eingebrannt. Wenn einst der Wassertropfen meines Lebens ins Meer zurückkehrt, wird er nach dieser Musik schmecken, und das Meer wird diesen Geschmack unverlierbar enthalten.[7]
Manchmal in unserem Leben, und gerade wenn wir bis in die tiefsten Schichten unseres Seins wach und lebendig sind, können wir eine Art Zeitlosigkeit erfahren.
Minuten oder sogar Stunden können uns in diesem Bewusstseinszustand wie ein einziger Augenblick erscheinen.
Die Uhren ticken weiter, aber für uns steht die Zeit still.
Solche Augenblicke liefern den Erfahrungsinhalt für den Begriff von Ewigkeit.
In elegantem Latein definiert Augustinus Ewigkeit als «nunc stans»: Das «Jetzt», das nicht vergeht, weil es jenseits aller Zeit «steht».[8]
Ewigkeit hebt die Zeit auf. Danach sehnt sich das menschliche Herz.
Wie Goethes Faust wollen wir alle zum Augenblick sagen: «Verweile doch, du bist so schön!» Oder wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) es ausdrückte: «… alle Lust will Ewigkeit ‒, will tiefe, tiefe Ewigkeit!»
Unser ganzes Wesen sehnt sich nach Befreiung von einer Zeit, die alles Gegenwärtige ununterbrochen zur Vergangenheit abbaut, so wie das Meer die Sandburgen, die wir als Kinder bauten, am nächsten Morgen immer wieder eingeebnet hatte. Mit unserem ganzen Leben geht es uns so:
«Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfäIlt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.»[9]
Der Gegenpol zu solchem Zerfall ist aber nicht einfach Bestand; damit blieben wir ja immer noch im Bereich von Zeit.
Was wir als Ewigkeit erahnen, ist nicht statisch, sondern im höchsten Grad dynamisch. Es ist jene von Zeit befreite Lebendigkeit, nach der sich alles in uns sehnt ‒ Ewiges Leben also.
Weil die uns hie und da flüchtig geschenkte Erfahrung davon weit über unsere jetzige Begrenztheit hinausgeht, schreiben wir sie dem göttlichen Leben zu, dem Heiligen Geist.
Je besser wir lernen im Jetzt zu leben, umso lebendiger werden wir. Das kann jeder Mensch durch eigene Erfahrung überprüfen. Auf Grund dieser Erfahrung vertrauen wir im Glauben, dass wir, wenn unser zeitliches Leben um ist, in Gottes ewiges Leben eingehen werden mit jener Lebendigkeit, die jetzt schon unsere eigentliche ist.
Tief innerlich verstehen wir, was Rilke meint, wenn er sagt:
«Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.»[10]
Wer bekennt: Ich glaube an das ewige Leben, der verlegt das Schwergewicht seines Lebens auf das Jetzt, in dem die Zeit aufgehoben ist.
Von dieser Mitte her können wir «in Fülle» leben, weil Zeit für uns auf eine höhere Ebene hinaufgehoben ist. Wir brauchen uns nicht länger darüber Sorgen zu machen, dass unsere Zeit unaufhaltsam abläuft. Die Zeit, die so abläuft, ist für uns schon jetzt aufgehoben, sie ist außer Kraft gesetzt, abgeschafft. Aber gerade deshalb dürfen wir jeden Augenblick als Gabe und Aufgabe voll ausschöpfen. Das Jetzt in der Zeit gibt uns ja Zugang zum Jetzt, das über Zeit erhaben ist.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass alles, was schön und gut und echt ist an der Zeit, aufgehoben und geborgen ist im ewigen Jetzt; mit jeder für uns bedeutsamen Einzelheit ist es liebend aufbewahrt dort, wo wir letztlich zuhause sind ‒ in Gott.
Weil wir an das ewige Leben glauben, dürfen wir das Leben hier ‒ wo immer wir sind ‒ im großen Jetzt, das die Zeit aufhebt, feiern.[11]
(Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4, 7, 10f.)
[Ergänzend:
1. Videos
1.1. Videointerview von Ramon Pachernegg mit Bruder David (2017), siehe auch Transkription:
(08:35) «Das JETZT ist nicht ein kleiner Teil der Zeit, sondern richtig verstanden ist das JETZT die Ewigkeit, also Nicht-Zeit ‒ das Gegenteil von Zeit, denn es geht über die Zeit hinaus. Es ist falsch zu sagen, das JETZT ist in der Zeit. Es ist richtiger zu sagen, die Zeit ist im JETZT»
1.2. Wir sind daheim in dieser Welt (1975); siehe auch Transkription:
(40:09) ‹Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.›
2. Audios
2.1. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde› – Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke) – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.2. Dem Welthaushalt freudig dienen – Spiritualität 2011
Dem Welthaushalt freudig dienen: Pater Johannes und Bruder David im Gespräch:
(06:23) Ein bayerischer Biergarten im Himmel: Das Jetzt ist nicht in der Zeit ‒ die Zeit ist im Jetzt
2.3. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Gespräch:
(11:56) Im Jetzt leben ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot)‚ ‹Nunc stans›: das Jetzt, das nicht vergeht (Augustinus) / (14:04) Warum gib es überhaupt Zeit? Bruder David zu Zeit und die Gelegenheit, Jetzt und Sterben, Tod / (15:44) Wie viele Gelegenheiten hast du verpasst in deinem Leben? ‹Was immer wir wählen, wird uns geschenkt, und was wir zurückweisen, wird uns am Ende auch geschenkt› (Tania Blixen [Isak Dinesen]: ‹Babettes Fest›)
2.4. Wähle das Leben (1992)
Vortrag in folgende Themen zusammengefasst:
(17:35) ‹Nunc stans› – Ankommen in der Ewigkeit
(26:02) Wenn jedes Jetzt meines Lebens gegenwärtig ist / (28:44) Nicht ohne meinen Hund
2.5. «Im Paradoxen Sinn erfahren»: Vortrag der Tagung Aufwachsen in Widersprüchen (1989); siehe die Transkription des Vortrags, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 61f.; siehe auch Jetzt im Doppelbereich: Ergänzend: 2.3.:
(11:07) «Im tiefsten fragt unser Herz das, von Anfang an: W e r b i n i c h? ‒ Was bedeutet aber diese Frage? Die Betonung müsste da auf dem ‹b i n› liegen.
Ich muss mit dieser Spannung leben, dass ich der bin der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet und es doch in der Zeit verwirklichen muss.»
2.6. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Das Glaubensbekenntnis mit eigenen Worten zusammenfassen ‒ Ausklang mit Rilke Gedichten und dem Thema Reinkarnation:
(39:47) Im Jetzt leben: Deshalb das Desinteresse der jüdischen Propheten an Themen, die in den Religionen ihrer Nachbarvölker einen zentralen Platz einnehmen. ‒ «Von einem einzigen Punkt aus, wenn ich wirklich da bin, habe ich zu allem Zugang»: Br. David ermutigt zum wissenden Nichtwissen
3. Weitere Texte
3.2. Jetzt im Stundengebet: Ergänzend: 1.3. Audio und 2. Sext ‒ INBRUNST UND HINGABE, 94f.
3.3. Orientierung finden (2021): ‹Das Jetzt ‒ im Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit›, 81f.:
«Wir stellen uns typisch die Zeit als eine Linie vor, auf der das Jetzt der kurze Abschnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Aber wie kurz dieser Abschnitt auch sein mag, wir können ihn in die Hälfte teilen. Dann ist die eine Hälfte n i c h t, weil sie vergangen, also nicht mehr ist; die andre Hälfte ist auch n i c h t, weil sie zukünftig, also noch nicht ist. Wir können diesen Teilungsprozess ad infinitum fortsetzen. Es zeigt sich also, dass dieses Jetzt, mit dem wir doch so vertraut sind, gar nicht in der Zeit ist. Im Gegenteil, wir sind berechtigt zu sagen: Die Zeit ist im Jetzt.
Alle Vergangenheit war ja einmal jetzt, und wenn die Zukunft kommt, wird sie jetzt sein.
‹Alles ist immer jetzt›, sagt T. S. Eliot ‒ ‹all is always now›.
Nur was jetzt ist, ist, sonst war es oder es wird erst sein, ist also nicht.
Wie erstaunlich: Mitten in der Vergänglichkeit erleben wir etwas, das Dauer hat ‒ das Jetzt. Johann Gottfried Herder (I744-1803) schrieb:
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir,
und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissen's nicht) in Mitte
der Ewigkeit.
Das Jetzt ist ‹der Schnittpunkt des Zeitlosen mit der Zeit› (T. S. Eliot) ‒ der Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit.
Ewigkeit ist ja nicht eine endlos lange Zeit, sondern der Gegenpol zu Zeit, ‹das beständige Jetzt›, das ‹nunc stans›, wie Augustinus Ewigkeit definiert. Wenn deine Zeit um ist, bleibt nur deine Ewigkeit.
Schon heute lebst du aber im Doppelbereich, gehörst also beiden Bereichen an.
Außen stehst du mitten in der Zeit; innen in dir aber ist die ‹Mitte des Immer, drin du atmest und ahnst›, wie Rilke in der ‹Elegie an Marina› schreibt.
Und für T. S. Eliot ist das Jetzt ‹der Augenblick in und außerhalb der Zeit› ‒ die Ewigkeit inmitten der Zeit.
Mein Selbst gehört zum Bereich der Ewigkeit. Mein Ich gehört zum Bereich von Raum und Zeit. Aber diese beiden sind der eine untrennbare Doppelbereich. Ich selbst bin eins ‒ nicht aus zwei Hälften zusammengesetzt. In diesem Bewusstsein zu leben, heißt im Jetzt leben. Nur dann bin ich ‹Ich-Selbst›.»
3.4. Credo (2015): ‹gestorben›, 128f.:
«Meine Generation im Wien jener Zeit wuchs in Todesnähe heran. Über unseren Teenager-Jahren hingen die Gewitterwolken des Zweiten Weltkriegs, und täglich schlugen Blitze ein. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen ist mir meine Jugend als eine Zeit strahlender Lebensfreude in Erinnerung. Bombenangriffe töteten täglich Unzählige; unsere etwas älteren Freunde fielen einer nach dem andern, an der Front; wir selber konnten an keine Zukunft denken. ‒
Dann war der Krieg plötzlich zu Ende, und ich wurde mir bewusst, dass ein Leben vor mir lag. Das kam wie ein Schock.
Da erinnerte ich mich an eine Mahnung aus der Regel des hl. Benedikt ‹Den Tod allzeit vor Augen haben!› und es war mir auf einmal klar: Mit diesem Bewusstsein sind wir ja aufgewachsen!
Zugleich sah ich aber ein, dass wir gerade deshalb so intensiv gelebt hatten. Wir mussten immer im Augenblick leben, und das ist ja der Schlüssel zur Lebensfreude. Es ist auch der springende Punkt im Mönchsleben.
Die Mönche der verschiedensten Religionen ‒ das sollte ich später erfahren ‒ sind sich darin einig dass alles darauf ankommt, im Jetzt zu leben.
Um die Lebensfreude, mit der ich aufgewachsen war, nicht versickern zu lassen, wurde ich schließlich selber Mönch. Und ich muss gestehen ich würde es wieder tun.
Auch das Mahnwort ‹memento mori› ‒ ‹Denk an das Sterben› ‒, das oft auf klösterlichen Sonnenuhren zu lesen ist, zielt auf das Im-Jetzt-leben ab.
Darum findet man nicht selten auch die Version ‹vergiss nicht zu leben!› Dies ist ja gemeint mit dem ‹Vergiss das Sterben nicht›. Also: ‹Carpe diem!› Nütze jeden Augenblick! Ein ‹guter Tod› ist ja die Frucht eines vollen Lebens. Diese Frucht reift mit jedem Atemzug; wenn wir rückhaltlos leben, dürfen hoffen, dass sie mit unserem letzten Atemzug ausgereift sein wird.»
3.5. Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91:
«Das Jetzt ist ein ganz geheimnisvolles Geschenk.
Wir meinen, das Jetzt sei diese kleine und kleinste Strecke auf dieser Linie der Zeit, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft geht: Links ist die Vergangenheit, die ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und rechts ist die Zukunft, die ist noch nicht, also auch nicht.
T.S. Eliot: ‹All is always now› ‒ im Jetzt,
und das ist nicht diese winzig kleine Strecke dazwischen.
Solange es eine Strecke ist, können wir sie in die Hälfte teilen und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist, und wenn jemand sagt: ‚Das ist Haarspalterei!‘ Stimmt! Aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten. (Gelächter). ‒
Und wir kommen zu der Einsicht, dass das Jetzt gar nicht in der Zeit ist, im Gegenteil: Die Zeit ist im Jetzt.
Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, sind wir im Jetzt in der Vergangenheit.
Wir können uns nicht an die Vergangenheit erinnern und in der Vergangenheit sein.
Die ganze Vergangenheit ist eingeheimst in das Jetzt.
Und wenn wir an die Zukunft denken, ist sie auch Jetzt und wenn die Zukunft kommt, wird sie Jetzt sein:
‹All is always now› — ‹Alles ist immer Jetzt›.
Und die Zeit ist einfach eine Ausdrucksweise dieses übervollen Jetzt, das uns nicht nur diese eine Gelegenheit geben will, sondern die vielen Gelegenheiten.
E s teilt aus, es schenkt und schenkt und schenkt eine Gelegenheit nach der andern: Das ist das Jetzt.
Das Jetzt ist das Geheimnis, das Jetzt ist auch die Ewigkeit.
Das ist ja die Definition von Ewigkeit in der westlichen Tradition: ‹Nunc stans›, ‹Stehendes Jetzt›: Sehr elegant auf Lateinisch, nur zwei Wörter: nunc heißt jetzt und stans: es bleibt stehen.
Das Jetzt, das nicht vergeht.
Das ist die Ewigkeit, Ewigkeit ist nicht eine lange, lange Zeit.
Dieses Jetzt ist nicht nur das Jetzt des sich Freuens, sondern auch das Jetzt des Ringens, des Sturmes, – nicht nur das Bauen, sondern auch das Ringen ist das Tun.»]
___________________
[1] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 94:
«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.»
[2] Credo (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 99f. und 101
[3] Credo (2015): ‹Am dritten Tage auferstanden von den Toten›, 155
[4] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 212
[5] T. S. Eliot: Four quartets: Burnt Norton, V; siehe auch in Ergänzend: 3.3. und in Stillehalten
[6] Rilke im Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105f.
[7] Credo (2015): ‹Auferstehung der Toten›, 217-220; siehe auch Seele
[8] Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.
[9] R. M. Rilke, 8. Duineser Elegie
[10] Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›,
das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.
Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Geschichte war nie mein Lieblingsfach. Unter Hitler waren wir überzeugt, dass unsere Geschichtsprofessoren uns belogen, weil die ganze Vergangenheit zugeschnitten werden musste auf ihre glorreiche Krönung durch das Dritte Reich. Jetzt aber reizte es mich, etwa die Grundidee der (allerdings dann völlig aufs falsche Gleis geratenen) Französischen Revolution mit frischen Augen zu überprüfen, und ich fand sie begeisternd.
«Liberté, Égalité, Fraternité» ‒ war darin nicht die Idee für eine Neuordnung enthalten, die damals schon dringend notwendig war, von der heute aber unser Überleben abhängen könnte?
Freiheit beginnt und endet mit Gewaltfreiheit, zu der ich mich verpflichte. Gewalt macht unfrei, denn sie ist die Perversion von Macht.
Die einzig schöpferische Anwendung von Macht ist die Ermächtigung anderer, und sie befreit den, der ermächtigt, nicht weniger als den, der sich ermächtigt weiß.
Gleichheit ist nicht Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung. Es wurde mir immer deutlicher, dass eine dynamische Ordnung auf diesem Grundrecht beruht. Wo wir die Furcht überwinden, da wird aus dem Konkurrenzkampf ein Zusammenspiel von Geben und Nehmen unter Gleichberechtigten ‒ aber auch Gleichverpflichteten.
Brüderlichkeit betont die Gleichheit, indem sie ihren Ursprung benennt, dass wir eben alle der einen Menschheitsfamilie angehören, und weist zugleich auf den schönsten Ausdruck des Familiensinns hin: aufs Teilen.[1]
Johannes Kaup: «Das dominante Denkmodell, in dem wir jetzt noch leben und das auch in den 90er-Jahren ganz erfolgreich propagiert wurde, ist das Wettbewerbsdenken: Wir stehen alle im Wettbewerb miteinander, das wurde bis ins Bildungssystem hinein implementiert. Die Vertreter dieses Modells argumentieren so: Der Wettbewerbsgedanke steckt schon von Anfang an in allen Menschen. Es geht nur darum, dass man ihn zum Wohl der Gesellschaft lenkt. Man kann das schon im Kindergarten beobachten: Die Kinder konkurrieren um das beste Spielzeug, um die Gunst der Erzieherinnen, in der Schule konkurrieren sie um die besten Noten, am Arbeitsplatz um die beste Position, um das Einkommen, im Kunst- und Kulturbetrieb um die meiste Anerkennung, die beste Position, in der Politik um Wählerstimmen.
Überall, wo wir hinschauen, ist Wettbewerb. Aber Wettbewerb bedeutet auch: Es gibt Gewinner und Verlierer.
Ganz tief in uns drin haben wir gelernt, dass es ohne Wettbewerb keinen Antrieb gäbe, uns anzustrengen und weiterzuentwickeln, etwas Großes zu schaffen. Es scheint also, dass Konkurrenz und Selektion die entscheidende Triebfeder für den Fortschritt sind. Stimmt das Ihrer Ansicht nach?»
Bruder David: «Nur halb. Im Konkurrenzgedanken, wie wir ihn kennen, ist zweierlei enthalten: einerseits das Bestreben zu übertreffen und andererseits das Bestreben, den anderen zu übertreffen. Das ist zweierlei und nur in unserem Denken so vermischt, dass wir es kaum unterscheiden können. Aber es lässt sich unterscheiden.»
Johannes Kaup: «Der Unterschied könnte sein, einerseits gut zu sein und andererseits besser als ein anderer zu sein.»
Bruder David: «Das Gut-sein-Wollen, das Sich-selbst-übertreffen-Wollen ist positiv. Aber wie gut ich bin, daran zu messen, wie weit ich den anderen herunterdrücken kann, das ist falsch, weil es lebenszerstörend ist. Auch das lässt sich an der Natur ablesen: Hier will jede Pflanze sich und ihr innerstes Leben verwirklichen, aber nicht die andere unterdrücken.»
Johannes Kaup: «Es gibt auch Unkrautpflanzen, die andere überwuchern, sich auf Kosten der anderen entfalten.»
Bruder David: «Das ist Interpretation. Nicht auf Kosten der anderen. Sie wollen sich entfalten und tun das auch, aber nicht im Kampf gegen die anderen. Das als Kampf anzusehen, ist die Interpretation, die wir dem Beobachteten überstülpen. Die andere Pflanze muss sich umso mehr entfalten in ihrer Art und das heißt vielleicht, dass sie sich verändern muss. Es geht um gegenseitige Beeinflussung.»
Johannes Kaup: «In der Pflanzenwelt gibt es aber auch Verdrängung: In den Alpen wurde beispielsweise vor einigen Jahren eine Himalaya-Pflanze eingeschleppt und sie verdrängt massiv heimische Arten, einfach deshalb, weil sie widerstandfähiger ist. Von daher ist das Bild vielleicht etwas schief.»
Bruder David: «Aber die Verdrängung anderer Pflanzen ist ein Nebenprodukt der Selbstentfaltung, nicht das Ziel. Darin liegt der Unterschied. Für uns Menschen ist das höchste Ziel Entfaltung und Zusammenspiel aller. Ich erinnere mich an einen Bericht über Indianerkinder, die einen Fußball bekommen haben. Sie haben begeistert mit dem Ball gespielt, aber dann wurden sie in Mannschaften aufgeteilt und mussten gegeneinander spielen. Auf einmal haben sie das Interesse völlig verloren. Ihre Freude kam vom Miteinander, nicht vom gegeneinander Spielen.»
Johannes Kaup: «Ich finde, auch das Gegeneinander hat einen Reiz, solange es ein Spiel ist und nicht Scham und Angst erzeugt.»
Bruder David: «Solange man sich freuen kann, wenn der andere gewinnt.»
Johannes Kaup: «Ich spiele ebenfalls Fußball zusammen mit anderen. Aber ich möchte auch ein Tor schießen. Wenn allerdings ein anderer aus meiner Mannschaft die Möglichkeit hat, dann freue ich mich mit ihm.»
Bruder David: «Kann ich mich nicht auch freuen, wenn die andere Mannschaft ein Tor schießt? Geht es um das Besiegen der Gegenpartei oder um ein begeisterndes gemeinsames Spiel? Je besser ich spiele, desto mehr treibe ich den anderen an, noch besser zu spielen. Das wäre Konkurrenz, wie sie sein sollte, nicht wie sie ist.»
Johannes Kaup: «Das ist sozusagen Qualitätskonkurrenz und nicht Verdrängungskonkurrenz.»
Bruder David: «Ja! Das sind hilfreiche Begriffe in diesem außerordentlich schwierigen Bereich. Der eine Aspekt von Konkurrenz, die höchstmögliche Selbstverwirklichung, ist positiv zu bewerten und ist auch mit die Triebfeder für Entwicklung und Entfaltung.»
Johannes Kaup: «Das andere Verständnis der Konkurrenz scheidet die Menschen in die Erfolgreichen, die Gewinner, und die Verlierer auf der anderen Seite. Wir sehen das im Weltmaßstab: Manche Volkswirtschaften sind darauf angelegt, die übrigen abzuhängen. Das hat soziale Konsequenzen, wenn andere Nationen im Verlauf abgehängt werden in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Vom System her betrachtet, kann das nicht gesund sein.»
Bruder David: «Das System ist das Wichtige. Man muss auf das Ganze schauen und sehen, wie der Erfolg des Einzelnen im Rahmen des Ganzen wirkt. Im Rahmen des Ganzen ist das Sich-selbst-Übertreffen positiv zu werten, aber eine Selbstverwirklichung auf Kosten des anderen, das scheint mir im Großen gesehen das System nicht zu fördern.»
Johannes Kaup: «Vor allem, weil es von einer falschen Selbsterfahrung ausgeht, denn eigentlich sind wir immer von anderen, durch andere und auf andere hin.»
Bruder David: «Richtig. Diese Sichtweise auf die Dinge stammt schon von einem isolierten und abgetrennten, abgesonderten und daher sündigen Ich, vom Ego und nicht vom Ich-Selbst, das sich mit allen anderen verbunden weiß.»[2]
(Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1f.)
[Ergänzend:
Audio Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog (2014); siehe auch Mitschrift des Vortrages:
(16:39) Was meinen wir mit Ego im Zusammenhang mit Ich und Ich-Selbst?
(20:41) Das Ich ist einzigartig ‒ das Selbst ist Eines. ‒ Wenn das Ich das Selbst vergisst, wird es zum Ego: Das Ich auf der langen fließenden Skala zwischen dem weit offenen lebensfrohen Ich-Selbst und dem ganz in sich verschrumpften kleinen Ego.
(26:44) Das Ego und die Folgen: Furcht, Gewalttätigkeit, Konkurrenzkampf, Gier:
(26:44) «Warum ist das Ego aber schlecht, was ist das Problem, wenn man vergisst, dass wir alle eins sind? Darum geht’s ja: Wenn man das Selbst vergisst, hat man vergessen, dass wir alle eins sind. Warum ist das so problematisch?
In dem Augenblick beginnt alles schief zu gehen.
Und zwar das Erste, das immer passiert, ist: Wir bekommen Furcht. Wir fürchten uns. Wenn ich glaube, dass ich jetzt allein bin ‒ man braucht sich ja nur einen Augenblick in dieses Ich jetzt einlassen und ganz wirklich versuchen, das Selbst ein bisschen auszublenden und zu vergessen, dann muss ich mich ja fürchten. Da sind diese ganzen Millionen und Milliarden von anderen Ich rund und mich herum: Wir haben nichts gemeinsam oder sehr wenig und jedes Ich ist die Mitte seiner Handlungen und seines Lebens. Da muss ich mich ja fürchten, dass die Anderen mir was antun.
Also das erste, was immer der Furcht entspricht, ist Gewalttätigkeit.
Ich muss mich wehren. Das ist ganz instinktiv und notwendig. Sobald ich das Selbst vergesse, muss ich mich wehren. Ich muss mich wehren, die Anderen könnten ja mir vorankommen, auf mich steigen, höher klettern als ich. Da beginnt der Konkurrenzkampf.
Furcht führt zu Gewalttätigkeit, führt zu Konkurrenzkampf, ich muss mich wehren gegen die Anderen, ich muss ihnen zuvorkommen ‒ Konkurrenzkampf ist ja auch ein Kampf ‒, und dann kommt der Kampf ums tägliche Brot. Und das artet aus in Gier, weil ich wieder Angst habe, Furcht, dass da nicht genug ist für so viele; um Himmelswillen! ‒ ist ja nicht genug. Da muss ich mich bereichern. Da muss ich schauen, dass auch für mich genug da ist.
Also alles, was in unserer Welt zum Verderben führt: zunächst die Furcht, dann die Gewalttätigkeit, dann die Konkurrenz ‒ der Konkurrenzkampf ‒, und dann die Gier: Das entspringt alles dem Ego. Und das in unserem persönlichen Leben.]
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[1] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Kontemplation und Revolution, 156f.
[2] Ich bin durch Dich so ich (2016): 8. Dialog, 169-171
Kontemplation
Text und Video von Br. David Steindl-Rast OSB
Der in der christlichen Tradition übliche Begriff der «Kontemplation» ist vom lateinischen Wort contemplari für «beschauen» abgeleitet. Die Wirklichkeit, die ursprünglich für diese Bezeichnung stand, war die der römischen Auguren, die am Himmel einen bestimmten Bereich in Augenschein nahmen, den sie templum nannten.
So war templum also ursprünglich kein Gebäude auf dem Boden, sondern ein Bereich am Himmel, auf den die Auguren, die professionellen Seher, ihre Augen richteten, um die unwandelbare Ordnung herauszufinden, gemäß derer die Dinge hier auf der Erde geregelt gehörten.
Die heilige Ordnung des irdischen Tempels ist lediglich das Spiegelbild der heiligen Ordnung oben.
Kontemplation besteht darin, diese beiden Tempel in Einklang zu bringen, wie die Vorsilbe con in contemplari andeutet.[1]
Ganz ähnlich wie diese römische Vorstellung ist auch die biblische: Mose baute auf der Erde das Heiligtum genau nach dem Vorbild der Himmelsschau, die Gott ihm auf dem Berg gewährt hatte. In der Bibel wird immer wieder betont, dass der Tempel auf Erden ganz getreu seinem himmlischen Vorbild entsprechen müsse. In diesem Sinn erfüllte Mose wahrhaftig die Rolle des Kontemplativen. Das war kein Zufall: Was er versuchte und was die Auguren versuchten, entsprang der gleichen Wurzel.
Die kontemplative Einstellung findet sich also tief in unserem Herzen und in unserer Sehnsucht nach universaler Harmonie verwurzelt.
Durch alle Zeitalter hindurch haben die Menschen sehnsüchtig zur Harmonie und Ordnung des sternenreichen Universums aufgeblickt und ihren Herzschlag auf dessen gemessene Bewegung eingestimmt.
An den lateinischen Begriff templum für einen klar umrissenen Beobachtungskreis erinnern nicht nur etliche damit verwandte Begriffe wie Temperatur, Temperament oder temporär, sondern natürlich auch Tempel und Kontemplation.
Seine Gangart auf einen universalen Rhythmus einzustimmen und so sein Leben in Harmonie mit einer universalen Ordnung zu bringen: das ist in unserer Tradition Kontemplation.
Der heilige Augustinus bringt diese Dynamik der Ordnung damit zum Ausdruck, dass er sagt: «Ordo est amoris», was bedeutet, dass die Ordnung einfach der Ausdruck der Liebe ist, die das Universum bewegt.
Auch Dante sagt das in der wunderschönen Zeile in seinem Paradiso, wenn er von «l'amor che muove il sole e l‘altre stelle» spricht, frei übersetzt: «der Liebe, die die Sonne und alle andern Gestirne bewegt.»
Doch Tatsache ist, dass sich zwar das ganze übrige Universum frei und anmutig in kosmischer Harmonie bewegt, aber wir Menschen nicht. Uns kostet es große Mühe, uns auf die dynamische Ordnung der Liebe einzustimmen.
Ab einem gewissen Punkt kostet es uns sogar die allergrößte Mühe, uns paradoxerweise überhaupt keine Mühe zu geben.
Das größte Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Anhänglichkeit, und sogar die Anhänglichkeit an unser eigenes Bemühen.
Bei der Askese handelt es sich um das professionelle Trachten danach, die Anhänglichkeit in allen ihren Formen zu überwinden.
Unser Bild vom Tanz sollte uns das verstehen helfen.
Die Loslösung, also einfach deren Gegenteil, lässt unsere Bewegungen frei und geschickt werden.
Die positiven Aspekte der Askese sind Aufgewecktheit, Wachsamkeit, Lebendigkeit. Wenn wir uns frei bewegen können, fangen wir an, die Tanzschritte zu lernen. Dann hören wir auf die Musik, stimmen uns auf sie ein und bewegen uns nach ihr.
Askese (in ihrem negativen Aspekt) ließe sich dann als Einübung der Entsagung verstehen, um in Einklang mit der universalen Harmonie zu kommen (also das positive Ziel zu erreichen).
Wenn diese Harmonie aber wirklich allumfassend sein soll, muss sie die gesamte Wirklichkeit umfassen. Weil nun aber die Kontemplation darauf abzielt, «die beiden Tempel zusammenzubringen», muss die gesamte Wirklichkeit für ihre innerste lichtvolle Struktur transparent werden, und die höchste Ordnung muss ihren Ausdruck in Raum und Zeit finden.[2]
Die verschiedenen Traditionen haben eine große Vielfalt von Formen dafür entwickelt, sein Leben klar zu ordnen, und zwar im Sinn dieser Ordnung. Besonders hervorstechend aus ihnen allen ist das, was wir als «Umwelt-Askese von Raum und Zeit» bezeichnen können. [Auf dem Weg der Stille (2016), 102-106]
Hausverstand, der uns Beziehungen wie die zwischen hoch, tief und niedrig verstehen lässt, muss älter sein als Sprache.[3] Wir haben Hausverstand von Haus aus. Und das Haus, in dem wir letztlich alle gemeinsam zuhause sind, ist das menschliche Herz.
Das Herz ist unser verlässlichster Ausgangspunkt. In der Art und Weise, in der unser Herz hoch und niedrig unterscheidet, ist die allgemein anerkannte Ordnung des menschlichen Weltbildes verankert.
Diese Ordnung entspringt gesundem Menschenverstand, der uns zugleich sagt, dass Ordnung höher bewertet werden muss als Unordnung. Wir wissen auch, dass es zwischen hoch und tief Stufen gibt und dass wir uns aufraffen müssen, so oft wir absinken. Das Hohe verlangt etwas von uns.
Unter diesem Punkt können wir Kontemplation besser verstehen.
Kontemplieren bedeutet, unsere Augen zu einer höheren Ordnung zu erheben, die uns auffordert, uns an ihr zu messen.
Das war die Absicht der Auguren. Das versuchte Stonehenge[4] zu verwirklichen: menschliches Leben an einer höheren Ordnung zu messen und so das Tun der Schau gemäß zu veredeln. Vor achtunddreißig Jahrhunderten standen Menschen wie wir unter dem weiten Gewölbe des Nachthimmels bei Stonehenge und verstanden etwas vom menschlichen Leben, das der Intellekt nicht zu fassen vermag. Nur das Herz ist für diese Schau hoch und tief genug. Nur ein Leben aus der Fülle wird dem Aufruf kontemplativer Schau gerecht. [FN 1) 57f.; 2-5) 60; 6) 61]
[Ergänzend:
1. Video Kontemplation (2011)
2. Weitere Auszüge aus dem Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] im Kapitel: «Kontemplation und Muße». Siehe auch das Stichwort «Kontemplation» im Verzeichnis der Schlüsselbegriffe am Schluss des Buches:
«Wir sollten uns von diesem extravaganten Wort ‹Kontemplation› nicht irreführen lassen. Wenn Kontemplation ein Leben in schöpferischer Spannung von Zweck und Sinn bedeutet, wer darf sich dann ihrer Herausforderung entziehen? Und sobald wir uns der Herausforderung der Kontemplation stellen, beginnen wir jene Lebensfülle zu entdecken, nach der sich unser menschliches Herz sehnt.» [FN 1) 68; 2-5) 70; 6) 71]
«Viel zu lange wurde Kontemplation als die private Domäne der Kontemplativen betrachtet. Kontemplative waren diesem eingegrenzten Verständnis nach nur jene, die sich ausschließlich der Sinnschau widmeten, sich dem Zweck, dem Handeln jedoch verschlossen. Wir befreien Kontemplation aus den Händen der Spezialisten und geben sie all jenen zurück, denen sie von Geburt an zusteht: allen Menschen.
Häufig machten sie beispielhaft die Intensität deutlich, mit der wir uns auf den Sinn des Lebens einstimmen müssen, zeigten den Mut, den wir brauchen, um uns den Forderungen der Schau unseres Herzens zu stellen. Und doch wurden nur die größten unter ihnen zu Vorbildern für die Umsetzung dieser Schau in Handeln.
Vielleicht können wir Beispielhaftigkeit in beiden Bereichen nur von den größten unter uns erwarten.[5] Auf jeden Fall aber müssen wir alle uns um die Pflege beider Bereiche bemühen, wenn wir uns nicht schief und einseitig entwickeln wollen.[6]
Nur durch die Pflege einer kontemplativen Haltung gelingt es uns, zu harmonischen Menschenwesen zu werden. Wie also könnten wir die Kontemplation den Kontemplativen überlassen?» [Auszüge aus FN 1) 67f.; 2-5) 69f.; 6) 71]
«Was macht es so schwer, Schau und Tat in der Kontemplation zusammenzuhalten? Vielleicht die Tatsache, dass jede Hälfte der doppelten Herausforderung von Kontemplation für sich genommen bereits unsere Kraft zu übersteigen droht. Schau und Tat zusammengenommen scheint uns einfach zuviel verlangt. Wie ermüdend ist es bereits, immer und immer wieder die gleichen anstrengenden Arbeiten zu leisten, auf die Kleinigkeiten zu achten, so gut wir können Fehler zu vermeiden und geduldig zu bleiben, wenn sie trotzdem immer wieder auftauchen.
Und wie anstrengend ist es, das innere Auge auf das Licht gerichtet zu halten. Solange ich aber diese zwei Bemühungen getrennt verfolge, ist es noch verhältnismäßig leicht, weil ich selbst über Schau und Handeln bestimme.
In wahrer Kontemplation aber bestimmt die Schau über mein Handeln.
Aus der Schau entspringt die Aufgabe, die mit Anforderungen herausfordert. Wenn von einer anspruchsvollen Aufgabe die Rede ist, dann meinen wir mehr als anstrengendes Handeln. Handeln kann mich bloß müde machen. Die Schau aber, wenn ich mich ihr zu stellen wage, stellt Ansprüche und verlangt, dass ich trotz meiner Müdigkeit weitermache. Das kleine ‹Kon›, das Schau und Tat vereint, ist das, was Kontemplation anspruchsvoll und deshalb so schwierig macht.
Und doch, ließen wir diese kontemplative Spannung zwischen Tat und Schau zerreißen, dann würde jeder Zweck, den wir anstreben, seinen Sinn verlieren. Denn was ich Tat und Schau genannt habe, könnte man ebenso gut auch Zweck und Sinn nennen.
Vielleicht hast du lange Zeit schon einen Zweck verfolgt, und plötzlich erwacht in dir die Frage: Welchen Sinn hat denn das alles?
Zweck ohne Sinn ist nichts als Schinderei. Aber der Sinn, den du in deinem Zweckstreben findest, wird dich unausweichlich herausfordern. Er wird Ansprüche an dich stellen. Du bist nicht mehr blinder Aktivist, aber der neuentdeckte Sinn, der dich anspricht, stellt neue Anforderungen an dich. Es ein kleines bisschen klarer zu sehen, worum es im Leben geht, macht es spannender, lohnender, aber ganz sicher nicht leichter. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es etwas in uns gibt, das sich lieber mit der Plackerei abfindet, als sich der Herausforderung eines höheren Sinnes zu stellen und über uns selbst hinauszuwachsen.»
[FN 1) 60f.; 2-5) 62f.; 6) 64f.]
3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 71-74, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 14: «Werkleute sind wir, Knappen, Jünger, Meister» (Rilke, Das Stunden-Buch)]
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[1] Siehe auch: Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 22f.:
«Pater Damasus Winzen, der Gründer des Klosters Mount Savior, legte große Bedeutung darauf, dass in unserer Überlieferung das Verständnis von Kontemplation auf das lateinische Wort ‹Contemplari› zurückgeht. Hinter diesem Begriff steht das Bild (und ‒ ursprünglich ‒ die Wirklichkeit) der römischen Auguren, die einen bestimmten, fest umgrenzten Bereich des sichtbaren Himmels als ‹templum› bezeichneten.
Ursprünglich war ‹templum› also kein Gebäude auf der Erde, sondern ein Bereich am Himmel, auf den die Auguren, professionell zur Schau bestellt, den Blick richteten. Sie sollten auf diese Weise Einsicht in die unumstößliche, höhere Ordnung gewinnen, nach deren Vorbild alles hier unten geordnet werden sollte.
Die heilige Ordnung des irdischen Tempels ist ja Spiegelung der heiligen Ordnung des himmlischen.
Pater Damasus pflegte zu betonen, dass Kontemplation in diesem gegenseitigen Bezug der beiden Tempel bestehe, was ja auch das ‹con› in ‹contemplari› zum Ausdruck bringt.»
[2] Im Kapitel: «Die Umwelt als Guru» in Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 21-31, weist Bruder David ‒ im Kontext des Lebens im Kloster ‒ ebenfalls auf diesen Zusammenhang von Kontemplation mit Askese und der geheimnisvollen Ordnung des großen Tanzes hin:
[3] «‹Oben› und ‹unten› haben für uns Menschen eine Bedeutung, die analytisches Denken nicht ausloten kann. Unausweichlich sprechen wir anerkennend von ‹höheren› Dingen. Wir nennen sie erhöht, erhaben, über der Norm. Im Gegensatz dazu nennen wir das, was wir als minderwertig erachten, niedrig oder tiefstehend. Dies muss etwas damit zu tun haben, dass wir aufwachsen, und nicht wie Karotten nach unten wachsen. Nicht einmal der Unbeholfenste unter uns wird nach oben fallen, wenn er stürzt. Die Konsistenz, mit der oben und unten all unser menschliches Denken und unsere Sprache polarisiert, ist schon überraschend genug. Dass das Verhältnis oben zu unten überall das gleiche Werturteil impliziert (Verbesserung im Gegensatz zu Wertverlust), ist noch überraschender. Selbst ein Revolutionär, der sich zum Ziel gesetzt hat, das niederzuringen, was gegenwärtig oben ist, tut das aus der Überzeugung heraus, dass Gerechtigkeit über Ungerechtigkeit triumphieren sollte. Gleich welche Philosophien und Überzeugungen wir teilen, einig sind wir uns in dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wenn die Dinge auf dem Kopf stehen.
Vielleicht lohnt es sich festzuhalten, dass es für die Bedeutung von ‹hoch› durchaus einen Unterschied macht, ob wir es mit ‹niedrig› oder ‹tief› kontrastieren. Hoch und tief können manchmal zusammenpassen, hoch und niedrig jedoch niemals. Ein Mensch hoher Geisteshaltung kann tiefen Gedanken nachhängen, aber niemals niedrigen. Im Lateinischen bedeutet altus erhöht im Sinne von hoch und tief zugleich (die Hochsee ist tief), das Niedrige aber steht immer im Gegensatz zum Erhabenen. Es bedarf nicht viel mehr als des gesunden Menschenverstands, um diese Unterschiede zu erkennen. Hatte aber Chesterton Unrecht, als er darauf hinwies, dass gesunder Menschenverstand von nicht allzu vielen Menschen verstanden werde?» [FN 1) 57; 2-5) 59; 6) 60f.]
[4] «Stonehenge, das geheimnisvolle, mehr als dreieinhalbtausend Jahre alte Monument in England, besteht aus einer kreisförmigen Anordnung riesiger Steinsäulen. Viele von ihnen sind mehr als zehn Meter hoch und fünfzig Tonnen schwer. Niemand weiß, auf welche Weise sie aus einem dreißig Kilometer entfernten Steinbruch an diesen Platz transportiert wurden oder wie die riesigen Felsblöcke als ‹Querbalken› aufgesetzt wurden. Man ist sich noch nicht einmal sicher, wer diese große Leistung vollbrachte. Weder die zugrundeliegenden Ideen, noch die Ideale, welche so gigantische Anstrengungen beseelten, sind uns bekannt. All dies liegt in der Dunkelheit der Vor- und Frühgeschichte verborgen. Wir betrachten die komplizierte Anordnung der Säulen, Gräben, Aufschüttungen und Gruben, wie wir die in einen Stein getriebenen Runen betrachten würden. Wir können ihre Bedeutung nicht entziffern. Und doch stoßen wir auf einen Anhaltspunkt.
Der Grundriss von Stonehenge ist eindeutig auf die Stelle des Sonnenaufgangs zur Sommersonnenwende ausgerichtet, und ebenso zu anderen Punkten am Horizont, an denen Sonne und Mond an besonderen Tagen ihrer Zyklen aufgehen. Die ganze sorgfältig durchdachte Struktur wird somit zu einer gigantischen Sonnenuhr, und ebenso zu einer Monduhr, in die wir selbst eintreten können. Stonehenge übersetzt die Zyklen von Sonne und Mond in Architektur, Bewegung in Design, Zeit in Raum. Dieser kleine Teil der Erde ist nach den Himmeln ausgerichtet. Die oben beobachtete Ordnung wird unten verwirklicht. Hier liegt der Schlüssel zum Geheimnis von Stonehenge. Und das ist ebenso der Schlüssel zum Wesen der Kontemplation.
Häufig ist es hilfreich, die linguistischen Wurzeln eines Wortes zu verfolgen, wenn wir ein tieferes Verständnis seiner Bedeutung erlangen möchten. Die kleine Silbe ‹temp› in unserem ‹Kon-temp-lation› ist sehr alten Ursprungs. Gelehrte sagen uns, dass sie anfangs so etwas wie ‹mit einem Einschnitt versehen› bedeutet hat. Du machst einen Einschnitt oder eine Kerbe, und schon hast du ein einfaches Hilfsmittel, um zählen und messen zu können. Du kannst die Übersicht behalten über die Anzahl der Fische, die du beinahe gefangen hättest, wenn du jeden Beinahe-Fang mit einer Kerbe am Dollbord deines Bootes markierst. Zwei Kerben in geringem Abstand machen aus jedem Stock einen Maßstab und geben dir die Möglichkeit, die Fische zu messen, die dir nicht entkommen sind. Gleich wie weit entfernt von ihrer ursprünglichen Bedeutung von ‹Kerbe› oder ‹Einschnitt›, hat die Silbe ‹temp› auch heute noch etwas mit messen zu tun. Selbst im modernen Sprachgebrauch bezeichnet Temperatur das Maß von heiß und kalt, Temperament den Maßstab psychologischer Reaktion, Tempo das Maß zeitlich-rhythmischer Wiederkehr. Zu temperieren bedeutet (vor allem in der Musik) die Bestandteile im richtigen Verhältnis, im richtigen Maß zueinander anzuordnen.
Das Wort ‹Tempel› kommt von der gleichen Wurzel. Es ist das Wort, das am unmittelbarsten mit Kontemplation verwandt ist, und es beschwört Assoziationen mit tempelähnlichen Strukturen wie Stonehenge. Ursprünglich jedoch bedeutete das lateinische Wort für Tempel, templum, nicht die architektonische Struktur, sondern blieb näher an der Vorstellung vom Maß. Es bedeutete ein bemessenes Gebiet. Jenes bemessene Gebiet befand sich nicht einmal am Boden, sondern am Himmel. Erst später fing templum an, ein heiliger Bezirk am Boden zu bedeuten, der dem am Himmel entsprach, um schließlich das auf jenem heiligen Raum nach heiligen Maßen errichtete Gebäude zu werden.
Für die römischen Priester jedoch, die Auguren, war es das templum im Sinne eines Himmelsabschnitts, das sie bei ihrer Kontemplation im Sinn hatten. Das bedeutet, dass sie ihren Blick mit nie ermüdender Aufmerksamkeit auf ihn richteten, und aus dem, was sie dort sahen, den erfolgversprechendsten Handlungsablauf ableiteten. Im klassischen Rom kam es zu keiner öffentlichen Entscheidung, ohne dass der vorgeschlagene Plan mit dem übereinstimmte, was die Auguren sahen. Diese Praxis drückt eine Geisteshaltung aus, die älter ist als logische Folgerungen, ein archetypisches Syndrom, das sich unserer menschlichen Psyche tief eingeprägt hat. Noch heute haben wir Zugang zu jener Tiefe, und ihre Erforschung kann neues Licht auf die Kontemplation werfen.» [FN 1) 55-57; 2-5) 57-59; 6) 58-60]
[5] «Jene, die den Begriff «Kontemplation» zuerst in unseren christlichen Wortschatz aufnahmen, trotz der Tatsache, dass es sich dabei immer noch um einen technischen Terminus der rivalisierenden römischen Religion handelte, müssen ihn für unersetzbar gehalten haben. Sie dürften sich durchaus der Tatsache bewusst gewesen sein, dass Kontemplation für eine ursprüngliche und universelle menschliche Wirklichkeit steht. Und sicherlich erkannten sie, dass das Konzept zentraler Bestandteil der biblischen Tradition war. Es steht hinter einer ganzen Theologie des Tempels und verbindet Moses, den großen Kontemplativen, mit Salomos Tempel und mit dem Tempel, den die göttliche Weisheit erbaut; mit Jesus Christus, der sowohl als Personifikation der Weisheit wie auch des Tempel betrachtet wird, und mit seinem Körper, der neuen Menschheit, dem Tempel des Heiligen Geistes.
Heutzutage gilt Moses eher als der große Gesetzgeber und weniger als der große Kontemplative. Aber beim näheren Hinschauen passt er sehr gut in das kontemplative Modell. Er steigt den Berg hinauf zum höheren Reich, er setzt sich der transformierenden Schau aus, und das in einem solchen Maß, dass Leuchten von Gottes Glorie mit blendender Helligkeit von seinem Gesicht erstrahlt; und er bringt den Menschen nicht nur die Gesetze herab, sondern auch den Bauplan für den Tempel.
Wieder und wieder betont die Bibel, dass Moses das Zelt des Bundes genau nach dem Vorbild erbaut, das ihm auf dem Berg gezeigt worden war. Und selbst das Gesetz muss als eine Art Plan verstanden werden, nach dem das Volk Israel zu einem Tempel des lebendigen Gottes aufgebaut werden soll. Das Volk wird so zu lebendigen Steinen, die sich erheben, um das Abbild einer göttlichen Ordnung zu verwirklichen, an deren Vorbild am Ende jedes Abbild immer wieder scheitern muss.
Wahrhaft Kontemplative aber erkannten im Verlauf der Geschichte immer wieder, was getan werden musste. Was die Schau als notwendig zeigte, das setzten sie in die Tat um. Deshalb mussten einige, wie Katherina von Siena, Bernhard von Clairvaux oder Teresa von Avila so unermüdlich arbeiten. Der Tempel, an dem sie bauten, wächst immer noch.
Bernhard war dermaßen in seine innere Schau versenkt, dass seine äußeren Augen zeitweilig blind schienen. Als die oberen Fenster seiner Abteikirche repariert werden mussten, fragten ihn die dafür zuständigen Mönche nach seiner Entscheidung. Zu ihrer Überraschung wusste Bernhard nicht, wovon sie sprachen. In all den Jahren, so heißt es, habe der Abt nie in der Kirche aufgeschaut. Es war ihm nie aufgefallen, dass es überhaupt obere Fenster gab. Als es aber darum ging, Europa nach dem Licht seiner inneren Schau umzugestalten, da wurde Bernhard, der letzte der großen Kirchenväter, zum ersten internationalen Diplomaten eines sich entwickelnden christlichen Abendlandes.
Oder denken wir an Katherina von Siena. Noch in ihrer Jugend machte sie sich, wie die Jugendlichen einiger amerikanischer Indianerstämme, auf die Suche nach einer Schau. Jahrelang lebte sie in Abgeschiedenheit, auf nichts als die innere Schau ausgerichtet. Sie begrub sich selbst in Dunkelheit. Als das dreiundzwanzigste Kind ihres Vaters war sie, allein in einem Hinterzimmer des Hauses, gut versteckt. Und doch steht sie ein Jahrzehnt später im Rampenlicht der Geschichte. Als Botschafterin des Friedens überredet diese einfache Frau, noch nicht dreißigjährig, den Papst dazu, von Avignon nach Rom zurückzukehren. Die große Kontemplative stellt sich der Herausforderung ihrer Schau und wird so zu einer Frau der Tat.
Teresa von Avilas Leben macht deutlich, dass die Verbindung von Schau mit Tat mehr bedeutet, als innerlich Theorie in Praxis umzusetzen. Da gibt es ihre Schau vom Bewässern des Gartens der Seele und von der Reise zum leuchtenden Zentrum des Inneren Schlosses. Und nach außen hin gibt es ihre Verstrickung in Kirchenpolitik, in Kampf und Intrige. Auf den ersten Blick scheint beides durch Welten getrennt. Ihr wurde kein fester Plan für die Reformierung des Karmeliterordens gezeigt, der nur noch ausgeführt werden musste. So funktioniert Kontemplation nicht. Sie setzte bloß ihr Herz dem Strahlen «des nicht von Menschenhand gebauten Tempels» aus. Und in seinem Licht wurde ihr Schritt für Schritt klar, wo das Bauen des Tempels hier unten einer hilfreichen Hand bedurfte. Gehorsame Verwirklichung ihrer Schau machte aus ihr die große Kontemplative.» [FN 1) 58-60; 2-5) 60-62; 6) 61-64]
[6] «Nur durch die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen dem Ideal und seiner Verwirklichung, zwischen Schau und Tat, dürfen wir hoffen, den Tempel zu bauen. Und nur durch den Bau des Tempels beweist die Kontemplation, dass sie echt ist. Das kleine Präfix ‹Kon-› (cum, mit, zusammen) sollte uns daran erinnern, dass die Schau allein nur halb Kontemplation ist. Bestenfalls verdient sie den Namen ‹Templation›. Kontemplation verbindet Schau und Tat. Tat ohne Schau ist blinder Aktivismus. Schau ohne Tat ist unfruchtbares Gaffen.» [FN 1) 59; 2-5) 61; 6) 62]
Kontemplation im Handeln
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Alles, was ich mit Liebe zu tun vermag, kann zum Gebet des Tätigseins werden. Es ist zudem gar nicht notwendig, dass ich während der Arbeit oder beim Spielen an Gott denke. Zuweilen dürfte das sowieso kaum möglich sein.
Wenn ich zum Beispiel ein Manuskript korrigiere, ist es besser, ich konzentriere mich ganz auf den Text statt auf Gott. Wäre mein Geist zwischen beidem hin und her gerissen, so würden mir die Druckfehler wie kleine Fische durch ein zerrissenes Netz schlüpfen. Gott wird genau in der liebevollen Aufmerksamkeit anwesend sein, die ich der mir anvertrauten Arbeit zuwende.
Indem ich mich voll und liebevoll dieser Arbeit widme, gebe ich mich voll und ganz Gott hin. Das geschieht nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Spiel, etwa wenn ich Vögel beobachte oder einen guten Film ansehe. Wenn ich mich in Gott darüber freue, wird sich bestimmt auch Gott in mir darüber freuen. Macht nicht diese Kommunion, diese innige Verbindung das Wesen des Gebets aus? [Auf dem Weg der Stille (2016), 17f.]
Eine Lehrerin kommt beispielsweise nach einem Schulausflug in den Zoo völlig erschöpft nach Hause. «Und den ganzen Tag lang hatte ich keine Minute Zeit zum Beten», stöhnt sie.
Nun, möglicherweise hat sie aber den ganzen langen Tag nichts anderes getan, als zu beten. Ihr Herz war der Kontemplation im Handeln hingegeben, aber ihr Kopf hat es nicht einmal bemerkt.
Die Liebe, die sie voller Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kind sorgen ließ, war die Liebe Gottes, die durch sie hindurchfloss. Indem sie sich innerlich dieser Liebe hingab, war sie den ganzen Tag mit Gott verbunden ‒ sozusagen ein Gebet ohne Ablenkung. Sie konnte es nicht riskieren, von ihrer Aufmerksamkeit für die Kinder abgelenkt zu werden.
Steckt aber ihr ganzes Herz darin, dann ist diese uneingeschränkte Aufmerksamkeit in diesem Fall ihre andächtige Aufmerksamkeit für Gott.
«Was aber, wenn ich nicht einmal an Gott denke?» könnte man fragen. «Kann das noch Gebet sein?»
Nun, atmest du noch, obwohl du nicht an die Luft denkst, die du einatmest?
Dein Handeln geht weiter, obwohl du nicht darüber nachdenkst. Und in contemplatio in actione wird Gott eben durch liebendes Handeln erfahren, nicht durch Nachdenken.
Es gibt unter uns echte Kontemplative, die gar nicht wissen, dass sie es sind.
Inmitten ihres geschäftigen Lebens praktizieren sie contemplatio in actione. Handeln.
Und doch sehnen sie sich nach Formen, die einer anderen Welt des Gebets angehören, statt sich immer mehr in der Welt zuhause zu fühlen, in der sie ohnehin leben.
Über Gott nachzudenken ist wichtig. Aber das Handeln in Gott führt zu tieferem Wissen. Liebende sind der Liebe näher als Gelehrte, die bloß über Liebe nachdenken. Wer denkt schon beim Küssen über das Küssen nach?
Während einer einfachen Tätigkeit wie Stricken ‒ einfach für meine Mutter, nicht für mich ‒ kann man über Gott nachsinnen und dennoch die Arbeit gut machen.
Wenn deine Arbeit im Maschineschreiben besteht, wird das schon schwieriger. Ein Gouverneur könnte sich als Gotterneur angeredet finden, aber abgesehen von Schreibfehlern kann wenig Schaden daraus entstehen.
Eine Lehrerin jedoch, die zweiundzwanzig Kinder in den Zoo führt, kann nichts hinzufügen, während sie das tut. Sie käme sonst vielleicht mit nur einundzwanzig Kindern zurück.
Sie kann nur zwischen Kontemplation im Handeln oder gar keiner Kontemplation wählen.
Und welch herrliche Überraschung ist die Entdeckung, dass sie Gott nicht nur während, sondern in ihrem liebenden Dienst finden kann.
Niemand wird durch äußere Umstände an einem kontemplativen Leben gehindert. Viele Menschen bemühen sich, ein äußerst aktives Leben andächtiger zu gestalten. Die Entdeckung der Kontemplation im Handeln könnte ihnen dies erleichtern und ihnen neuen Mut geben.
Aber auch hier ist eine Falle verborgen. Unsere Tätigkeiten entwickeln eine Art Zentrifugalkraft.
Sie haben die Tendenz, uns von unserer Mitte in Randbelange zu zerren. Und diese Zugkraft ist umso stärker, je schneller die Beschleunigungskraft unserer täglichen Tätigkeiten wirkt.
Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir uns im stillen Zentrum unseres Herzens verankern.
«Meine Arbeit ist mein Gebet», sagt da jemand. Nun, umso besser! Schließlich sollen wir «allezeit beten». Arbeit sollte uns nicht vom Beten abhalten.
Wenn aber meine Arbeit zu meinem einzigen Gebet wird, dann wird sie nicht mehr lange Gebet sein. Ihr Gewicht wird mich aus meinem Zentrum ziehen. Es ist leicht zu hören, wenn sich ein Wäschetrockner ungleichmäßig dreht. Warum hören wir es nicht, wenn das Gleiche in unserem Leben geschieht? Vielleicht sollten wir anhalten und umladen. Vielleicht ist es Zeit für Nichts-als-beten, Zeit uns freizumachen, unsere Mitte zu finden und uns von unserem Herzen her neu auszurichten.
Wenn wir so wieder an unsere Arbeit herangehen, dann wird sie wirklich Gebet sein: contemplatio in actione.
Die Tradition der Shaker kennt ein Sprichwort, das die Idee der Kontemplation auf die einfachste Weise zusammenfasst:
«Die Herzen zu Gott und die Hände an die Arbeit.»
Und genauso lebten die Shaker. Als Beweis dafür, dass sie etwas von Kontemplation verstanden, müssen wir uns nur einen Shaker-Stuhl anschauen.
«Die Herzen zu Gott» bedeutet Aufmerksamkeit für die leitende Schau.
«Die Hände an die Arbeit» bedeutet, aus jener Schau Wirklichkeit zu machen.
Die unauflösliche Verwobenheit von Schau und Tat macht Kontemplation zu dem, was sie ist.
In der Gebetswelt der Liebe ist die Schau eine tiefe Bewusstheit des Zusammengehörens, während das Handeln jenes Zusammengehören folgerichtig in die Tat umsetzt.
Handelnde Liebe ist Ausdruck des Dankes für Einsichten der schauenden Liebe.
Im Lateinischen heißt das «gratias agere», nicht nur danken, sondern aus Dankbarkeit handeln.
Mit dem Herzen Gott zugewandt, erkennt die Liebe ihre Zugehörigkeit; mit den Händen der Arbeit zugewandt, handelt die Liebe dementsprechend. [FN 1) 152-154; 2-5) 156-158; 6) 155-157; siehe auch: Betet ohne Unterlass (1988)]
[Ergänzend:
Bruder David spricht von drei Innenwelten des Gebetes [Hyperlink zu Gebet ‒ drei Innenwelten]. In den ersten beiden ist die Stille oder das Wort zentral. In der dritten Innenwelt ‒ am Schnittpunkt von Stille und Wort ‒ das liebevolle Tun.
Der Fachausdruck für diese dritte Innenwelt des Gebetes ist: «Contemplatio in actione» ‒ «Kontemplation in Aktion»:
1. Auf dem Weg der Stille (2016), 36f.:
Das biblische Vorbild für Kontemplation ist Mose:
«In der biblischen Tradition wird die Kontemplation am Beispiel von Mose vorgestellt: Mose steigt auf den Berg, um dort oben vierzig Tage und vierzig Nächte in der Gegenwart Gottes zu verbringen. Dort wird ihm eine Vision des Tempels zuteil. Bei seinem Abstieg vom Berg bringt er nicht nur die Gesetzestafeln mit sich, also den Plan, gemäß dem das Volk zu einem Tempel aus lebendigen Steinen aufgebaut werden soll. Er trägt auch den Entwurf für den physischen Tempel, das Bundeszelt, das genau ‹nach dem Vorbild des Musters› angelegt werden sollte, das ihm auf dem Berg gezeigt worden war bei sich.
Diese beiden Phasen der Kontemplation gehören untrennbar zusammen: das Betrachten des Musters und die praktische Tat, nach dem Vorbild des Musters zu bauen.
Die Kontemplation in Aktion zeichnet der Umstand aus, dass dabei Betrachtung und Tat gleichzeitig stattfinden.
Eine Lehrerin, die einem Kind viel Liebe zukommen lässt, versteht Gott, der einfach dadurch liebt, dass er Liebe ist.
Die Schau Gottes wird ihr in ihrem Tun und durch dieses zuteil.
Wie verstehen wir denn jemals etwas anders als durch Tun?
Ein Sprichwort sagt: ‹Ich hörte und vergaß; ich sah und erinnerte mich; ich tat und verstand.›
Aus diesem Grund können wir die Kontemplation in Aktion ‹Gebet des Verstehens› nennen.»
2. Dankbarkeit: Das Herz allen Betens. (2018) [bzw. Fülle und Nichts (2015)] im Kapitel: «Liebe: Ein ‹Ja› zur Zugehörigkeit»:
«Zur Liebe gehört eine Welt des Gebetes, die am Schnittpunkt von Wort und Stille steht.
Das Gebet der Liebe ist das Handeln.
Das Wort, im Glauben empfangen, fällt als Same in das stille Erdreich der Hoffnung und reift in der Liebe zur Ernte.
Im Handeln der Liebe gibt es keine Absicht, nur die Bereitschaft, Früchte zu tragen.
Und doch steht der aktive Aspekt hier so im Vordergrund, dass die Gebetswelt der Liebe den Namen ‹contemplatio in actione› trägt.
Das Handeln ist ein Grundbestandteil von Kontemplation, einer ihrer zwei Pole. Der andere Pol ist die Schau. Das ‹Kon› in Kontemplation schweißt Schau und Tat zusammen. Ohne durch die Tat verwirklicht zu werden, würde die Schau unfruchtbar bleiben. Das Gegenteil von Kontemplation im Handeln kann also unmöglich untätige Kontemplation sein. Das wäre ebenso ein Widerspruch wie blinde Kontemplation. Handeln gehört ebenso zur Kontemplation wie Schau.
Warum also diese Hervorhebung, wenn wir von ‹contemplatio in actione› sprechen? Hier ist eine Erklärung.
Im Gebet der Liebe ergibt sich nicht nur das Handeln aus kontemplativer Schau, sondern eben diese Schau entspringt ihrerseits kontemplativem Handeln.
Hier bietet sich eine Parallele aus unserer alltäglichen Erfahrung an. Manchmal möchtest du etwas tun, aber du sagst dir:
‹Ich sehe nicht ein, worum es da geht.› Dann versuchst du es doch, und im Tun siehst du, worum es geht. Siehst du? Dieses ‹Sehen› lässt uns wenigstens ahnen, dass Schau aus dem Handeln entspringen kann, letztlich selbst die Schau von Gottes Herrlichkeit.
Jede echte Form von Kontemplation bemüht sich darum, ihre Schau in die Tat umzusetzen.
Aber nicht immer entspringt die Schau unserem tätigen Einsatz.
Häufig verlangt unsere Suche nach Sinnschau, dass wir aus jeder zweckgebundenen Tätigkeit aussteigen.
Für die Gebetswelt der Liebe jedoch ist das Einsteigen in kontemplatives Handeln kennzeichnend.
Das soll nicht heißen, dass kontemplatives Aussteigen untätig sei oder der Liebe entbehrt. Ganz und gar nicht. Aber das ‹Ja› zum Zusammengehören macht die Liebe zu dem, was sie ist. Und dieses ‹Ja› beinhaltet Verfügbarkeit für den Einsatz.
Es ist daher am leichtesten, die Liebe in der Kontemplation dann zu entdecken, wenn das Sicheinsetzen besonders betont wird.
Stelle dir vor, du möchtest ein Bild von einem Bleistift zeichnen. Höchstwahrscheinlich wirst du zwei parallel verlaufende Linien ziehen und vorne eine Spitze hinzufügen. Aber ebenso gut könntest du einen kleinen Kreis zeichnen mit einem Punkt in der Mitte. Das ist die Frontalansicht eines Bleistifts. Front- und Seitenansicht zeigen den gleichen Gegenstand. Aber die eine Darstellung ist viel leichter zu erkennen.
Darum nennen wir die Kontemplation im Handeln die Gebetswelt der Liebe. Liebe ist in ihr am leichtesten zu erkennen.
‹Contemplatio in actione› drückt recht deutlich aus, was wir meinen: Kontemplation im Handeln, nicht nur während des Handelns.
Nur ein feiner Unterschied, aber er wird uns helfen, noch genauer zu definieren, was hier gemeint ist.
Meine Mutter strickt alle möglichen Pullover für ihre Kinder und Enkelkinder, jetzt sogar für ihre vier Urenkelkinder. Und während sie das tut, betet sie gern den Rosenkranz. Das ist Kontemplation während des Handelns. Während sie strickt, betrachtet sie die Rosenkranzgeheimnisse, und ihr Glaube nährt sich daran. Sie tritt ein in die Welt des Gebets, die für den Glauben kennzeichnend ist. Sie lebt von Gottes Wort. Aber sie betritt auch die Welt des Gebets der Liebe, einfach weil sie trotz der arthritischen Schmerzen in ihren Fingern liebevoll strickt. Dadurch versteht sie Gottes Liebe in und durch ihr eigenes Handeln. Das ist Kontemplation im Handeln, ein Weg, Gottes Liebe von innen her kennenzulernen. [FN 1) 150f; 2-5) 154-156; 6) 153-155]
3. TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL I, 69f., und TEIL II, 96, 162, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 14: «Werkleute sind wir, Knappen, Jünger, Meister» (Rilke, Das Stunden-Buch)
4. An welchen Gott können wir noch glauben? (2008):
Und die dritte Innenwelt des Gebetes «ist Contemplatio in actione, die Aktion, das Tun, und zwar nicht Kontemplation üben, während wir etwas tun – das kann sehr gefährlich werden, wenn es etwas Heikles ist, was wir tun und wir haben unsere Gedanken irgendwo anders –, sondern im Tun Gott finden. Im liebenden Tun erleben wir von innen her die Liebe Gottes, die durch uns fliesst. Und das ist Contemplatio in actione.»
5. Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation (1989), 294-296, 300f.:
«Gott vollendet sich nicht ohne unser Zutun. Gott vollendet sich aber auch trotz unseres Versagens. … Und Gott ist immer noch größer. Wir bauen an Gott, wir bauen am Bild Gottes, und dieses Bauen ist Kontemplation.»
«Das also ist Kontemplation im tiefen Sinne, diese Verbindung von schauen und bauen. Wenn wir das in jedem Bereich unseres Lebens durchführen, dann kann der Dichter sagen:
‹Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
daß sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.›
(Rilke, ‹Alle, die ihre Hände regen›, Das Stunden-Buch)
Solange wir im Mysterium verwurzelt bleiben, solange unser Bauen im Schauen verwurzelt bleibt, im Mysterium, solange unser Handeln im Grunde der Kontemplation verwurzelt bleibt und unsere Arbeit in der Dunkelheit des Schweigens, aus der wir stammen, im Mystischen, so lange ist alles Gebet.
Rilke vergleicht das Bauen und die Arbeit, wenn sie wirklich verwurzelt sind im Schauen und Schweigen, mit einem unterirdischen Fluss, der in die Tiefen greift.
Nur aus den Tiefen des Schweigens schwemmt eine Arbeit, die Gebet ist, Gold zutage. Darum betet der Dichter:
‹Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.
Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift›
(Rilke, Das Stunden-Buch)»
6. Audios:
6.1. Lebendige Spiritualität (2015)
Verstehen durch Tun
(19:00) ‘Contemplatio in actione’: Das göttliche Tun in unserem Tun
6.2. Die Weisheit, die alle verbindet (2010)
Vortrag
(50:54) Und die dritte Innenwelt des Gebetes «heißt konventionell Kontemplation, ‹contemplatio in actione› das heißt, durch das Tun Gott finden. Durch das Tun Gott finden. Und nicht während des Tuns, sondern: Im Tun. So liebend, so lebendig, so kreativ im Handeln, dass Gottes Liebe, die Lebendigkeit Gottes, Schöpferkraft durch uns durchfließt. Und jeder von uns kann das tun, nicht nur die großen Künstler und großen Musiker, sondern jeder von uns ist dazu aufgerufen, dieses Gebet zu beten. Und wir können es, indem wir liebend und schöpferisch handeln, was immer unsere Aufgabe ist.»
6.3. Fragen in Wendezeiten (2010)
Fragerunde
(19:52) ‘Contemplatio in actione’
6.4. Das Gottesbild des modernen Menschen (2009)
Teil 2:
(31:47) Gott im Tun finden]
Kontrolle und Hingabe
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Im etwas nachlässigen alltäglichen Sprachgebrauch benutzen wir Zweck und Sinn manchmal so, als seien sie dasselbe. Wir sollten uns aber daran erinnern, wie wir einen gegebenen Zweck anstreben, und wie wir im Gegensatz dazu Sinn erfahren. Der Unterschied ist bemerkenswert.[1]
Um einen Zweck zu erreichen, müssen wir alles unter Kontrolle halten. Wir müssen sozusagen «die Zügel halten», «die Dinge in die Hand nehmen», die «Sache unter Kontrolle bringen» und die Umstände wie Hilfsmittel nutzen, um unsere Zwecke zu erreichen. Solche Redewendungen sind bezeichnend für eine zweckorientierte, nützliche Tätigkeit, und das ganze moderne Leben insgesamt neigt dazu, so zweckorientiert zu sein.
Die Dinge liegen jedoch anders, wenn wir es mit Sinn und Bedeutung zu tun haben. Hier geht es nicht darum, die Welt um uns zu gebrauchen, sondern darum, sie auszukosten.
Unsere Redewendungen, die sich auf Sinn beziehen, zeigen uns mehr passiv als aktiv: «Es ist mir etwas geschehen», «Es hat mich tief berührt», «Es hat mich bewegt». Natürlich möchte ich Zweck und Sinn nicht gegeneinander ausspielen, oder Aktivität gegen Passivität. Es geht eher darum, ein Gleichgewicht in unserer hyperaktiven, von Zweckmäßigkeit besessenen Gesellschaft zu finden. Wir unterscheiden hier Zweck und Sinn nicht, um die beiden zu trennen, sondern um sie zu verbinden. Unser Ziel ist es, Sinn in unsere zweckvollen Tätigkeiten einfließen zu lassen, indem wir Aktivität und Passivität in ihre ursprüngliche wechselseitige Beziehung bringen.[2]
Eine kreative Spannung aber aufrechtzuerhalten ist anstrengend. Es erfordert von uns eine Hingabe, die uns schwerfällt. Warum schwer? Weil sie Mut erfordert. Solange wir die Kontrolle haben, fühlen wir uns sicher. Lassen wir uns aber hinreißen, dann ist nicht zu sagen, wohin das führen wird. Wir wissen nur, dass das Leben abenteuerlich wird. Zum Abenteuer aber gehört Wagnis.
Manchmal macht uns das Wagnis so sehr Angst, dass wir lieber alles unter Kontrolle halten, selbst wenn das bedeutet, dass wir uns mit Langeweile zufrieden geben müssen.
Entsinne dich, wie das in persönlichen Beziehungen funktioniert. Du glaubst, dass dir jemand sicher ist: «Ich habe ihn im Sack» oder «Sie frisst mir aus der Hand». Hältst du aber eine Beziehung so unter Kontrolle, dann wird sie sehr schnell langweilig. So gibst du euch beiden also ein wenig Spielraum. Und schon wird es abenteuerlich, aber auch riskant. Du weißt nie, was als nächstes passiert, wenn du dich auf Abenteuer einlässt. Sobald es dir genügend Angst macht, verschließt du dich aber sofort wieder. Manchmal bewegen wir uns an einem einzigen Tag viele Male hin und her zwischen Geben und Zurücknehmen, zwischen Auf- und Zumachen. Leben aber ist Geben und Nehmen, nicht geben oder nehmen.[3]
Sollten wir nur nehmen oder nur geben, sind wir nicht lebendig. Wenn wir nur einatmen, dann ersticken wir, aber wenn wir nur ausatmen, ersticken wir ebenso. Das Herz saugt das Blut ein und pumpt es hinaus, und im Rhythmus von Geben und Nehmen leben wir. Tatsächlich ist aber das Gleichgewicht in unserem Leben oft gestört. Unser Schwerpunkt liegt viel zu sehr auf dem Zweck ‒ dem Nehmen, dem Machen, dem Wollen. Was das sinnvolle Leben angeht leben wir sozusagen in einem unterentwickelten Land. Weil wir nur eine Hälfte des Gebens und Nehmens entwickeln, sind wir nur halb lebendig.
Hier sind wieder die Redewendungen unserer Sprache symptomatisch für unsere Vorliebe für zweckmäßiges Nehmen und Wollen. Wir haben jede Menge Ausdrücke, die vom Machen und Nehmen reden, doch nur wenige sprechen von Hingabe:
Wir machen einen Spaziergang, wir machen einen Kurs, wir nehmen ein Bad, wir nehmen uns eine Pause, wir nehmen eine Mahlzeit ein. Wir nehmen uns fast alles, eingeschlossen sogar viele Dinge, die kein Mensch wirklich «nehmen» kann, zum Beispiel Zeit.
Wir sagen, dass wir uns «Zeit nehmen», doch wir leben nur wirklich, wenn wir Zeit geben, nämlich für etwas, das Zeit braucht und nimmt. Wenn du Platz nimmst, so sitzest du nur dann bequem, wenn du deinem Sessel erlaubst, dich aufzunehmen. Schlafen zu wollen ist der sicherste Weg zur Schlaflosigkeit, denn solange du auf dem Nehmen bestehst, wirst du den Schlaf nicht bekommen. In dem Moment jedoch, wo du dich hingibst, wirst du in den Schlaf fallen.
Vielleicht beginnen wir zu ahnen, dass unser einseitiges Bestehen auf dem Nehmen uns daran hindert, ausgeglichen und friedlich zu leben und auch daran, einen ausgeglichenen und friedlichen Tod zu sterben. Nach einem Leben, in dem wir genommen und genommen haben, stoßen wir zuletzt auf etwas, das wir nicht nehmen können. Der Tod nimmt uns. Das ist ernst. Einer kann durchs Leben gehen und immerfort nehmen, und zuletzt endet alles damit, dass er sich das Leben genommen hat, was in Wirklichkeit Suizid ist. Doch wir können lernen, uns selbst zu geben. Es fällt uns nicht leicht, weil wir uns davor fürchten, uns hinzugeben, aber es kann gelernt werden. Wenn wir lernen uns hinzugeben, lernen wir beides: zu leben und zu sterben ‒ nicht nur unseren letzten Tod zu sterben, sondern auch die vielen Tode des täglichen Lebens, durch die wir mehr und mehr lebendig werden können.[4]
Heute gibt es mehr und mehr Freizeit und weniger und weniger Feierabend und Muße. Aber warum fällt es uns so schwer, uns der Muße und Feier hinzugeben?[5]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-5]
[Ergänzend:
1. Ich bin durch Dich so ich (2016): 5. Dialog, 1966-1976, 104f.:
Johannes Kaup: «Sie haben gesagt, Sie brauchen Ordnung, Stabilität und Wiederholung. Wie verträgt sich Ordnung, Stabilität und Wiederholung mit diesem Anfängergeist, der die Dinge immer wieder neu sehen, erleben und begreifen möchte, der sozusagen aus der Ursprünglichkeit heraus lebt?»
Bruder David: «Vielleicht ist mir gerade deshalb Wiederholung so lieb, sogenannte eintönige Arbeit. Manche Brüder finden es langweilig, wenn wir gemeinsam die Rundbriefe ausschicken. Aber jeder Briefumschlag, in den man etwas hineinsteckt, ist neu: Diesen einen habe ich noch nie in der Hand gehabt.»
2. Der Mönch in uns (1978) [die folgenden Abschnitte ab ‹Nun lautet die große Frage …› sind im Buch Auf dem Weg der Stille (2023): Kapitel 3: ‹Der Mystiker in uns allen›, 43-63, übersetzt von Bernardin Schellenberger, nicht enthalten]; siehe auch Sinn und Zweck: Ergänzend 3.; Geben und Nehmen: Ergänzend: 1.:
«Wenn wir eine strenge Arbeitsmentalität haben, dann sind wir nur halb lebendig. Wir sind dann wie Leute, die nur einatmen und dann ersticken. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man nur einatmet oder nur ausatmet: man wird auf jeden Fall ersticken.
Das zeigt sehr klar, dass wir hier nicht die Arbeit gegen das Spiel oder den Zweck gegen den Sinn ausspielen. Man muss beides miteinander verbinden. Wir müssen ein- und ausatmen, nur so bleiben wir am Leben. Das ist es schließlich, was wir alle anstreben, und worum es bei jeder Religion gehen sollte ‒ lebendig sein.
Nun lautet die große Frage: warum sind wir nicht lebendiger? Die Antwort findet sich in einem Wort: Furcht. AII das, was das Leben verzerrt oder zerstört, hat eine Wurzel und das ist die Furcht. Wir fürchten uns einfach davor zu leben. Warum fürchten wir uns davor zu leben? Weil ‹leben›, lebendig-sein bedeutet, sich selbst zu geben, und wenn wir uns wirklich geben, wissen wir nie, was mit uns geschehen wird.
Solange wir alles schön unter Kontrolle halten, alles zweckorientiert ist und wir alles im Griff haben, solange gibt es keine Gefahr ‒ aber auch kein Leben. Eine Welt, in der wir alles unter Kontrolle halten könnten, wäre so langweilig, dass wir alle tot wären. Wir würden sterben vor Langeweile. In gewisser Weise erfahren wir das jeden Tag ein bisschen. Wir bekommen Angst und halten die Dinge unter Kontrolle, aber sobald wir sie im Griff haben, langweilen wir uns. Denken Sie einmal an persönliche Beziehungen: ‹Ich habe sie im Griff; ich weiß, wie ich sie anpacken muss; ich weiß, wie ich ihn anpacken muss.›
Bis zu einem gewissen Grad ist das ganz gut, es ist sehr beruhigend. Aber dann geraten wir an einen Punkt, wo das entsetzlich langweilig wird, und dann sagen wir: ‹Lass uns ein kleines Abenteuer wagen.› Sobald wir aber ein Abenteuer wagen, ist Gefahr da, ist ein Risiko da. Ohne Risiko können wir kein Abenteuer erleben, also öffnen wir uns ein wenig.
Wir lockern unseren Griff ein bisschen, und sofort wird die Sache sehr interessant und abenteuerlich, aber auch furchterregend. Kaum haben wir uns versehen, da haben wir uns auch schon wieder eingeigelt und versuchen, die Dinge wieder in den Griff zu bekommen. So bewegen wir uns hin und her, hin und her, und das ist es, worum es im spirituellen Leben eigentlich geht. Das ist es, worum es bei der Religion eigentlich geht: die Überwindung der Furcht, uns selbst zu verlieren.»]
_______________
[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 63f.]
[2] Sterben lernen (2005); siehe auch Sterben und Wandlung
[3] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018): ‹Kontemplation und Muße›, 65f. [bzw. Fülle und Nichts (2015), 64f.]
[4] Sterben lernen (2005)
[5] Vortrag Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 13. In diesem Vortrag geht Bruder David ausführlich ein auf den Zusammenhang von Sinn und Zweck, Arbeit, Spiel, Muße, Kontrolle und Hingabe, Sinn und Feier, Sterben und Wandlung
Konvertieren
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Das Eine, was wir immer finden werden müssen, ist natürlich unsere eigene Mitte: nicht irgendeine Lehre da draußen, sondern unser eigenes innerstes Herz. Wenn die Tradition, in der du aufgewachsen bist, dir nicht geholfen hat, das zu finden, dann belaste dich nicht, wenn du woanders danach suchst, denn ich bin hoffnungsvoll, dass deine Suche erfolgreich sein wird.
Aber ich bin auch traurig, wenn ich sehe, wie viel meine Religion mir gegeben hat und wie viel sie anderen Leuten geben könnte, und ich merke, dass in den Erziehungseinrichtungen oder in der Familie etwas zu fehlen scheint. Ich kann nicht genau sagen was. Aber wenigstens haben junge Menschen genug Mut und Interesse und religiöses Feuer, um anderswo danach zu suchen.
Bei einem Kind, das auf katholische Schulen gegangen ist, katholische Eltern hat und dessen Eltern jetzt erschüttert sind, weil er oder sie auf einmal buddhistische Roben trägt oder nach Indien geht oder was auch immer, gilt meine einzige Sorge den Eltern. Ich versuche, ihnen immer zu sagen, «Freut euch mit eurem Kind, weil dieses Kind unter einer anderen Hülle, unter einem anderen Etikett das gefunden hat, was euch so wichtig ist.» Ich versuche, ihren Horizont ein wenig zu erweitern. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass diese jungen Leute, wenn sie auf dem Weg, den sie gewählt haben, weitergehen, das finden werden, was wir «Christus» nennen. Weil ich weiß, dass man es in all den verschiedenen Traditionen finden kann. Natürlich passiert es sehr oft, dass Leute, die einen christlichen Hintergrund haben, viele Jahre damit verbringen, beispielsweise Zen zu praktizieren, oder Yoga ‒ und dadurch letzten Endes ihren christlichen Hintergrund wiederentdecken.
Aber das soll nicht bedeuten, dass ich Nominalist bin. Ich sage nicht: «Es ist alles gleich». Die Wege sind sehr, sehr unterschiedlich. Je mehr du sie erforschst, desto mehr stellst du fest, dass sie weit unterschiedlicher sind, als du anfangs gedacht hattest. An der Oberfläche gibt es eine gewisse Ähnlichkeit, und tief drunten ist eine Einheit. Aber zwischen diesen beiden Polen sind sie so verschieden, wie sie nur sein können. Und das ist gut, weil es so für jeden etwas gibt.
[ST 143f. unter dem Titel «Wege», Quelle: GR, aus dem Englischen übersetzt von Ulla Bohn]
Kosmische Intelligenz
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Meine Vision für die Welt? Meine Hoffnung für die Zukunft?
Das Thema tönt gar groß, deshalb möchte ich mit etwas Kleinem beginnen, sagen wir – mit Krähen. Sie sind meine besonderen Freunde. Gerade als ich diese Zeilen schreibe, verschlingt eine von ihnen, die Scheue unter meinen regelmässigen Gästen, das Vogelfutter, welches ich für sie hinausgestellt hatte.
Das bringt mir ein kurzes Gedicht von Robert Frost in Erinnerung,[1] das einen Einstieg liefern könnte für unsere Überlegungen zu einer Vision für die Welt und einer Hoffnung für die Zukunft, wenn überhaupt.
«Wie eine Krähe
das Schneegeriesel
von einer Hemlocktanne
auf mich herabschüttelte,hat meinem Herzen
einen Stimmungswandel gegeben
und rettete einen gewissen Teil
eines Tages, den ich bereut hatte.»
Sicher kannst du dich an eine ähnliche, eigene Erfahrung erinnern: Irgendein komischer kleiner Vorfall brachte dich zum Lächeln, veränderte deine Stimmung, und plötzlich sah die Welt heller aus.
Wenn dir das jemals geschah, dann hast du den Schlüssel in der Hand, um eine Kausalkette von großer Tragweite zu verstehen:
Jede Veränderung der inneren Einstellung verändert die Art und Weise, wie man die Welt sieht, und dies wiederum verändert die Art und Weise, wie man handelt.
Wenn Robert Frost behauptet, dass die kleine List der Krähe einen Teil seines Tages «rettete», den er bereut oder bedauert hatte, meint er dies im wahrsten Sinn eines befreienden Wandels des Herzens.
Ich bin sicher, dass er, zuhause angekommen, Frau Frost in einer besseren Stimmung begrüßte als er dies ohne den Schubs der Krähe hätte tun können. Und es ist nicht abzusehen, was dies bei ihr bewirkte ‒ und wie sie hinterher ihren Hund behandelte oder freundlicher mit ihrem Nachbarn sprach.
Aber was genau hat diese glückliche Kettenreaktion ausgelöst? Was gab Frosts Herzen diesen Stimmungsumschwung?
Versetze dich in seine Situation, wie er schlecht gelaunt durch den Wald latscht.
Dann fühle, wie der Schnee plötzlich auf dich herabrieselt. Rüttelt dies dich nicht vom Grübeln auf?
Eine solche Störung könnte dich wütend machen, wenn du darauf beharrst, mit deinen Problemen beschäftigt zu bleiben. Aber ‒ Überraschung ‒ der eisige Schneeschauer reißt dich aus deiner Selbstversunkenheit heraus und du schaust den gegebenen Tatsachen ins Auge: eine Hemlocktanne, eine Krähe, schmelzender Schnee in deinem Nacken. Zack!
Eine rettende Veränderung der Stimmung.
Was diese Veränderung verursachte, ist Dankbarkeit.
Dankbarkeit? Ich höre einen Chor der Ungläubigkeit.
Zugegeben, Frost war nicht in der Stimmung, der Krähe zu danken.
Aber Dankbarkeit ist mehr als Bedanken.
Bedanken kommt mit Denken.
Dankbarkeit geschieht vor dem Denken, in dieser kurzen Lücke zwischen dem Schneegeriesel und dem Gedankengang.
Es ist die spontane Antwort des Herzens auf das unentgeltlich Gegebene.
Diese Dankbarkeit löst Energie aus.
In der Lücke zwischen der Überraschung und dem ersten Gedanken, nimmt die mächtige Woge einer Intelligenz, welche weit über den Gedanken hinausgeht, Besitz von uns.
Wir können unser Denken zu einem Werkzeug dieser schöpferischen Intelligenz machen, die stetig die Welt hervorbringt und erhält.
Wenn wir uns dieser gütigen Kraft bereitwillig öffnen, hat sie die Kraft alles zu ändern, was nicht mit ihr in Einklang ist.
Dankbarkeit ist Denken im Einklang mit der kosmischen Intelligenz, die uns in dankbaren Augenblicken inspiriert.
Sie kann mehr als eine Stimmung verändern, sie kann die Welt verändern. [Eine Vision für die Welt (2006)]
[Ergänzend:
1. Eine Vision für die Welt (2006): 5. Schritt:
«Höre die Nachrichten von heute und überprüfe wenigstens eine Sache mit deinem gesunden Menschenverstand:
Gesunder Menschenverstand ist bloß ein anderer Name für das mit der kosmischen Intelligenz vermählte Denken.»
2. Erinnerungen an die letzten Tage von Thomas Merton im Westen (1968):
«Thomas Merton: ‹Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, in einem Haus des Gebets. Hier gibt es eine wahre und echte Verwirklichung des zisterziensischen Geistes, eine Atmosphäre des Gebets. Genießt es! Nehmt es in euch auf. Alles, die Redwood-Wälder, das Meer, den Himmel, die Wellen, die Vögel, die Seelöwen. In all dem werdet ihr eure Antworten finden. Da ist alles vernetzt.› (Die Vorstellung der ‹Vernetzung› war für Thomas Merton mit geheimnisvoller Bedeutung beladen.)
Drei Seiten der Kapelle hier bestanden aus soliden Blockwänden. Die vierte Seite, ganz aus Glas, öffnete sich auf eine von Mammutbäumen umsäumte Lichtung hin. Die Bäume waren so hoch, dass trotz dieser hohen Fenster von den näheren Bäumen nur die riesigen Säulen des Baumrumpfes zu sehen waren. Die Zweige darüber konnten nur erahnt werden durch die Richtung, in der sie die Sonnenstrahlen auf den Waldboden durchscheinen ließen. Ja, selbst die Natur, welche ‹Our Lady of the Redwoods› (Kloster in Kalifornien) umgab, trug zur Atmosphäre des Gebets bei, ganz zu schweigen von den Frauen, welche hier beten und ihrer charismatischen Äbtissin.
An diesem Tag hatten wir als Evangelium das Gleichnis vom Reich Gottes als einem großen Hochzeitsfest gehört. Gleichzeitig mit dem Kommuniongang begannen fliegende Ameisen durch den ganzen Wald auszuschwärmen und erhellten ihn mit Zehntausenden von glitzernden Flügelchen wie in einem Hochzeitszug. Alles ‹vernetzt›.»
3. Musik der Stille (2023), 66f.:
«Robert Frost berichtet von einem Landarbeiter, der frühmorgens hinausgeht, um das Heu zu wenden. Der Mäher hatte seine Arbeit bereits viel früher am Morgen getan und war längst weggegangen.
Und nun fühlt sich dieser Mann beim Heuwenden etwas verlassen und einsam und sagt sich: ‹Ich muss allein sein ‒ genau so wie der andere es war. Wie alle es sein müssen, so sinniert er in seinem Herzen, ob sie zusammen arbeiten oder getrennt.›
Dann aber wird seine Aufmerksamkeit von einem Schmetterling auf ein Blumenbüschel gelenkt, das der Mäher stehengelassen hat, weil es zu schön war, um abgemäht zu werden.
Das gemeinsame Erlebnis der Schönheit dieser Blumen bewegt ihn, sich anders zu besinnen: ‹Und gleichsam träumend unterhielt ich mich brüderlich mit jemandem, den ich nicht einmal in Gedanken zu erreichen hoffte.›
‹Menschen arbeiten gemeinsam›, sagte ich ihm von Herzen, ‹ob sie zusammen arbeiten oder getrennt›.»
4. Audio-Fokus aus DVD Gespräch 2006 – Der Atem der Stille, Mystik heute – Gespräch « Bewusstsein, Denken und das bewusste Sein.
5. Der Anspruch von Menschen und Tieren (1994):
Audio: Archetypen (C.G. Jung)[2] und das Erleben von Schamanen
Audio: Erlebnisse im Zug, beim Sterben, mit einer Osterkerze]
______________________________
[1] Robert Frost: «Dust of Snow»:
«The way a crow
Shook down on me
The dust of snow
From a hemlock tree
Has given my heart
A change of mood
And saved some part
Of a day I had rued.»
[2] C. G. Jung: «Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.» [Quelle: Synchronizität (Wikipedia)]
Kreuz – Sinnbild
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
[Audio Vortrag(03:58-9:53)] «Ich möchte mit ein paar Zeilen eines Gedichtes aus Rilkes Stundenbuch beginnen, die unsere Situation recht gut kennzeichnen, die Situation aus der vielleicht viele von euch heute Abend hierhergekommen sind:
‹Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.›
Dieses Verrinnen, dieses sich Verlieren ist genau das Gegenteil von der Sammlung, die uns zu unserer Herzmitte führt.
Darum auch nicht nur die Beschreibung dieser Situation, die wir so gut aus unserer eigenen Erfahrung kennen, aus dem täglichen Leben:
‹Ich verrinne, ich verrinne›: ich verliere mich, ‹ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt›,
sondern ich fühle den Schmerz dieses Verrinnens am meisten mitten im Herzen, am meisten dort, wo ich gesammelt sein sollte, aber nicht gesammelt bin.
‹Ich habe auf einmal so viele Sinne›: die Sinne, die einander widersprechen, die Sinne, die uns hinausziehen und uns hinauslocken, weil wir sie nicht zusammenbringen können in einen Sinn.
Die Frage des Sinnlichen ist ungeheuer wichtig im Zusammenhang mit dem Herzen: Es ist nur durch die Sinne, dass wir Sinn finden können. Aber unsere Sinne können einander widersprechen, wie das eben hier so schön heißt:
‹Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.›
Anstatt dankbar empfangend zu sein, sind sie durstig und widersprechen einander. Und die große Aufgabe, wenn wir das Herz finden wollen, ist, diese Sinne in unserer Sinnlichkeit zu sammeln und die Sinne in ein Sinnbild zu sammeln.
Und daher ein paar andere Zeilen auch aus dem Stundenbuch Rilkes:
‹Wer seines Lebens viele Widersinne (die einander widersprechenden Sinne)
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.
Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›
Ein Gebet an Gott gerichtet:
‹Du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt›,
wenn es ihm gelingt, seines Lebens viele Widersinne zu versöhnen und dankbar in ein Sinnbild zu fassen.
Darum geht es uns und darum ist es auch so hilfreich, Bilder aus der Dichtersprache dazu zu verwenden, die uns helfen, unser eigenes Erleben zu fassen und in ein Sinnbild zu fassen.
Wir können Sinn letztlich nur durch die Sinne finden. Wie sollten wir ihn anders finden? Thomas von Aquin sagt schon, dass nichts in unserem Intellekt ist, was nicht durch die Sinne hereingekommen ist.
Wir wären leer ohne die Sinne. Die Sinne können auch einander widersprechen, können durstig uns zerreißen, wenn wir sie nicht zusammenführen und es ist das Sinnbild, durch das wir sie zusammenführen und in dem wir dann Sinn finden.
Sinn bedeutet in diesem Zusammenhang das, worin wir Ruhe finden. Das worin wir ausruhen können. Das womit wir das Leben feiern können.
Darum sagt Rilke auch: Wem dies gelingt, der ‹wird a n d e r s festlich›, anders festlich als unsere weltlichen Feste sind: Der hat die Mitte gefunden, für den wird das Göttliche zum ‹Zweiten seiner Einsamkeit›,
‹die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.›
Wir alle kennen ‒ und hier richte ich mich an ihr eigenes Erleben ‒, es kommt ja sehr viel darauf an, dass wir nicht Abstraktionen herumwerfen, sondern, dass wir vom Erlebten zum Erlebnis sprechen, dass wir in der Erinnerung unsere eigenen Erlebnisse hier hereinbringen:
Ich glaube, Sie erinnern sich alle an Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird. Manchmal ist es ein visuelles Sinnbild, manchmal ist es Musik, manchmal ist es eine Begegnung: auf viele verschiedene Arten kann sich plötzlich alles für uns in ein Bild sammeln, in ein Wort sammeln.»[1]
Wenn wir unseres Lebens viele Widersinne versöhnen und dankbar in ein Sinnbild fassen: Was kann dieses Sinnbild sein?
Clemens Brentano nennt in einem wunderschönen Gedicht das Feldkreuz als dieses Sinnbild. Er hat dieses Gedicht an das Ende seines Buches gestellt und damit eigentlich an das Ende von allem, was er geschrieben hat.[2]
«Was reif in diesen Zeilen steht,
Was lächelnd winkt und sinnend fleht,
Das soll kein Kind betrüben,
Die Einfalt hat es ausgesäet,
Die Schwermut hat hindurchgeweht,
Die Sehnsucht hat's getrieben;
Und ist das Feld einst abgemäht,
Die Armut durch die Stoppeln geht,
Sucht Ähren, die geblieben,
Sucht Lieb', die für sie untergeht,
Sucht Lieb', die mit ihr aufersteht,
Sucht Lieb', die sie kann lieben,
Und hat sie einsam und verschmäht,
Die Nacht durch dankend in Gebet,
Die Körner ausgerieben,
Liest sie, als früh der Hahn gekräht,
Was Lieb' erhielt, was Leid verweht,
Ans Feldkreuz angeschrieben,
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit!»
Im Kreuz steht die Gegenwart, das Jetzt, senkrecht auf dem Fluss der Zeit: der gegebene Augenblick. Brentano findet ans Feldkreuz angeschrieben diese Worte. Und er findet den Gekreuzigten, der ihm zum Sinnbild wird.
«Oh Stern und Blume
Geist und Kleid
Lieb, Leid und
Zeit und Ewigkeit!»
In allem, was es gibt, drückt sich das Grenzenlose, Unbegrenzte und Unendliche aus. Es drückt sich in allen Formen aus. Der Stern etwa zeigt sich in der Blume. Kinder zeichnen das gerne, den Stern. Oder die Sonne oben und drunter die Sonnenblume, oder den Stern und die Sternblume.
«Oh Stern» ‒ das Unendliche ‒ und die Blume ‒ das ganz Kleine.
«Geist und Kleid»: Alles, was wir sehen, ist Kleid des Geistes. Alles, was es gibt, ist Gabe dieses unbegrenzten Es, das uns alles gibt.
Auch «Lieb und Leid». Im Leid drückt sich die Liebe völlig aus. Das Unbegrenzte ist die Liebe, das Leid ist die begrenzte Form, in der wir hier in diesem Leben die Liebe am tiefsten erfahren. Dieses Sinnbild ist am Feldkreuz angeschrieben.
Und schließlich: «Zeit und Ewigkeit». Am Feldkreuz wird es umgedreht: «Ewigkeit und Zeit». Die Ewigkeit drückt sich in der Zeit aus, in dem Augenblick. So wie der Stern in der Blume, wie der Geist in seinen vielen Kleidern, wie die Liebe sich im Leid ausdrückt. Zeit und Ewigkeit. Das ist das Sinnbild, scheint mir, in dem wir die vielen Widersinne unseres Lebens versöhnen und dankbar zusammenfassen ‒ das Kreuz.[3]
Johannes Kaup: «Das Geistige und das Emotionale, das Leibliche und Seelische, das Profane und das Heilige, das Zeitliche und das Ewige: Wie hängen diese Doppelbereiche zusammen bzw. wie existieren Sie in diesen Doppelbereichen so, dass Sie nicht an einer Gespaltenheit leiden?»
Bruder David: «Diese Gegensätze begegnen uns überall, und die wichtige Einsicht ist, dass wir sie zwar unterscheiden können, aber nicht trennen dürfen. Sie bleiben Gegensätze, gehören aber innig zueinander und bedingen einander. Sie polarisieren nicht das Leben, sondern sind Pole einer unteilbaren Einheit.
Clemens Brentano weist an einer wichtigen Stelle seiner Dichtung auf Pole jeder vollen Lebendigkeit hin:
‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.›
Rilke hat dafür den schönen Begriff Doppelbereich geprägt.
Wir können Polarisierung dadurch vermeiden, dass wir den einen Pol anschauen und in diesem Pol schon den anderen sehen. Ich schaue z. B. auf die Zeit und erfahre in der Zeit die Ewigkeit, eben das Jetzt, das über die Zeit hinausgeht. Oder ich schaue auf das Leid und sehe darin das irdische Antlitz der Liebe. Ich schaue auf den Stern und sehe darin die Blume oder ich schau die Blume und sehe darin den Stern. Der ganze Kosmos ist ein Doppelbereich.»[4]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 1, 3f.]
[Ergänzend:
1. Die Crux gemmata:
Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
Gespräch: (01:08:24) Die Crux gemmata, das mit Edelstein geschmückte kosmische Kreuz im Vergleich zum Isenheimer Altar
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut
2. Prophetischer Gehorsam im Sinnbild des Kreuzes:
Arbeit und Schweigen, Beitrag von Bruder David im Buch Geist und Natur (1989), 298; siehe auch Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 2.:
«Das Ideal des Gehorsams ist der prophetische Gehorsam, das heißt, ein Gehorsam, der so tief horcht, dass er etwas hört, was die vorherrschende Meinung nicht hören will, und nicht umhin kann, es klar herauszusagen.
So wie der Prophet Jeremias, der es ja gar nicht sagen will. Er schreit: ‹Ich will meinen Mund verschließen, weil es mich in solche Unannehmlichkeiten bringt, aber es verbrennt mich von innen. Ich kann nicht anders, es stößt mir von innen den Mund auf› (Jer 20, 7-18).
Wenn wir sagen, denen geb ich es jetzt einmal, ich weiß schon, was Gott von denen will, dann sind wir höchstwahrscheinlich nicht gerade prophetisch. Wenn wir uns winden und wenden, aber nicht umhin können, es doch zu sagen, dann besteht eine gewisse Möglichkeit, Prophetisches zu äußern.
Aber es gehört noch etwas dazu. Das freie und tapfere Aussprechen genügt nicht, obwohl das schon schwer genug ist. Wenn wir es jetzt sagen und dann schnell hinausgehen, schnell verschwinden, dann sind wir nur noch Kritiker von außen, aber der Prophet ist kein Kritiker von außen. Der Prophet steht drinnen, mitten in der Gemeinschaft. ‹Kein Prophet kann außerhalb Jerusalems sterben› (Lk 13,33),[5] sagt Jesus, das heißt, er muss dort sein, wo es ums Wesentliche geht.
So müssen auch wir mitten drinstehen. Dieses Drinstehen in einer Gemeinschaft ist so schwierig, dass man glauben sollte, es genüge schon. Drinnen zu bleiben, ohne sich bemerkbar zu machen, ist schwer genug. Darin, dass beides von uns verlangt wird, in der Gemeinschaft zu stehen u n d sie zugleich herausfordern, da liegt das Kreuz des Propheten.
Das Drinnenstehen ist der senkrechte Balken und das Herausfordern ist der horizontale Balken.
So endet jeder Prophet früher oder später am Kreuz. Versuchen Sie nur einmal bei irgendeiner Gelegenheit, wirklich aus dem tiefsten inneren Horchen, aus dem Herzen zu sprechen, besonders dann, wenn sich das, was Sie sagen wollen, mit der vorherrschenden Meinung nicht ganz verträgt. Sie werden auf die eine oder die andere Weise gekreuzigt werden.»]
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[1] Transkription des Vortrags (03:58-09:53) Mit dem Herzen horchen (1988):
(03:58) ‹Ich verrinne, ich verrinne› / (06:32) ‹Wer seines Lebens viele Widersinne (R. M. Rilke aus dem Stundenbuch) / (07:56) Die Sinne im Sinnbild zusammenführen, Sinn finden: Das worin wir Ruhe finden ‒ Augenblicke, in denen uns das Leben plötzlich in ein Sinnbild gefasst wird
[2] Mit diesem Gedicht enden die ‹Blätter aus dem Tagebuch der Ahnfrau›, die Fortsetzung des Märchens ‹Gockel, Hinkel und Gackeleia›. In den heutigen Ausgaben trägt das Gedicht die Überschrift ‹Eingang›.
[3] Fragen, die uns bewegen (2005):
(28:48) ‹Wer seines Lebens viele Widersinne› (Rilke, Das Stundenbuch) ‒ ‹O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit› (Clemens Brentano, ‹Eingang›); der Text dazu in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 121-123, und der Vortrag Fragen, die uns bewegen (2005), abgedruckt im kleinen Buch Und ich mag mich nicht bewahren (2012): Vom Älterwerden und Reifen, 29-32
[4] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 190f.; siehe auch Doppelbereich: Ergänzend: 2.
[5] Audio in Reich Gottes ‒ ‹gekreuzigt›: Ergänzend: 3.2.
Kreuz – Zeichen der Hoffnung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn Hoffnungen um der einen überragenden Hoffnung willen mit Hoffnungen zusammenstoßen, dann wird offensichtlich, in welchem Sinne wir uns «rühmen im Kreuze unseres Herrn Jesus Christus» (Gal 6,14).
Das Kreuz ist ja nicht juwelenbesetztes Zeichen des Triumphs, sondern unser eigenes, äußerst reizloses Leid ‒ Martin Luther Kings, Karen Silkwoods, Oscar Romeros, dein eigenes.
Die Flugbahn der Hoffnung ist keine ungestörte Kurve «von Herrlichkeit zu Herrlichkeit».
Sie führt durch das Paradox des Kreuzes.
Seine zwei Linien kreuzen sich im Konflikt wie aufeinanderstoßende Hoffnungen.
Das Kreuz steht für jene Kollision, in der unsere Hoffnungen untergehen müssen, auf dass am dritten Tage Hoffnung auferstehen kann. Der auferstandene Herr sagt zu seinen entmutigten Jüngern:
«Musste nicht der Messias all dies leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?» (Lukas 24,26)
«Heil, heiliges Kreuz, einzige Hoffnung du»
singt eine alte christliche Hymne:
«O crux ave, spes unica!»
Wie kann denn das Kreuz Zeichen der Hoffnung sein und nicht eher der Hoffnungslosigkeit?
Als Jesus am Kreuze hing, waren alle seine Hoffnungen zerbrochen.
Warum war es «nötig», dass Jesus all dies erleiden musste?
Weil wir unsere Hoffnungen auf das gründen, was wir uns vorstellen können. Hoffnung aber ist offen für das Unvorstellbare.
«Kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört,
was Gott vorbereitet hat.» (1 Kor 2,9)
So müssen denn unsere verzweifelten kleinen Hoffnungen durchkreuzt werden, um Platz zu schaffen für die überragende Überraschung, «den Gott der Hoffnung», dessen Einbrechen in unser Leben Tod und Auferstehung bedeuten.
Ein Freund, der das Manuskript für mich las, schrieb an dieser Stelle an den Rand: «Gib Beispiel aus Lebenserfahrung.»
Ein wohlgemeinter Rat, aber streng genommen eine unmögliche Aufgabe. Erfahrung des Lebens, wie wir es kennen, liefert für Gottes Einbrechen keine Beispiele, denn jenes Ereignis ist immer Todeserfahrung.
Seine andere Seite freilich heißt Auferstehung.
Auferstehung aber ist nicht Wiederbelebung, überleben oder Wiedererweckung.
Auferstehung ist nicht Rückkehr in dieses Leben des Todes.
Was wäre das schon wert?
Auferstehung ist ein Hineingehen in den Tod und ein Hindurchgehen, hinein in eine Fülle jenseits von Leben und Tod, wie wir sie kennen.
Von unserem Ufer aus betrachtet, ist der Tod einfach das Sterben. Es sei denn, wir steigern unsere Hoffnungen zur Fata Morgana. Hoffnung tut das nicht. Sie schaut dem Tod direkt ins Gesicht, schaut geradewegs hinein in das weit offene Tor der Überraschung.
Am Ostermorgen verkündet der Engel die Auferstehung Jesu nicht, indem er sagt: «Hier ist er; er kehrte ins Leben zurück!» Nein.
Auf diese Weise nach ihm zu suchen hieße, den Lebenden unter den Toten zu suchen. Hier ist er nicht. Er lebt nicht mit dem Leben, das wir kennen und das dem Tode näher ist als wahrem Leben.
«Er ist auferstanden»,
heißt die frohe Botschaft, und‒
«Er ist nicht hier.»
Alles was wir aus dieser Perspektive sehen können, ist, dass die Grabkammer offen und leer ist, ein passendes Bild für weit offene Hoffnung.[1]
Bruder David: «Maßloses ‹Mehr und Mehr› ist ja geradezu das Markenzeichen unserer Gesellschaft. In Gottes Reich gilt: ‹Weniger ist mehr.›
Mitten in einer Gesellschaft, die tief in Versuchung gefallen ist, verlangt das Reich Gottes ein Aufstehen.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Ein Aufstehen gegen eine schier übermächtige Gesellschaft wird da von uns verlangt.»
Bruder David: «Das ist es ja schließlich, was ‹Nachfolge Christi› bedeutet. Aber dieses Aufstehen und Dagegenhalten führt auch für uns schließlich zu einem Auf-er-stehen.»
Brigitte Kwizda-Gredler: «Das ist in jedem Augenblick möglich. Jeder Augenblick kann in diesem Sinn zu einem Ostern werden.»[2]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1f.]
[Ergänzend:
1. Audios und zum Gedicht von Joseph von Eichendorff: ‹Es wandelt, was wir schauen›:
So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag:
(18:46) ‹Es wandelt, was wir schauen› und ein Brauch im jüdischen Laubhüttenfest
Siehe auch den Text des Gedichts in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 93
Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffungsvortrag:
(30:39) ‹Es wandelt, was wir schauen› / (34:25) Offen zum Himmel und zu den Nachbarn: Die Laubhütten am jüdischen Laubhüttenfest
Retreat-Woche in Assisi (1989)
‹Stärke unsern Glauben› (Lk 17,5)
(49:08) Hoffnung vor dem Scherbenhaufen zerstörter Hoffnungen ‒ ‹Du bist’s, der, was wir bauen, mild über uns zerbricht› (‹Es wandelt, was wir schauen›): Die Hütten am Laubhüttenfest sind durchsichtig zu den Nachbarn und den Sternen
2. TAO der Hoffnung (1994)
Diskussion:
(54:39) Bei schweren Prüfungen sehen wir erst nachher, dass wir sie gebraucht haben. Wir alle haben Angst vor dem Leben: Das Leben ist ein ununterbrochenes Sterben in größeres Leben hinein. Sterben ist etwas, was wir tun müssen: Ein sich hingeben – Loslassen üben – Hoffnung ist Offenheit für Überraschung im Unterschied zu Hoffnungen, die sich vielleicht nicht verwirklicht haben]
______________________
[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 138-140 [bzw. Fülle und Nichts (2015), 138f.]
[2] Das Vaterunser (2022): ‹Jeder Augenblick kann zu einer Erfahrung von Ostern werden!›: Gespräch von Brigitte Kwizda-Gredler mit Bruder David, 92f.
Kreuz und Auferstehung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Jesus verkündet die unter uns wirksame erlösende Kraft Gottes, und er appelliert an den gesunden Menschenverstand, an den Gemeinsinn.
Es ist unser Gemeinsinn, er ist uns allen gemein.
Und er hat etwas zu tun mit der Sinneserfahrung.
Es gibt zwei sehr wichtige Aspekte der christlichen Mystik: die Betonung der Gemeinschaft und die Betonung der Sinneserfahrung. Beide sind in dem Begriff Gemeinsinn enthalten.
Auf diesen Gemeinsinn beruft sich Jesus stets.
Diese Tatsache ist wichtig, wenn wir Jesus und den mystischen Durchbruch, der sich bei ihm und durch ihn einstellte, verstehen wollen.[1]
Fragen Sie sich selbst: Auf welche Autorität berief sich Jesus?
Die Antwort lautet: Auf den Gemeinsinn.
Wenn Sie in die Kirche gehen und Predigten hören, gewinnen Sie unter Umständen den Eindruck, Jesus habe sich auf die Autorität Gottes berufen, so wie seit alters die Propheten.
Doch bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass Jesus nie die typische prophetische Formel benutzte: «Also sprach der Herr …»
Er berief sich nicht einfach auf die Autorität Gottes und am allerwenigsten auf seine eigene. (Leute, die das tun, können kaum jemanden für sich gewinnen. Schon aus diesem Grund können wir überzeugt sein, dass er es nie tat.)
Er berief sich auf die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer, auf den Gemeinsinn.
Aus diesem Grund geriet Jesus auch in Schwierigkeiten, kam es zu der historischen Krise in seinem Leben.
Jemand, der sich auf den Gemeinsinn beruft, gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Autoritäten.
Sowohl für die religiösen als auch für die politischen Autoritäten ist niemand verdächtiger als jemand, der gelernt hat, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, und der dies anderen vermittelt.
So jemand war Jesus, und solche Menschen sind auch die Mystiker. Die Mystiker geraten ständig in Schwierigkeiten mit religiösen Autoritäten, häufig auch mit politischen Autoritäten.
Durch seine Lehre und sein Leben trieb Jesus einen Keil zwischen den Gemeinsinn und die öffentliche Meinung. Er berief sich auf den Gemeinsinn und machte dadurch den Anspruch der öffentlichen Meinung völlig zunichte.
Aus diesem Grund berichtet Markus auch, dass die einfachen Leute sagten:
«Donnerwetter, dieser Mann spricht mit Autorität, nicht so wie unsere Autoritäten.»
Sie können sich vorstellen, was die Autoritäten davon hielten und wie sie reagierten, nämlich: Dieser Mann muss sterben.
So teilen es uns auch die Evangelien mit.
Wir sagten ‒ Sie erinnern sich -, dass Religion mit der Mystik beginnt und sich schließlich zu Lehre, Moral und Ritual verfestigt.[2]
Aus diesem Grund wird Jesus auch in den Evangelien etwas schematisch gegen drei Gruppen von Autoritäten abgesetzt: gegen die Schriftgelehrten (stellvertretend für die Lehre), die Rechtsgelehrten (stellvertretend für das Gesetz), und die Pharisäer (stellvertretend für das Ritual).
Die Evangelien selbst und auch das übrige Neue Testament beweisen ‒ sonst würden wir es ja gar nicht wissen ‒, dass es hervorragende heilige Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Pharisäer gab.
Doch sie werden jeweils als Typus dargestellt, und als solche gibt es sie auch heute noch. In jeder Kirche kann man den Schriftgelehrten, den Rechtsgelehrten und den Pharisäern begegnen.
Wir finden sie aber auch in unserem eigenen Inneren. Sie stehen für den toten Buchstaben im Gegensatz zur persönlichen Erfahrung, für den Legalismus im Gegensatz zu einem Handeln, das aus einem lebendigen Zugehörigkeitsgefühl entspringt, und für den Ritualismus im Gegensatz zu einer Feier des Lebens als Ganzes.
Jesus bekam aber nicht nur Schwierigkeiten mit den religiösen, sondern auch mit den politischen Autoritäten.
Am Ende machten sie gemeinsame Sache und löschten ihn aus.
An diesem Punkt trat das Kreuz in das Leben Jesu.
Wir können das Kreuz ‒ wie in der christlichen Tradition geschehen ‒ auf vielfache Weise interpretieren, doch wir gehen am Wesentlichen vorbei, wenn wir nicht beachten, welche historische Rolle es spielte.
Jesus musste sterben, weil er die Grenzen des Bewusstseins durchbrach, weil er die Grenzen dessen durchbrach, was es bedeutet, religiös zu sein.
Wir sollten uns selbst lieber fragen, ob wir den Mut besitzen, uns für den Gemeinsinn gegen die öffentliche Meinung einzusetzen.
Wir gehen ein großes Risiko ein, wenn wir uns von den Gleichnissen mitreißen lassen.[3]
Wenn ich einmal «Ja» zum Gemeinsinn gesagt habe, warum lebe ich dann nicht danach?
Warum lebe ich nicht mit der Lebendigkeit meiner größten Augenblicke?
Warum mache ich all diese Konzessionen an die öffentliche Meinung?
Warum lasse ich mich nicht von der Autorität Gottes in mir leiten?
Warum beuge ich mich anderen Autoritäten?
Und es gibt viele verborgene Autoritäten.
Denken Sie an den Druck, der von Ihren Altersgenossen ausgeht. Da finden wir alle möglichen Autoritäten, denen wir uns beugen.
Und warum? Wenn man es nicht tut, endet man unweigerlich da, wo Jesus endete, an seinem eigenen Kreuz.[4]
Dies ist das erschütternde Ende des Lebens Jesu.
Dieser Mensch übt immer noch in einigen der frühesten Schriften eine gewaltige Wirkung auf uns aus, als jemand, von dem andere sagen würden:
«Ja, genau so würden wir gerne sein, wenn wir wirklich wir selbst wären.»
Er lebte aus diesen mystischen Augenblicken heraus, und wir tun es nicht.
Wir haben sie immer wieder einmal, und dann verraten wir sie wieder.
Er lebte aus dieser Realität.
Deshalb wurde er ausgelöscht, musste er sterben.
Historisch ist dies das Ende der Geschichte.
Doch dann kommt ein Ereignis, das sich nicht innerhalb und nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern den Rand der Geschichte markiert, das Ereignis, das Auferstehung genannt wird.
Man kann die Geschichte Jesu nicht angemessen erzählen, ohne über die Auferstehung zu sprechen.
Sie ist nicht lediglich ein Anhang zum Leben Jesu. Ohne sie gäbe nichts, was seitdem geschehen ist, ja nicht einmal das Bild, das wir von Jesus haben, einen Sinn.
Aber was ist diese Auferstehung?
Wie können wir rekonstruieren, was wirklich geschehen ist?
Halten wir uns an den frühesten Bericht. Nach diesem starb Jesus am Kreuz. Sie nahmen ihn vom Kreuz ab, begruben ihn hastig, weil es der Vorabend des großen Festes war, und bald nach dem Fest fanden Frauen das Grab leer.
Der Umstand, dass es ausgerechnet Frauen waren, brachte die Kirche der Anfangszeit sehr in Verlegenheit, denn Frauen hatten kein Recht, Zeugnis abzulegen. Frauen hatten vor Gericht keine Stimme. So etwas wie eine Zeugin gab es nicht. Und doch waren Frauen die ersten Zeugen der Auferstehung, und ihr Zeugnis wurde akzeptiert.
Dies markiert einen Wandel im ganzen Status der Frauen. Sie mussten (und müssen immer noch) einen langen Weg gehen, aber seit Anbeginn heißt es in der Überlieferung, dass Frauen als erste das Grab leer vorfanden. Und sie glaubten, dass Jesus, den sie als Sterbenden und als Leichnam gesehen hatten, lebendig war. Dies ging über jeden Bericht, wonach das Grab leer war, weit hinaus. Damals waren sogar diejenigen, die sagten, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden, bereit zuzugeben, dass das Grab leer war.
Manche Leute schauen heute auf dieses Grab, sehen, dass es leer ist, und sagen: «Der Leichnam muss gestohlen worden sein, kein Zweifel.»
Andere sehen dasselbe leere Grab und glauben dennoch, dass Jesus auferstanden ist. Sie sagen:
«Jetzt verstehen wir! Warum sollten wir auch den Lebenden unter den Toten suchen?! Dieser Mann verkörperte das Leben selbst.
Er zeigte uns, was es bedeutet, lebendig zu sein.
Es ist jedem Vernünftigdenkenden klar, dass er sich nicht unter den Toten befindet.»
Und dann kommt die Frage: Wenn er nicht hier ist, wo ist er dann?
«Er ist verborgen in Gott»
lautet eine frühe Antwort (Kolosser 3,3).
Gott ist ebenfalls verborgen. Und dennoch erfahren wir die Macht Gottes. Jesus ist mit Gott, er ist verborgen in ihm, und er verleiht uns auch weiterhin Gottes Kraft.
So gelangten die erschütterten Nachfolger Jesu zu der Erkenntnis, dass das Leben, das er führte, stärker war als der Tod.
Noch heute, zweitausend Jahre später, spürt die Welt die Auswirkungen der Druckwelle, die ihr Glaube an seine Auferstehung ausgelöst hat.
Was Jesus als das Kommen des Reichs Gottes ankündigte, verkündigt die Kirche durch die Jahrhunderte als die Auferstehung Jesu Christi.
Beide Verkündigungen haben denselben Inhalt: Gottes manifest gewordene erlösende Kraft.
Hier haben wir den mystischen Kern der christlichen Religion, den vulkanischen Ausbruch eines neuen Beginns.
Und nun fängt der ganze Prozess unweigerlich wieder von vorn an.[5]
Die Begegnung mit Jesus wird interpretiert und die Erfahrung verfestigt sich zur Lehre. Die Implikationen der alles umfassenden Liebe Jesu werden formalisiert und verfestigen sich zu moralischen Regeln.
Sie erinnern sich, wie sie das Leben zelebrierten, als er mit ihnen aß und mit ihnen trank, und sie machen das Brechen des Brots zum Ritual.
Und so haben Sie immer wieder die christusähnlichen Figuren in der Kirche, die in dieselben Schwierigkeiten geraten, die Jesus mit seinen religiösen Autoritäten bekam.
Und doch wird uns die «frohe Botschaft» durch die Kirche, in ihr und trotz ihr vermittelt.
In der Kirche finden Sie alle die Heiligen, die durch die Jahrhunderte bis heute ein Christus ähnliches Leben geführt haben.
In derselben Kirche finden Sie aber auch die Pharisäer, die Rechtsgelehrten und die Schriftgelehrten.
Als wir fragten: «Was soll jemand, der seinen mystischen Weg akzeptiert, mit der Religion anfangen?», lautete meine Antwort:
«Sie tragen die Verantwortung dafür, die Religion religiös zu machen, weil sie, sich selbst überlassen, zu etwas Irreligiösem verkommt.»
Nun fragen wir: «Was soll ein Christ tun, der die volle Bedeutung Christi erkennt?»
Die Antwort ist. «Nun, er soll den Rest seines Lebens damit verbringen, die Kirche christlich zu machen.»
Sie wird die Kirche der Heiligen und der Sünder genannt.
Sie ist aber auch die Kirche der Mystiker und zugleich die Kirche, die es den Mystikern schwer macht.
An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, wenn wir realistisch sein wollen.
Doch im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu.
Zu diesem mystischen Keim immer wieder vorandringen ‒ das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.[6]
[Die Quellenangabe zum obigen Text in Anm. 6]
[Ergänzend:
1. Seele
2.. Audios
2.1. Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015)
Vortrag in Themen des Abends aufgeteilt:
‹Der verleugne sich selbst› ‒ das Kreuz
2.2. Vertrauen in das Leben (2014)
Vortrag:
(38:21) ‹Stirb und Werde›: Auferstehung meint etwas anderes – ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren› (Rilke)[7] – ‹Euer Leben ist verborgen in Gott› (Kol 3,3)
2.3. So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag: [8]
(06:20) Die Begegnung von Jesus mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg ‒ Abschied von dem unverstandenen Kind
(07:20) Die Kreuzigung ‒ Abschied vom vertrauten Gottesbild: Jesus stirbt mit den Worten: ‹Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?› ‒ ‹In deine Hände empfehle ich meinen Geist›
(09:21) Der Schmerz der Kreuzabnahme, der Schmerz der Pietà: Maria hat das Kind auf dem Schoss ‒ der Abschied vom Kind im Tod ‒ ‹Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos› (Rilke, Pietà, Das Marien-Leben)
(11:10) Die Grablegung Jesu ‒ ein Abschied voll Hoffnung ‒ ‹Stillung Mariae mit dem Auferstandenen› (Rilke, Das Marien-Leben)
2.4. Was bedeutet uns Jesus Christus heute? (2004)
Vortrag:
(16:17) Jesus hat in Gleichnissen gesprochen: Bruder David erklärt die literarische Form von Gleichnissen. Ohne ihre Kenntnis verfehlen wir den springenden Punkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).[9] Jesus lehrt in Witzen: Er stellt eine Frage, wir sagen: «Das wissen wir ja alle!» «Warum handelt ihr nicht danach?» der Witz ist auf unsere Kosten / (22:13) Er weist hin, wie die Gleichnisse Jesu eine religionsgeschichtliche Wende bedeuten: Jesus spricht nicht wie ein Prophet mit der Autorität Gottes, er nimmt auch nicht charismatisch seine eigene Autorität in Anspruch, sondern verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer: «Ihr wisst das doch!» / (23:41) Und damit kommen wir zur Christus Erfahrung, die mystische Erfahrung Jesu, die wir selber machen können
2.5. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»
(15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung: ‹Friede sei mit euch› ‒ er hat ihnen verziehen, das war das erste Wort / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2.6. Audio-Seminar Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Eröffnungsvortrag; siehe auch die Mitschrift des Vortrags
(22:47) Verleiblichen des Geistigen und Vergeistigen des Leiblichen: Durch die Sinne Sinn finden – Wir sind die Bienen des Unsichtbaren (Rilke)[10] – Das Fronleichnamsfest ist das Fest der Verleiblichung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Leiblichen
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(37:00) Weltgeschichtliche Wende: Jesus verlegt die Autorität Gottes in die Herzen seiner Hörer und unsere Aufgabe in der Kirche / (42:48) ‹Bisher hat die Kirche den Glauben getragen, jetzt müssen die Gläubigen die Kirche tragen› (Karl Rahner) / (51:35) Jesus: voll Mensch und daher voll göttlich, und das Ziel des christlichen Lebens: voll menschlich zu werden und daher völlig vergöttlicht / (54:07) Kreuzesnachfolge: Im Lebensstrom schwimmen gegen den Strom der Gesellschaft ‒ Unser Ego besitzen und es aufgeben / (56:22) Einer Gesellschaft, die aus der Angst und Unterdrückung lebt, stellt Jesus das Reich Gottes entgegen, er ist nicht nur Mystiker, er ist auch Sozialreformer / (58:37) Bekehrung, Umkehr im Alltag ‒ die Kreuzigung nicht suchen, aber sie nicht scheuen
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut
2.7. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(29:12) Autoritätskrise und wie ‒ am Beispiel der Gleichnisse Jesu ersichtlich ‒ Jesus die Autorität Gottes in die Herzen seiner Zuhörer verlegt / (33:14) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten›: Wie Jesus die Menschen ermächtigt und der unvermeidliche Konflikt mit autoritären Autoritäten bis zur Kreuzigung / (35:49) Die Angst vor authentischer Autorität: Selbst seine Jünger verlassen ihn / (36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
2.8 Vater Unser (1992)
Teil 1 in Themen aufgeteilt:
Jesus als Mystiker verstehen
Jesus ‒ Mystiker und Sozialreformer[11]
Teil 3 in Themen aufgeteilt:
Auferstehung, Vergebung, ‹Honig aus des Löwen Munde›[12]
2.9. Retreat-Woche in Assisi (1989)
Geistliches Leben, das Maß nimmt an der Gestalt Jesu:
(19:29) ‹Auferstanden von den Toten›: Ein geschichtliches Ereignis über das man nur in mythischer Sprache reden kann ‒ Fragen und Diskussion
Schöpfungsmythos und Anfangsritual am Beispiel der hl. Taufe ‒ «Einander vergeben ist äußerstes Geben»:
(09:38) ‹Vergebung der Sünden›: Das zentrale Auferstehungserlebnis der Jünger und unsere Aufgabe (Joh 20,22f.): ‹Perdonare›, vergeben ist das schwerste Geben, es heißt die Schuld auf uns nehmen: ‹Wir sind jetzt eins im Herzen, und dadurch ist der Bruch schon geheilt›
2.10. Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Transkription Teil II, 2f.:
(04:47) Kreuz und Auferstehung ist nur vom Leben Jesu her zu verstehen:
«Alles steht und fällt im Christentum mit der Auferstehung. Das sagte schon Paulus: ‹Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann sind wir die elendesten aller Menschen› (1 Kor 15,19).
Was ich eigentlich zu Kreuz und Auferstehung zu sagen habe, und zwar nur deshalb, weil es nicht genügend betont wird, ist, dass wir das Leiden und Sterben und die Auferstehung Jesu ‒ das gehört alles zusammen ‒ nicht, wie das so oft getan wird, abgetrennt von seinem Leben betrachten dürfen.»
3. Weitere Texte
3.1. Wendezeit im Christentum, Teil I (2015): Fritjof Capra im Dialog mit Bruder David und Thomas Matus, 95-97:
Fritjof Capra: «Aber wie steht es um die Auferstehung? Vorhin sagten Sie so ganz beiläufig ‹nach seinem Tod und seiner Auferstehung›.
Im Katholizismus, wie ich ihn in der Schule gelernt habe, galt die Auferstehung als Beweis dafür, dass Jesus Gott ist. Er stand von den Toten auf.»
Thomas Matus: «Das ist keine Theologie, sondern Apologetik. Und kein verantwortungsbewusster Theologe wird das heute noch einmal ausgraben. Das gehört zum alten Paradigma. Das neue würde es ungefähr so ausdrücken: Die Erfahrung Jesu mit der Auferstehung vom Tode ist ein unkommunizierbares, ganz persönliches Erlebnis.
Was die Apostel erfuhren, war folgendes: Jesus war ihnen auf eine Weise gegenwärtig, die sie erkennen ließ, dass sie ebenfalls auferstanden waren und mit ihm und in ihm von den Toten auferstehen würden.
Anders ausgedrückt: Seine Auferstehung ist allgemein gültig und die Ursache unserer eigenen Auferstehung.
Das großartige Argument des hl. Paulus lautet daher: ‹Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden.»
Fritjof Capra: «Das ist doch praktisch dasselbe wie Gott sein.»
Thomas Matus: «Es ist eine Parallele dazu. Wichtig ist hierbei, dass die frühesten Ausdrucksformen christlichen Glaubens sich auf das Geschehen konzentrierten, das auf den Tod Jesu am Kreuz folgte.
Das ist der Schlüssel zum Verständnis seines Todes als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes.
Die Tatsache, dass ein großartiger Lehrmeister, ein wunderbarer, liebenswerter Mensch aufgrund zweifelhafter Anschuldigungen zum Tode verurteilt wird, kann einem intelligenten Menschen wohl kaum als Manifestation der erlösenden Kraft Gottes gelten.
Es ist eine Manifestation menschlicher Gewalttätigkeit, von Brutalität, von Unwissenheit.
Und dennoch wird sie zur Manifestation der erlösenden Kraft durch eine nicht vermittelbare, grundlegend undefinierbare und auf jeden Fall mystische Erfahrung: die Apostel erleben Jesus als den Auferstandenen.»
David Steindl-Rast: «Wie wäre es, wenn ich es folgendermaßen formuliere:
Es macht von vornherein keinen Sinn, über Tod und Auferstehung Jesu zu sprechen ‒ wie es leider oft getan wird ‒, ohne über sein Leben zu sprechen.»
Thomas Matus: «Die Kreuzigung beendet ein wunderbares Leben, aber sie teilt uns dieses nicht mit.
Das Erlebnis, den auferstandenen Jesus sehen und berühren zu können, überzeugte die Apostel, dass dieses außergewöhnliche Leben nicht nur in ihrer Erinnerung weiterbestehen konnte, sondern auch zu einem Teil ihrer selbst wurde, dass sie es selbst leben konnten.
Mit anderen Worten ‒ das Königreich wird durch die Auferstehung zu Jesus.»
David Steindl-Rast: «Daher ist das Leben Jesu so wichtig. Sein irdisches Wirken, das aus seinem mystischen Einssein mit Gott erwächst, ist der Grund für die besondere Stellung, die Jesus in der Welt einnimmt.
Ein Blick auf Jesus zeigt uns, wie man lebt, wenn man auf diese Weise mystisch eins ist mit Gott, wenn man ja sagt zum grenzenlosen Zugehören.
Er hat es uns vorgelebt. Lebt man derart in dieser von uns geschaffenen Welt, dann wird man vernichtet oder auf die eine oder andere Weise gekreuzigt. Genauso wie es ihm widerfahren ist.
Und dann stellt sich die Frage: Ist das das Ende? Die Lehre von der Auferstehung gibt uns die Bestätigung, dass dies nicht das Ende ist.
Diese Art der Lebendigkeit kann nicht ausgelöscht werden.
Er starb, starb wirklich. Und siehe da ‒ er lebt.
Wo lebt er?
Verfallen wir nicht in den Fehler zu sagen, er ist hier oder dort. Nein.
Eine selten zitierte urchristliche Antwort lautet:
Paulus sagt es nicht mit diesen Worten, sondern spricht:
«Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen m i t C h r i s t u s in Gott» (Kol. 3,3).
Das impliziert jedoch, dass Christi Leben in Gott verborgen ist.
Gottes Gegenwart in dieser Welt ist verborgen.
Dennoch ist sie jedem, der das Leben eines Mystikers führt, absolut greifbar ‒ Gott ist allgegenwärtig.
Er starb und ist dennoch am Leben, doch ist sein Leben verborgen in Gott. Er ist in uns allen lebendig.
Es hat keinen Sinn, mit dem Finger zu deuten und zu sagen ‹Dort ist er› oder ‹Wutsch! Er ist aus dem Grab gestiegen›.
Auferstehung heißt nicht Wiederbelebung.
Es ist kein Überleben, nichts, zu dem man sagen kann: ‹Da ist er!›
Es ist eine verborgene Wirklichkeit, aber es ist eine Wirklichkeit, und wir können in ihr leben. Und das ist alles, was wir über die Auferstehung wissen müssen.»
3.2. Common Sense (2014): «Der Common Sense als oberste Autorität», 53-61:
«Die Autorität, die Jesus ins Spiel bringt, ist die Autorität des Common Sense; es ist die Göttliche Weisheit, Sophia, die sich ein Haus gebaut hat, das auf sieben Säulen ruht, wie es im Buch der Sprüche (9,1) heißt.
Laotse bezeichnete sie als Dao[13] und Heraklit nannte sie Logos.
In dem Satz ‹Durch viele Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort› (Markus 4,33) verwendet Markus für ‹Wort› diesen Begriff Logos, in dem seit Heraklit genau das mitschwingt, was ich hier als Common Sense bezeichne.
Auf diesen Punkt möchte ich nachdrücklich hinweisen: Jesus beruft sich nicht auf die Autorität Gottes in der Heiligen Schrift, wie das die Priester und Schriftgelehrten mit der Aussage taten: ‹So steht es geschrieben ...›
Er beruft sich auch nicht auf die göttliche Autorität, die aus seinen eigenen Worten spricht, wie es die Propheten taten, die ihre Aussagen mit der Formel begannen: ‹So spricht Cott, der Herr ...›
Wenn Jesus seine Gesprächspartner mit dem Argument ‹Ihr wisst alle, dass ...› infrage stellt, appelliert er an die göttliche Autorität in den Herzen seiner Zuhörer.
Die Priester, Schriftgelehrten und Propheten reden von der hohen Warte göttlicher Autorität herab zum Volk; Jesus stellt sich auf die Ebene seiner Zuhörer und ermächtigt sie, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen, indem er die göttliche Autorität ihres ihnen angeborenen Common Sense ernst nimmt, zu der sie sozusagen von innen her Zugang haben. Das ist ein entscheidender Wendepunkt; die Konsequenzen daraus sind Schwindel erregend.» (55f.)
«Auf einen autoritären Geist wirkt nichts bedrohlicher als die Berufung auf die Autorität des Common Sense. Religiös und politisch autoritäre Instanzen sind mit aller Gewalt darauf aus, jeden auszumerzen, der unter dem gemeinen Volk den Common Sense zu mobilisieren versucht. Aus diesem Grund musste Jesus sterben.» (56)
«Es ist unvermeidlich, dass unfähige Menschen sich der Autorität bemächtigen. Sie üben Macht aus, ohne über die nötige Weisheit und das erforderliche Mitgefühl zu verfügen. Solche autoritären Machthaber sind Todfeinde authentischer Autorität, die im Common Sense wurzelt.» (59)
«Unsere Furcht hindert uns daran, dem Common Sense zu folgen. Mit besonderer Klarheit empfanden das die daoistischen Weisen. In dem Maß, in dem sie sich in Einklang mit dem Rhythmus der Natur brachten, steigerte sich ihr Spott darüber, dass die Gesellschaft sich nicht an Dao hielt, an den Common Sense. Jesus stellt dieser Welt, die sich damit dem Tod statt dem Leben verschreibt, eine Welt gegenüber, die von Gottes lebendigem Atem belebt ist und dank dem Heiligen Geist ein «Leben in Fülle» führt.» (58f.)]
__________________________________
[1] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
[2] Ausführlich in Religionen ‒ drei Ausdruckformen, Ergänzend: 3.5
[3] Bruder David erklärt in Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 186-189, den dreiteiligen Aufbau der Gleichnisse Jesu und ihre Pointe:
«Aha, das weiß jeder, in Ordnung. Aber warum handelt ihr nicht danach?»
«Zufällig passt das Kreuz sehr gut zur christlichen Tradition, doch das Kreuz des Propheten erscheint in jeder Tradition.»
[5] Siehe Anm. 2
[6] Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 189-194
[7] Das Wort von Rilke verdeutlicht, was Bruder David ‹Anreicherung› nennt im Unterschied zu ‹Entwicklung›; siehe dazu Sterben und Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 105-107
[8] Der Vortrag folgt den sieben Schmerzen Mariens:
1. Darstellung Jesu im Tempel mit Weissagung Simeons
2. Flucht nach Ägypten vor dem Kindermörder Herodes
3. Verlust des zwölfjährigen Jesus im Tempel
4. Jesus begegnet seiner Mutter auf dem Kreuzweg (unbiblische Szene)
5. Kreuzigung und Sterben Christi
6. Kreuzabnahme und Übergabe des Leichnams an Maria (Beweinung Christi)
7. Grablegung Christi
[9] Bruder David geht im Beitrag Mystik an der Grenze der Bewusstseinsrevolution (1988), 188f., ausführlich ein auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37), ebenso in seinem Buch Common Sense (2014), 47-51, siehe auch in Nächstenliebe
[10] Siehe auch Audio in Ergänzend: 2.2. und Anm. 7
[11] Weiterführend in Hausverstand
[12] Jesus als Wort Gottes, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 38:
«Wenn wir uns aber öffnen, wenn wir wirklich lernen, vom Worte Gottes zu leben als Speise, dann wird diese wunderschöne Stelle der berühmten Bachkantate auf unseren Tod zutreffen:
‹Komm, o süße Todesstunde, da mein Geist Honig speist aus des Löwen Munde.›
Die biblischen Bilder, die dahinter stehen, sind ziemlich unbekannt und dunkel: Samson, der im Kadaver eines Löwen eine Honigwabe findet. Aber in der christlichen Tradition wird das Bild durchsichtig: In dem Augenblick, in dem der Löwe, der Tod, uns verschlingt, speist uns Honig aus des Löwen Munde. Wir leben davon, wir leben vom Sterben, weil wir gelernt haben, von jedem Worte Gottes zu leben. Nur wenn wir auch vom Tod leben lernen, jetzt, nicht nur in der Stunde unseres Todes, können wir wahrlich leben.»
[13] TAO, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 158:
«Das deutsche Wort Fließweg bietet sich als gute Übersetzung für Tao an.»
Kreuz und Erlösung
Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
Wenn wir uns eingehender damit befassen wollen, was Erlösung im christlichen Sinn bedeutet, müssen wir bei der Aussage beginnen, dass Jesus die Menschen rettete, lange bevor das Kreuz in Sicht war.
Er rettete die Menschen, indem er sie dazu brachte, auf eigenen Füßen zu stehen.
In diesem Sinn verstanden seine Zeitgenossen ihn als Retter.
Er gab ihnen ihre Selbstachtung und ihre tiefste Beziehung zurück ‒ die Beziehung zu Gott, zum Allerhöchsten ‒, indem er sie daran erinnerte, dass sie nie verloren gegangen war.
Jesus sagte nicht: «Hier hast du etwas, ich gebe es dir» oder: «Ich vergebe dir deine Sünden.»
Jesus sagte: «Deine Sünden sind vergeben», mit der implizit darin enthaltenen Frage: «Weißt du das denn nicht?»
Es waren seine Gegner, die sagten: «Wer ist dieser Kerl, der den Leuten die Sünden vergibt? Nur Gott kann Sünden vergeben.»
Natürlich sahen die politischen und autoritären religiösen Obrigkeiten seiner Zeit nicht gerne, dass er Menschen auf diese Weise rettete, genauso wenig, wie ihre heutigen Entsprechungen in Mittelamerika keinen gerne sehen, der den Menschen dort hilft, auf eigenen Füßen zu stehen.
Auch wenn man die Evangelien als spätere Berichte über Geschehnisse, die sich eine geraume Zeit davor zugetragen hatten, betrachten muss, so geht doch ziemlich deutlich daraus hervor, dass seine rettende Aktivität zum Kreuz führte und dass Jesus das Kreuz willentlich als ein freies, bereitwilliges Opfer für seine Sache, für das, wofür er einstand, und auch als Geste des Gottvertrauens auf sich nahm.
Nachdem er von der etablierten Gesellschaft aus dem Weg geräumt worden war, erkannten seine Nachfolger ‒ auch wenn sie zuerst tief bestürzt waren und in alle Winde zerstreut wurden ‒, dass ein solches Leben nicht mehr auszulöschen war.
Und das nennen wir die Auferstehung.
Sie wird uns in mythischen Bildern überliefert, und wir können den Geschehnissen nicht nachgehen, um festzustellen, was historisch wirklich geschah; um das geht es uns auch nicht.
Wichtig ist offensichtlich, dass er starb und dennoch lebt.
Wir können das nicht dadurch belegen, dass wir zweitausend Jahre zurückgehen, sondern es ist vielmehr etwas, das heute in zahllosen Lebensgeschichten geschieht und erfahrbar ist:
Er hat uns befreit.
Christus lebt in denen, die seinem Weg folgen, und sie leben in ihm.
Das ist die höchste Art der Rettung. Sie leben durch sein Leben und werden ihrerseits Retter für andere.
Heutzutage ist mir noch keiner begegnet, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, das zu verstehen, aber viele haben enorme Probleme mit der Auffassung, dass «er für unsere Sünden gestorben ist», wie man im Kindergottesdienst lehrt.
Jesus lebte und starb, um der Entfremdung von unserem wahren Selbst ein Ende zu setzen, der Entfremdung von anderen und von der allerhöchsten Wahrheit. Er hat für dieses Ziel gelebt und musste sterben, weil er entsprechend lebte. In diesem Sinn ist er «für unsere Sünden» gestorben».
Unglücklicherweise ist das über die Jahrhunderte hinweg in einer beinahe juristischen Sprache übermittelt worden; als wäre es eine Art Transaktion oder ein Handel mit Gott:
Es gab einen Graben zwischen uns und Gott, und jemand musste dafür aufkommen.
Diese ganzen Geschichten können wir vergessen.
Das juristische Bild scheint anderen Generationen geholfen zu haben. Schön und gut. Alles, was hilft, ist in Ordnung. Aber wenn es zum Hindernis wird wie heute, sollten wir es vergessen. Wir brauchen diese Sprache nicht zu sprechen. Wir können die Dinge ruhig so beschreiben, wie ich es eben getan habe.
[Der spirituelle Weg (1996): ‹Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben, ein Dialog› von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, Teil 1: ‹Der Erlöser und der Weise›, 75-77; siehe auch ST 37-39 unter dem Titel ‹Erlösung›]
[Ergänzung:
Audios
1. Mit allen Sinnen leben (1993)
Christlicher Glaube in heutiger Sprache:
Teil 2: «Ihr wisst alles über Gott von innen her»:
(00:00) Warum musste Jesus Christus am Kreuz sterben? Und: Wie hat das uns erlöst? Die Antwort von Anselm von Canterbury (1033-1109)[1] / (04:20) ‹Weil Gott der Vater es so wollte› ‒ diese Antwort ist ungenügend, weil die Frage zunächst eine geschichtliche Frage ist, die man geschichtlich beantworten muss. / (05:43) Die Antwort von Bruder David: Das Leben Jesu steht für die entscheidende Wende in der Religionsgeschichte: Jesus verlegt die göttliche Autorität in die Herzen seiner Zuhörer[2] / (09:38) Die Pointe der Gleichnisse Jesu: ‹Ihr wisst es doch: Warum handelt ihr nicht danach›? / (11:19) ‹Der Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Schriftgelehrten› ‒ ‹Deine Sünden sind dir vergeben›: Jesus ermächtigt die Menschen ‒ Konflikt mit den autoritären Autoritäten / (13:14) Zuviel Verantwortung: Die Massen lassen ihn fallen / (15:18) Der Tod hat uns als solcher nicht erlöst, sondern die Auferstehung / (17:07) Wofür Jesus steht, unterliegt nicht dem Tod / (18:53) ‹Gott gehorchen oder euch›? (Apg 5,29): Wieder Autorität in den Herzen der Hörer ‒ Die innere Autorität zurückgewinnen: Einander ermächtigen, Befreiung von den Sünden, denn Sünde ist diese Hölle, die wir aus dieser Welt gemacht haben ‒ Es kostet sehr viel: Wir müssen umkehren, die Verantwortung übernehmen, auf eigenen Füßen stehen
2. Löwe, Lamm und Kind (1992)
Vortrag:
(36:54) Die erlösende Kraft des Kreuzes und die Auferstehung ‒ ‹Wenn irgendjemand von uns einen einzigen Menschen kennengelernt hat im Leben, der aus dieser Lebenskraft Jesus lebt, dann haben wir die Auferstehung erlebt› / (38:56) ‹So kann man leben›: Ein Sieg durch den Tod des Siegers und ein Friede, den die Welt nicht geben kann / (40:25) ‹Hier ist das Friedensreich schon da›: Bruder David schließt mit einem Erlebnis aus der chassidischen Tradition
3. Vater Unser (1992)
Teil 3 in Themen aufgeteilt
‹Wir sind erlöst!› – der andere Blick auf Gewohnte: ‹Das Kreuz auf sich nehmen›, ‹Bekehrung›, ‹Busse›
4. Audio Beten ‒ Mit dem Herzen horchen (1988)
2. Bruder David in der Fragerunde:
Das Urwesen des Christlichen zurückgewinnen; siehe auch die Mitschrift Teil II, 13f.:
(19:44) Erlösung in biblischer Schau:
«Das ist das Urwesen des Christlichen, dass Gott uns nicht so von außen erlöst, sonst müsste man ja diese ganze christliche Geschichte gar nicht haben, sondern, dass die Erlösung von innen kommt, durch einen, der uns gleich ist in allem. Das ist ausdrücklich gesagt von Christus:
Jesus Christus ist uns in allem gleich außer in dieser Entfremdung, in der Sünde ‒ richtig verstanden ‒ in der Vereinzelung, in der Verelendung, in der inneren Abspaltung von unserem göttlichen Kern, von unserem innersten göttlichen Wesen.»]
______________________
[1] Bruder David erklärt die Satisfaktionslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buch «Cur Deus homo» vertritt: «Wie Anselm von Canterbury für seine Zeit gesprochen hat, müssen wir heute das für unsere Zeit sagen können.»
[2] Von Eis zu Wasser zu Dampf (2003):
«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig.»
Krise
Text, Interview und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Eine Krise ist immer eine Läuterung, wenn wir sie richtig verstehen. Das Wort «Krise» selbst geht auf eine Wurz zurück, die «aussieben» bedeutet. Die Krise ist ein Trennen, ein Aussieben dessen, was machbar ist und über das hinausführt, was tot ist und zurückgelassen werden muss.
In persönlichen Krisen sind immer drei Elemente enthalten: Das erste ist die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, wir stehen vor einer Wand. Dann kommt die Einsicht, dass wir Ballast abwerfen müssen, wenn wir weiterkommen wollen. Die dritte und wichtigste Einsicht in diesem Prozess ist, dass wir innere Führung brauchen.
Es kommt darauf an zu erspüren, was es ist, das wir abwerfen müssen, um dieses scheinbar unbezwingliche Hindernis zu überwinden.
Letztlich müssen und dürfen wir uns dann von jener segensreichen Lebenskraft leiten lassen, die immer in uns fließt, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.
Wenn wir uns in unserer Hilflosigkeit vertrauend öffnen und fragen: «Was kann mich jetzt führen? Ich bin hilflos, aber ich vertraue darauf, dass es eine Führung gibt», dann bekommen wir immer Antwort.
Manchmal bekommen wir unerwartete Wegweisungen: Wir lesen etwas, was genau auf unsere Situation zuzutreffen scheint, oder wir begegnen jemandem, der genau das richtige Wort für uns hat. Manchmal findet die Neuausrichtung auch völlig innerlich statt, durch einen Traum oder eine unerwartete Einsicht. Auch ein glücklicher Zufall kann uns helfen.
Ganz plötzlich wird uns die Weisung, die wir brauchen, geschenkt.
Was wir in die Krise einbringen müssen, ist Vertrauen. Und ein vertrauensvolles Warten ist eine wahrhaft innige Form des Betens.
[ST 80f., Quelle: MS 5) 100-102]
[Ergänzend:
Audio-Vorträge und weitere Links zu Interview / Texten:
1. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen – Goldegger Dialoge 18.-20.06.1992, siehe auch Tagungsband Schmerz – Stachel des Lebens (AT).
Drittes Seminar mit Br. David im Pfarrsaal bei der Georgskirche Goldegg
(15:19) Das Leben führt uns immer wieder in Krisen.
O-Ton Bruder David:
«Ganz formell gesprochen, ist es entweder eine Krise, dann kommt man durch oder es war eine Sackgasse, dann bleibt man drinstecken.
Das Wort Krise beinhaltet schon, dass man durchkommt. Sonst ist es eine Sackgasse und man bleibt drinstecken. Krise hängt mit dem Wort ‹Sieb› zusammen im Deutschen. Es ist eine Situation, in der das Lebensfähige von dem zum Absterben verurteilten ausgesiebt wird. Das Lebensfähige bleibt zurück und das, was sterben muss, das fällt durch. Das ist das grundsätzliche Bild, das hinter dem Wort Krise steht.
Man kann das vielleicht auch so sehen, dass zu einer Krise immer drei Phasen gehören, drei Elemente und das erste ist das Erlebnis: So geht es nicht weiter! Also das Anstehen. Der Anstoss. Wir stossen an etwas an. Und wenn wir daran zerbrechen, dann wars keine Krise.
Wenn es zum Anstoss wird fürs Weitergehen, für eine ganz neue Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder der Aufstieg zu einer neuen Ebene, dann können wir von einer Krise sprechen.
Diese Phase drückt sich meistens auch in Dunkelheit aus, ‹des Lebens Dunkelstunden›, wie Rilke das nennt.
Das Leben geht von Krise zu Krise und wenn wir keine Krise haben, dann geht’s bestenfalls so dahin, aber nicht wirklich lebendig und nicht wirklich anwachsend oder bereichernd und so.
Die meisten von uns würden sagen: ‹Mach dir nur keine Sorgen, mir ist’s ganz recht, wenn’s nur so dahin geht. Ich brauch weiter nichts.› Aber wenn wir ernstlich darüber nachdenken, dann ist Krise doch etwas, wofür wir dankbar sein müssen, wenn es kommt. Man kanns nicht herbeizwingen.
(24:53) Die zweite Phase, die zu einer Krise gehört ist das Abstreifen. Irgendetwas muss zurückgelassen werden.
Man versucht alles mitzunehmen und was nicht mitgenommen werden kann, wird abgestreift.
Wenn man ein bisschen Erfahrung hat, dann hat man schon eine Ahnung, was nicht lebensfähig ist und was abgestreift werden muss.
Das Abstreifen ist auch ein sich auf das Wesentliche besinnen.
(28:20) Und die dritte Phase ist die Kraft, die uns durchführt oder Führung, die Leitung. Den Strom, den man beginnt zu spüren. Wir spüren, dass etwas uns durchziehen wird. Eine Kraft, die uns durchbringen wird, aber es ist ganz entscheidend, dass die Dunkelheit, von der wir anfänglich gesprochen haben, auch hier in der dritten Phase nicht aufgehoben wird.
Es ist sehr wichtig für uns, um uns in Krisen zurechtzufinden, nicht zu glauben, dass wir erst dann durchkommen, wenn wir sehen, wo’s hingeht. Wir sehen nur die Richtung. Wir sehen ein Dämmern und noch keine Gestalt, noch keine Figur. Wir sehen ein Morgengrauen und noch keine Landschaft. Wenn man die Landschaft sieht, dann ist man schon nicht mehr in der Krisensituation.
Und diese Phase des Fühlens, dass es wohin geht, des Mitgehens und viel wichtiger noch, des Suchens nach etwas, was Führung gibt und leitet, das ist sehr wichtig, denn das könnte man übersehen. Sonst sitzt man da, zuerst angestossen, dann abgestreift, und kann sich jetzt nicht fassen, weil man immer noch nicht sieht und wie lange wird das jetzt dauern?
Es wird so lange dauern, bis wir uns dem Lebensstrom willig hingeben, der uns dorthin führt und keine Ahnung haben, wohin es geht, (29:53) sowie im ersten Vers des 12. Kp. der Genesis mit der Berufung Abrahams, und die Stimme Gottes sagt zu Abraham:
‹Geh hinaus aus deinem Vaterhaus, aus deiner Familie, aus deinem Land – also es wird alles aufgezählt: Geh hinaus! Und das Hebräische ist ganz stark, ‹Lech lécha›, hinausgehen, geh hinaus.›
Also Superlativ: ‹Geh hinaus in das Land, das ich dir zeigen werde›.
Und nicht einmal ein Name für das Land, keine Beschreibung, nur eine Richtung und nicht einmal die Richtung eigentlich, sondern: ‹Folge, ich werde dich führen›.»
2. Dankbar in einer Krise? (2005): Darin zeigt Bruder David an Hand eines konkreten Beispiel aus den 70er Jahren in Südindien die drei Elemente jeder Krise noch einmal auf.
3. Aufwachsen in Widersprüchen ‒ Salzburger intern. Pädagogische Werktagung 17. sowie 19. bis 20. Juli 1989
Vom Rhythmus des Lebens
Eröffnungsreferat und Dialog
Siehe auch die Transkription des Vortrags: Vom Rhythmus des Lebens, im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 13-22:
In diesem Vortrag erklärt Bruder David mit Blick auf die Forschungen von James Fowler, wie sich das Zugehörigkeitsbewusstsein phasenweise von Krise zu Krise erweitert und parallel dazu sich das Autoritätsbewusstsein verinnerlicht ‒ von der allmächtigen Autorität der Eltern in der frühesten Kindheit bis zum prophetischen Gehorsam des reifen Erwachsenen:
«Das ist auch der Rhythmus, in dem sich unsere wahre Lebendigkeit entfaltet. Eine Strecke der Entfaltung, ein Anstoß; dann: wir können nicht weiter ‒ Krise. Wenn wir diese Krise bestehen, eine neue Strecke höherer Lebendigkeit, bis zur nächsten Krise.»
4. Interreligiöser Dialog 20. September 2014
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag
(07:01) Br. David wird zu Glaubenskrisen in seinem eigenen Leben gefragt
Weitere Links zu Interview / Texten:
Interview: Weihnachten geht nicht nur uns Christen an (2016): Bruder David kommt am Schluss des Interviews auf die Krise der Kirche zu sprechen.
Die Krise in Syrien (2013)]
Kritik
Text von Br. David Steindl-Rast OSB
Mir fällt es nicht leicht, Kritik anzunehmen. Ich bin ständig so selbstkritisch, dass das kleinste bisschen Kritik aus dem Munde eines anderen leicht der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn ich also bei einer Kritik irgendwie direkt reagiere, verderbe ich meistens alles, und ich habe festgestellt, dass es dann am besten ist, wenn ich sage, ich würde darüber nachdenken. Das hilft mir, eine hastige Reaktion zu vermeiden, und gibt mir Zeit, es zu verdauen. [ST 82, Quelle: SW 200]
Lebendigkeit
Text und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
Soweit wir es zurückverfolgen können, haben Menschen, wenn sie über Spirituelles sprachen, einen Ausdruck verwendet, der einfach «Lebensatem» bedeutet. Im Lateinischen wie im Griechischen und Hebräischen bedeutet Geist Atem. Geist ist die echte Lebendigkeit des Lebens wie wir wissen. Aber was bedeutet dies? Wir wissen, dass diese Lebendigkeit mehr ist als nur körperliche und geistige Fähigkeiten.
Denkt an die Bemerkung, welche wir oft über die Vitalität von jemandem hören: «Er/sie scheint so lebendig zu sein!» Hier ist mehr im Spiel als nur ein etwas gleichmäßigerer Puls oder ein höherer IQ.
In den großen spirituellen Traditionen ist «Lebendigkeit» oft mit «Achtsamkeit» (mindfulness) austauschbar. Der englische Begriff (mindfulness) betont nicht so sehr den Verstand (mind) als vielmehr die Fülle (fulness). Lebendigkeit ist nicht nur eine Fülle des Verstandes, sondern auch des Leibes und des Geistes.
Diese Vorstellung unterscheidet sich völlig von der verbreiteten Auslegung von Achtsamkeit, welche häufig einen Bruch macht – oder aufrechterhaltet – zwischen Leib und Geist. Echte Spiritualität, echte Lebendigkeit ist im Gegenteil tief in unserem Leib verwurzelt, wird von den Religionen oft außer Acht gelassen oder ganz verneint, ist aber in tief spirituellen Menschen leicht zu erkennen. Denkt an den Dalai Lama, seine Gesten und sein dröhnendes Lachen.
Die Bezeichnung Achtsamkeit scheint zu beschränkt, um ihn zu beschreiben, aber welches Wort sollten wir gebrauchen?
Wenn in einer Sprache ein Wort fehlt, fehlt oft eine Einsicht, in diesem Fall die Einsicht, dass die volle Lebendigkeit aus Achtsamkeit und Leibhaftigkeit besteht und, dass diese volle Lebendigkeit das Herzstück unserer Spiritualität ist.
Die Poesie liefert uns Beispiele von dieser außergewöhnlichen Lebendigkeit, die wir in einen Zusammenhang mit unserem Alltag bringen können. Ein Gedicht von William Butler Yeats preist einen solchen Augenblick. Es bringt eine im Wesentlichen religiöse Erfahrung in einen Zusammenhang, wo wir ihn nicht erwarten würden.
Oft sind wir in Kirchen, Moscheen und Tempel enttäuscht, weil wir denken, dass wir hier eine solche Erfahrung «haben sollten».
Aber Augenblicke der Lebendigkeit kommen nicht auf Bestellung.
Wenn sie kommen, sind wir, wie C.S. Lewis es beschreibt, «überrascht von Freude».
So auch Yeats in seinem Gedicht «Vacillation, IV».
Es beginnt in einem für große Lebendigkeit ungewöhnlichen Alter – «Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s» – und in einer nicht sehr vielversprechenden Umgebung. Yeats sagt:
«Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s,
ich saß, ein Einzelgänger,
in einem überfüllten Londoner Geschäft,
ein offenes Buch und eine leere Tasse
auf der marmornen Tischplatte.»
Wir alle kennen dieses Gefühl des Alleinseins inmitten einer Menschenmenge, gerade ihretwegen umso einsamer. Das Buch liegt offen da. Er scheint in der Hälfte das Interesse daran verloren zu haben. Die Tasse ist leer und so anscheinend auch seine Gedanken. Die Oberfläche des Tisches aus kaltem Stein drückt perfekt seinen Mangel an jeglichen Gefühlen in diesem Augenblick aus. Dieser Mann sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. Er starrt geistesabwesend vor sich hin.
Aber unerwartet geschieht etwas und bemächtigt sich seiner, ein wundersamer Kontrast zur Leere, mit der das Gedicht begonnen hat:
«Während ich Geschäft und Straße anstarrte,
mein Leib plötzlich erstrahlte…»
Bemerkt, dass Yeats sagt, er erfahre dieses plötzliche Erwachen, seine Lebendigkeit, in seinem Leib. Er sagt nichts über seinen Verstand oder seine Gedanken. In diesem Augenblick denkt er nicht. Dieses Bewusstsein, das den Leib mit Lebendigkeit erstrahlen lässt, übersteigt das Denken weit.
«…Und für zwanzig Minuten, mehr oder weniger,
schien meine Glückseligkeit so herrlich,
dass ich gesegnet war und segnen konnte.»
Diese «mehr oder weniger» zwanzig Minuten weisen darauf hin, dass dies ein zeitloser Augenblick war. Aber eine augenzwinkernd gemeinte Eigenschaft zu diesem «mehr oder weniger» dringt ebenfalls durch. Die Erfahrung ist zu überwältigend; der Dichter muss sich mit diesem umgangssprachlichen Ausdruck selbst distanzieren. Während er lediglich von seiner «Glückseligkeit» spricht, bricht die religiöse Wirklichkeit mit dem Wort «gesegnet» durch.
Wie in echten spirituellen Erfahrungen liegt der Beweis in der Tatsache, dass er seine gesegnete Lebendigkeit anderen weitergeben kann.
Das ist es, was Religion (lateinisch re-ligio) ist: wörtlich «wieder binden» von Bändern, die zerrissen worden waren, Bande, die uns mit allen anderen Geschöpfen verbinden, mit unserem wahren Selbst und mit dem Göttlichen. Wir sind nicht länger allein und einsam: wir gehören zusammen.
Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit. Unser Leib «erstrahlt» vielleicht nicht, aber in gewissen glückseligen Augenblicken wissen wir, mindestens für den Bruchteil einer Sekunde, dass wir zusammengehören.
Wir wissen es «bis in unsere Knochen».
Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen. [Spiritualität und gesunder Menschenverstand (2012), 1f.]
[Ergänzend:
1. Auf dem Weg der Stille (2016), 69-71:
«Je voller unsere Achtsamkeit wird und je stärker wir lebendig werden, desto deutlicher geht uns auf, wie unzureichend die Sprache ist. Aber wenn wir darüber sprechen wollen, müssen wir etwas tun, das die Sprache erweitert, ja erhöht. Wie sieht diese erweiterte Sprache aus? Die erweiterte Möglichkeit der Sprache ist die Poesie, und so möchte ich Ihnen ein Gedicht von William Butler Yeats vorstellen, das auf einen dieser Augenblicke hinweist. Es versetzt die religiöse Erfahrung in einen Kontext, in dem Sie diese kaum erwarten würden.
Die meisten von uns machen religiöse Erfahrungen, wann und wo wir sie am wenigsten erwarten würden; und in Umgebungen, worin wir sie erwarten, werden wir gewöhnlich diesbezüglich enttäuscht. Hier folgt ein autobiografisches Gedicht ‹Vacillation, IV› über ein Erlebnis, das Yeats in einem Londoner Kaffeehaus widerfuhr. Er beschreibt es folgendermaßen:
‹Mein fünfzigstes Jahr war gekommen und gegangen.
Ich saß als einsamer Mensch
in einem überfüllten Londoner Kaffeehaus,
vor mir auf der marmornen Tischplatte
ein offenes Buch und eine leere Tasse.
Ich saß da und starrte auf die Straße hinaus,
als plötzlich mein ganzer Körper zu glühen begann,
und zwanzig Minuten lang oder auch mehr
erfüllte mich ein derartiges Glück,
dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte.›[1]
Was passierte da also? Er sagt überhaupt nichts über sein Verstehen oder seine Gedanken; vermutlich dachte er in diesem Augenblick überhaupt nichts. Aber sein Körper glühte mit dieser bebenden Lebendigkeit der Achtsamkeit, die so weit über alles Denken hinausgeht. Sein Körper glühte! Das haben auch wir schon alle erfahren, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Er sagt: Es ‹erfüllte mich ein derartiges Glück, dass ich Segen verspürte und zu segnen vermochte›; dass er also etwas empfing, das er als ‹Segen› bezeichnet ‒ was ja bezeichnenderweise ein religiöser Begriff ist ‒ und das er weitergibt. So fließt also etwas durch ihn hindurch, und das ist dieser Geist, der durch ihn hindurchfließt.»
2. Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011) und Mitschrift:
(00:00) Freudig lebendig, gesund und heil in Beziehungen]
________________________________
[1] «My fiftieth year had come and gone,
I sat, a solitary man,
In a crowded London shop,
An open book and empty cup
On the marble table-top.
While on the shop and street I gazed
My body of a sudden blazed;
And twenty minutes more or less
It seemed, so great my happiness,
That I was blessed and could bless.»
Lebensthemen und Schlüsselbegriffe von David Steindl-Rast OSB
Anlässlich Bruder Davids 96. Geburtstag entsteht hier eine Online-Anthologie zu Texten, Audios und Filmen von und mit David Steindl-Rast OSB.
«Wir horchen hin auf das Wort, das uns jeder Augenblick des Lebens zuspricht. Es gibt uns. Es gibt.» (David Steindl-Rast OSB)
Diese Anthologie ist Copyright-geschützt ©BibliothekDSR
Lebensvertrauen
Text, Videos und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens, Meer, dem alles zuströmt!
Mir wird immer klarer: Alles hängt von einer Entscheidung ab: Lebensvertrauen oder Lebensfurcht.
Aber fast tatsächlich erschüttert irgendetwas mein Vertrauen.
Was soll ich dann tun?
Ich will mir bewusst machen, auf wie vieles
ich mich immer noch vertrauensvoll verlasse,
ohne es zu beachten ‒ Atmung, Verdauung, Blutkreislauf;
Stromnetz, Verkehrsnetz, Lebensmittelversorgung …Mein schlafwandlerisches Vertrauen auf all dies
will ich mir heute bewusst machen und es stärken.In Furcht leben ist ja ärger als alles, was ich befürchten könnte.
Dir will ich also vertrauen, Du mein Leben.
Amen»
[Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019): ‹85 ‒ Lebensvertrauen›, 94]
[Ergänzend:
1. LEBENSVERTRAUEN, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 146:
«Lebensvertrauen ist unsre angeborene Grundhaltung. Misstrauen hingegen erlernen wir erst später und es bleibt eine intellektuelle Einstellung, die zu unsrem Alltagsverhalten dauernd in Widerspruch steht. Wir vertrauen ja ‒ meist ohne uns dessen ausdrücklich bewusst zu sein ‒ den Lebensvorgängen, ohne die wir keinen Augenblick weiterleben könnten. In einer solchen inneren Zerrissenheit zu leben, das kann uns krank machen. Vernünftiges Lebensvertrauen nimmt die vielen Beweise, die uns unsre physische Lebendigkeit von der Vertrauenswürdigkeit des Lebens liefert, ernst und baut darauf auf.
Wenn das Leben sich in den Bereichen von Atmung Stoffwechsel oder Blutkreislauf so verlässlich erweist, sollten wir uns dann nicht in allen Bereichen mehr auf die Weisheit des Lebens verlassen als auf unser begrenztes Wissen?
Wir dürfen vertrauen, dass uns alles, was das Leben uns bringt, zum Besten gereicht, auch wenn das im Augenblick nicht so offensichtlich ist.
Rückblickend können wir feststellen, dass die weisesten Entscheidungen vom Leben getroffen wurden, nicht von uns selbst.»
2. Filme
2.1 Filminterview Was am Ende wirklich zählt (2022) und Transkription, 2f.:
(05:58) Isha Johanna Schury: «Wie können wir denn das Vertrauen in uns finden, wenn wir’s nicht spüren, wenn wir das Gefühl haben: Ach, wir haben die Verbindung zu diesem Vertrauen gar nicht so richtig. Wo können wir das denn finden?»
David Steindl-Rast: «Für viele Menschen ist das eine große Schwierigkeit. Weil es ihnen vielleicht genommen wurde durch schwere Erlebnisse und so. Aber wenn wir zurückschauen auf unser Leben ‒ und dazu brauchen wir gar nicht so besonders alt sein, wenn wir zurückschauen auf unsere Lebenserfahrungen, dann sehen wir, dass auch das Schlimmste, das uns zugestoßen ist, von dem wir gedacht haben: Also das ist jetzt wirklich das Ende und das ist nur schrecklich, dass auch das immer zum Besten war.
Also, dass Leben auch aus den größten Schwierigkeiten immer das Beste hervorbringt.
Ich habe das schon öfters erlebt, dass, wenn man Menschen einlädt, einmal zurückzuschauen und zu sehen, ob sich das in ihrem eigenen Leben bewahrheitet, dann alle sagen, auch die jungen: ‹Ja das ist schon eigentlich wahr, auch was mir die größten Schwierigkeiten gemacht hat, wurde schließlich doch eine Quelle neuen Lebens und neuer guter Erfahrungen›.
Dass wir aufs Leben vertrauen können und dürfen, ist eine Lebenserfahrung. Wenn wir nur still werden und darüber nachdenken.
Außerdem kann man sich auch fragen: Wenn ich ohne Lebensvertrauen lebe, was ist dann das Gegenteil?
Es ist Furcht. Es ist beständige Furcht. Das ist ja kein Leben. Das ist ja wie Tod, so hinzuleben, so mit ständiger Furcht.
Und leider leben viele Menschen mit dieser Furcht. Und darum ist es eine ganz wichtige Aufgabe, auch eine Aufgabe für ältere Menschen, den jüngeren Lebensvertrauen irgendwie zu vermitteln.
Das meiste vermittelt man durch sein Beispiel natürlich. Aber auch es verständlich zu machen, darin sehe ich auch für mich eine große und wichtige Aufgabe.»
2.2. Bruder David im Film Aus Dankbarkeit kraftvoll führen (2019); Mitschrift des Vortrages, 1:
«Herzlichen Dank für die Einladung, ein paar vorbereitende Worte zu sprechen.
Und vielleicht sollten wir anfangen mit uns selber, sozusagen, jede und jeder von uns:
Was haben wir mitgebracht? Was bringen wir?
Was kann ich sicher sein, dass jede und jeder von Euch jetzt mitgebracht hat?
Und das Wort, das ist ein ganz wichtiges Stichwort, ist Lebensvertrauen ‒ Lebensvertrauen.
Wenn wir nicht Vertrauen ins Leben hätten, wären wir nicht hierhergekommen. Und dieses Lebensvertrauen wird durchwegs ganz was Wichtiges bleiben, denn Dankbarkeit ist ein Ausdruck des Lebensvertrauens, und eine Methode, das Lebensvertrauen immer wieder zu stärken.
Also es geht von Anfang bis Ende um Lebensvertrauen und das habt Ihr schon mitgebracht, das ist schon da.
Allerdings dieses Lebensvertrauen hat verschiedene Grade. Und vielleicht können wir uns jetzt fragen ‒ könnt Ihr Euch selber fragen:
Wo ist denn jetzt ungefähr der Temperaturstand meines Lebensvertrauens?
Null, Gefrierpunkt ist es sicher nicht, Siedepunkt wahrscheinlich auch nicht, also wo liegt es ungefähr?
Ihr braucht es nicht den andern sagen, aber es ist ganz gut, es selber zu wissen:
Wo stehe ich jetzt ungefähr in meinem Lebensvertrauen?»
3. Audios
3.1. Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung»
Zweites Kamin-Gespräch mit David Steindl-Rast:
(22:09) ‹Du sagst Glaube, aber man könnte ebenso gut Lebensvertrauen sagen, es geht genau um dasselbe› ‒ Lebensvertrauen, ein kostbares Gut
3.2.1. Interreligiöser Dialog (2014)
Bruder David: Grußwort und Vortrag:
(12:18) «Religiöser Glaube ist radikales Vertrauen aufs Leben. Das ist ein Akt, wir müssen uns dem anvertrauen. Wenn wir uns nicht anvertrauen, haben wir nicht das richtige Verhältnis zum Leben. Wir können wählen. Wir können uns dem Leben anvertrauen oder nicht.»
3.2.2. Interreligiöser Dialog (2014)
Gespräch, Fragen nach dem Vortrag:
(00:49) «Wenn ich mir vorstelle: Menschen, die jetzt in Irak oder in Syrien leben ‒ ich habe selbst Freunde dort, die all dieses Schreckliche erleben: Wie soll ich denen dann sagen: Vertraut, habt das Urvertrauen, die Verlässlichkeit in die Dinge, wenn so schreckliche Dinge passieren?»
Bruder David: «Ich glaube, das ist eine Frage, die sich vielen von uns stellt und daher bin ich sehr dankbar für die Frage. Wenn wir uns in einer solchen ganz schrecklichen Situation befinden ‒ und ich bin unter Hitler aufgewachsen, unter fallenden Bomben und alle unsere Freunde sind immer eingezogen worden und waren wenige Monate später tot. ‒ Ich habe solche Sachen erlebt:
Wenn wir mitten in einer solchen Situation sind, löst sich das ganz von selbst: Wir haben spontan Vertrauen aufs Leben.
Nicht: Ich vertraue dem Polizisten, oder dem Mann, der da aggressiv wird oder so: Das heißt’s nicht. Aber in dem Augenblick, wo ich mit dieser Aggression konfrontiert bin, vertraue ich ganz spontan aufs Leben.
Das Leben in uns ist so stark, dass es das einfach tut. Und je schwieriger die Umstände werden, um so leichter fällt es uns, wir haben gar keine Zeit, drüber nachzudenken. Es tut sich einfach.
Und wir kennen aus andern, weniger dramatischen Umständen, dass man manchmal, wenn man nicht Zeit hat zu überlegen, das Richtige tut und wenn jemand fragt: ‹Wie hast du denn das gemacht›? ‒ ‹Ich habe gar keine Zeit gehabt, mir zu überlegen, es hat sich einfach getan.›
Und diese Dinge, die sich so einfach tun, die sind das Richtige.
Und wenn wir in so ganz schwierigen Situationen sind, fließt das so durch uns durch.
Beweisen kann man es natürlich nicht, und ich hoffe, dass Sie nie in einer Situation sein werden, wo Sie‘s erleben, aber wer es erlebt hat, wer solche, ganz schwierige Situationen erlebt hat, der weiß: So geht’s. Das Leben in uns ist so stark, dass es dieses Vertrauen hat und das Vertrauen erfüllt wird.»
3.3. Die Weisheit, die alle verbindet ‒ Wie die Religionen zusammenfinden können (Mitschrift) (2010), 9:
(43:06) Wir können von den Glaubenssätzen der Religionen zum Urglauben vorstoßen?
«Und dieser Urglaube ist das Vertrauen auf das Leben.
Das ist uns eingegeben. Das haben wir als Menschen.
Wir vertrauen dem Leben. Ob wir jetzt Buddhisten, Christen, Hindus, Atheisten, Agnostiker sind, alle ‒ jeder Mensch ‒ hat dieses tiefe Vertrauen auf das Leben, als Mitgift.
Und dieses Lebensvertrauen, das ist der Urglaube.
Manchmal wird dieser sehr schwach, wenn wir enttäuscht sind, wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, im Laufe des Lebens. Das kann große Schmerzen und Verhärtungen geben.
Aber tief im Innersten haben wir alle diesen Glauben. Und dieser Glaube hat Kraft und Wärme genug, um das Eis der ‹–ismen› (Dogmatismus, Ritualismus, Moralismus) zu schmelzen.»
3.4. Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen ‒ Goldegger Dialoge (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(23:13) «Das Wachstum des Glaubenslebens ist eine durch Krisen fortschreitende Verinnerlichung.»
(23:31) «Um den Glauben beten ist ganz entscheidend, aber wir sollen das nicht missverstehen als beten, etwas glauben zu können, sondern um den Glauben beten heißt in erster Linie: um Lebensvertrauen, um Gottvertrauen, um Vertrauen zu beten.
Wir beten um größeres Vertrauen und dieses Gebet wird immer sofort erhört, denn dieses Gebet ist schon die Geste, mit der wir uns dem Vertrauen öffnen.
Wir können nicht um Vertrauen beten ohne Vertrauen zu haben, dass das Vertrauen uns geschenkt wird. Diese Art von Gebet erfüllt sich gleich.
Aber es ist doch notwendig, immer wieder stehen zu bleiben und unser Herz in dieser Richtung zu öffnen.
Um Glauben beten, das ist ungeheuer wichtig. Wir vergessen das oft. Bis wir unten durch sind, und plötzlich wachen wir dazu auf.»]
Lebensvertrauen und Dankbarkeit
Interviews von Br. David Steindl-Rast OSB
Alfred Fiedler: «Ein zentrales Thema in deinem Leben und Wirken nimmt die ‹Dankbarkeit› ein. Du hast auch ‹Dankbarkeitskreise› ins Leben gerufen. Erst vor kurzem schwärmte eine Bekannte, Sibylle Eisenburger, davon, die von dir inspiriert, selbst Dankbarkeitskreise ins Leben ruft. Sie lässt dich auch herzlich grüßen.
Bruder David: «Aha. Ich freue mich immer, wenn ich so höre von diesen Dankbarkeitskreisen an verschiedenen Orten.»
Bernhard Marckhgott: «Dieses Wort DANKE, was macht das mit den Menschen? Dass du so daran glaubst, an diese Heilsamkeit oder Wirksamkeit? Das Positive dieses Wortes DANKE – Wie bist du zu dieser Einsicht gekommen?»
Bruder David: «Es geht gar nicht um das Danke sagen. Das ist einfach eine Frage der Höflichkeit. Es geht um eine Lebenshaltung der Dankbarkeit. Und um über diese zu sprechen, muss man beim Vertrauen beginnen, und zwar vom Lebensvertrauen. Für unsere Großeltern hat es Gottesvertrauen geheißen, für uns heißt es heute Lebensvertrauen. Da ist wirklich kein Unterschied, vom christlichen Standpunkt aus: Gott ist der Gott des Lebens. Ob man es dann Lebensvertrauen nennt oder Gottvertrauen, ist egal. Ich fasse es lieber unter Lebensvertrauen zusammen, weil das Wort Gott sehr missbraucht wird und missverstanden wird. Und Lebensvertrauen fehlt sehr vielen Menschen heute. Sie haben Angst.
Bernhard Marckhgott: «Und wie soll man das Wort Gott verwenden?»
Bruder David: «Es ist nicht notwendig. Es kommt nicht darauf an, jemanden zu überzeugen, diese oder jene Sprache zu verwenden. Es kommt nur darauf an, eine Haltung zu erlernen und zu vermitteln. Die Haltung ist die des Vertrauens, und ich beginne eben mit Lebensvertrauen, weil man darüber mit jedem Menschen sprechen kann, ob die jetzt Gott sagen wollen oder nicht.
Über Lebensvertrauen kann man mit jedem Menschen sprechen. Und man kann jedem Menschen zeigen, dass die einzige vernünftige Haltung eines Menschen das Lebensvertrauen ist. Vernünftig! Denn jeden Augenblick, jede Sekunde erneuern sich 2 Millionen roter Blutkörperchen in unserem Körper. Jede Sekunde: 2 Millionen sterben und 2 Millionen entstehen. Kein Wissenschaftler kann überhaupt ein rotes Blutkörperchen bis zur letzten Einzelheit darstellen, geschweige denn herstellen. Und das ist nur eine von tausenden von Funktionen, die in uns walten.
Es ist viel richtiger zu sagen, das Leben lebt uns, als zu sagen, dass wir das Leben haben. Das Leben lebt uns und wir tragen Verantwortung. Und aus diesem Lebensvertrauen, also wenn ich dem Leben vertraue, muss ich auch dem anderen Menschen vertrauen. Das Leben schickt mir ja den anderen Menschen.
Daher kommt als nächster Schritt: Jeden Augenblick hinhorchen. Jeden Augenblick hat das Leben eine Gabe für mich. Und du fragst dich, was schenkt mir jetzt das Leben? Das Leben schenkt mir auch eine Aufgabe! Wenn wir das erfüllen, haben wir alles erfüllt, was die christliche Lehre oder irgendeine andere Religion sich wünschen kann. Und wir haben eine friedliche Welt.
Wir können eine persönliche Beziehung haben zum Leben – das ist sehr geheimnisvoll.
In der christlichen Sprache heißt es:
«In Gott leben, weben und sind wir.» (Apg 17,28)
Zu diesem Leben können wir auch eine persönliche Beziehung haben, wenn wir sagen, das Leben schenkt uns etwas – dann ist das nicht nur eine Vermenschlichung, eine Metapher, sondern es ist wahr – es wird uns wirklich etwas geschenkt. Und dafür steigt in uns eben auch Dankbarkeit auf. Und das ist eine Haltung: Dass man in jedem Augenblick fragt, was schenkt mir jetzt das Leben. Und wenn es ein freies Geschenk ist – darauf zu vertrauen, dass es ein gutes Geschenk ist. Und dann kann ich mir gar nicht helfen, dann bin ich schon dankbar, dann steigt schon die Dankbarkeit hoch.»
Das Geschenk innerhalb von jedem Geschenk ist die Gelegenheit!
Es ist nicht dieses Glas Wasser (zeigt auf das vor ihm stehende Glas Wasser). Dieses Glas Wasser könnte auch da draußen stehen und für mich unerreichbar sein. Es steht aber hier vor mir und ich bin dankbar, dass es hier steht und ich es trinken kann. Für die Gelegenheit bin ich dankbar!
Das einzige Geschenk in jedem Geschenk, wofür man dankbar sein kann, ist immer die Gelegenheit. Gelegenheit – meistens ‒ sich zu freuen. Das übersieht man ganz. Aber wenn man mal einmal damit beginnt, findet man es heraus: 90% der Zeit ist Gelegenheit sich zu freuen. Das ändert das Leben ganz und macht es freudiger.
Das hat man auch schon wissenschaftlich herausgefunden. Dass Menschen, die jeden Tag einen Satz niederschreiben, ein Ding wofür sie dankbar sind, sind gesünder. Wissenschaftlich haben wir diese Belege.
Gelegenheit ist manchmal nicht so leicht zu finden. Wenn ich jetzt vor dem Fernseher sitze und entsetzliche Verbrechen, Krieg und so weiter, sehe, was ist da die Gelegenheit dankbar zu sein? Dass ich darauf aufmerksam gemacht werde, damit schenkt mir das Leben eine Frage oder eine Herausforderung. Das ist die Gelegenheit etwas zu tun. Und wenn ich im ersten Moment denke, ich kann gar nichts tun, dann kann ich mich fragen, was kann ich tun? Das ist auch schon etwas.
Alfred Fiedler: «Dass bereits der Impuls die Gelegenheit für die Frage bietet, was kann ich tun, ist ein bestechender Gedanke.»
[Ein unvergessliches Zusammentreffen (2024): Interview mit Bruder David OSB von Dr. Bernhard Marckhgott und Dr. Alfred Fiedler mit Bruder David]
[Ergänzend:
1. Jeder Augenblick enthält so viele Überraschungen (2019): Interview mit Bruder David von Sabine Schüpbach:
«Es gibt manche Situationen, in denen mir das Lebensvertrauen und die Dankbarkeit schwerfallen. Ich leide öfters unter Atembeschwerden. Nicht frei atmen zu können, ist schon eine Qual. Dann stöhnt der Körper – und er stöhnt nicht ‹danke, danke›. Dann brauche ich eine Weile, um mich zu erinnern: Ich kann ja doch noch atmen, es wird schon wieder werden. Meine Dankbarkeit wird herausgefordert, das gehört wohl zum Leben. Je mehr man aber in Übung ist, umso kürzer dauert die Zeit, bis man im schwierigen Augenblick das Geschenk erkennen kann.
Um dankbar sein zu können, müssen wir uns auf das Leben verlassen. Dieses Vertrauen brauchen wir, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die sich uns bieten. Dabei handelt es sich um Gottvertrauen. Aber ich nenne es lieber Lebensvertrauen. Denn viele Leute machen eine Unterscheidung zwischen Gott und Leben. Sie betonen, sie hätten Gottvertrauen, beklagen sich aber über ihr Leben. Dabei ist genau das Leben, das sie so schrecklich finden, der Ort der Begegnung mit Gott. Wie Paulus sagt: «In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir» (Apostelgeschichte 17,28).
Sind Gott und Leben für Sie ein und dasselbe?
Gottes Wirklichkeit geht unendlich über alles hinaus. Aber wir erleben Gottes Gegenwart nicht anders als durch unsere Lebensumstände. Die Idee, dass ein Gott hoch oben im Himmel sitzt, ist keine christliche Vorstellung. Was wir ‹Leben› nennen, ist unsere Gottesbegegnung – Augenblick für Augenblick. Darauf gilt es zu vertrauen.
Und wenn das Vertrauen sich nicht einstellt?
Vertrauen ist das Schwerste überhaupt. Darum kommt in der Bibel so häufig der mutmachende Spruch «Fürchte dich nicht» vor – in der Weihnachtsgeschichte rufen ihn die Engel den Hirten auf dem Feld zu. Angst ist unvermeidlich im Leben. Aber wir sollten lernen, nicht mit Furcht darauf zu reagieren.
Wie ist das möglich?
Ich kann mich im Vertrauen üben, dass jeder Tag mir genau das bringen wird, was ich brauche – auch wenn es nicht immer das ist, was ich mir wünsche. Ich persönlich bin dabei dankbar für die Werkzeuge der christlichen Tradition wie etwa Gebete. Aber auch Menschen, die keiner Religion angehören, erfahren immer wieder: Alles, was wir wertschätzen, wird uns vom Leben geschenkt. Wir können lernen, darauf zu vertrauen.»
2. Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern (2019): Interview mit Bruder David von Michaela Gründler:
«Das ist die große Entscheidung: Vertraut man jetzt dem Leben oder misstraut man ihm auf Schritt und Tritt? Wenn man ihm misstraut, ist das Ärgste schon passiert. Viel schlimmer kann es ja gar nicht werden. Wenn man hingegen vertraut, ist das der Einstieg zur Beziehung zum großen Geheimnis. Ich verwende daher lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen, aber es läuft auf ein und dasselbe hinaus.
Weshalb sagen Sie lieber Lebensvertrauen statt Gottvertrauen?
Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Gott. Den meisten Menschen in unseren Breiten wird ja schon sehr früh eine falsche Idee von Gott gegeben: die Idee, dass wir von Gott getrennt sind – schon als Geschöpfe, und durch Sünde noch mehr. Unsere angeborene Urreligiosität weiß aber, dass wir dem göttlichen Geheimnis innig verbunden sind.
Auch in der Bibel, wo Paulus zu Griechen in Athen spricht – einfach als Mensch zu Menschen –, da kann er auf nichts zurückgreifen als auf diese allgemein menschliche Religiosität, also sagt er: ‹Eure eigenen Dichter haben es ja schon gesagt: In Gott leben wir, bewegen uns und sind.›
Das ist nicht der Gott, der uns als himmlischer Polizeimann bespitzelt, der Gott, der fern von uns im Himmel thront und uns verurteilt. Dass wir ‹in Gott leben und weben und sind›, (Apostelgeschichte 17:28) ist ein Ansatzpunkt, den heute viele Menschen guten Willens annehmen können.
Wenn man das Lebensvertrauen verliert – wie lässt es sich wiedergewinnen?
Da kommt wieder die Dankbarkeit ins Spiel. Ich spreche dabei aber nicht von Dankbarkeit im Sinne, dass man jemandem für etwas dankt. Falls es in dein Weltbild hineinpasst, Gott zu danken, wunderbar! Aber wenn jemand überhaupt kein Lebensvertrauen hat, ist es besser, zu sagen:
Schau, du kannst atmen. Du kannst sehen. Du bekommst etwas zu essen, das dir schmeckt. Das alles schenkt dir das Leben. Wenn wir dort anfangen, wo wir uns am Leben freuen, dann gibt uns das ein bisschen Lebensvertrauen. Das Leben hält ja doch viel Gutes für uns bereit.»
3. Radikales, mutiges Vertrauen in das Leben (2019): Interview mit Bruder David von Anne Voigt [ebenso: Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen (2017)]:
«Was ist Glaube für Sie?
Glaube ist ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Der Glaube an etwas kann aber auch ein Sich-Anklammern sein. Im Deutschen ist es missverständlich: Das Wort ‚glauben‘ bedeutet in der Alltagssprache gewöhnlich, etwas für wahr halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein Etwas-für-wahr-Halten von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.
Wie geht das, sich aufs Leben einzulassen?
Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt.
Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem Menschen früh Vertrauen schenkt. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Bei einem Menschen, der diese beiden Erfahrungen schon sehr früh erlebt hat, ist das eine sehr gute Grundlage.
Hatten Sie dieses Glück?
Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Das Leben bringt uns aber immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Jeder kennt solche Situationen und jeder reagiert anders, da gibt es psychische und psychophysische Prägungen. Ich bin persönlich depressiv veranlagt.
Sie haben Depressionen?
Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage:
Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen. Lebensangst?
Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist: Mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen hat mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.»
4. Lebensquell und Schale (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Die Unzufriedenheit, die wir empfinden, hängt damit zusammen, dass wir dem Leben nicht vertrauen; wir bezweifeln, dass es uns genug gibt. Wir wollen immer etwas anderes oder mehr. Dabei gehört es ganz wesentlich zum Lebensvertrauen, daran zu glauben, dass uns das Leben immer gibt, was wir brauchen.
Zum Lebensvertrauen, das ja dasselbe ist wie Gottvertrauen, gehört die Kreativität im Vertrauen darauf, dass ich aus meinem Leben etwas machen kann.
Das Leben bietet mir immer die Gelegenheit, etwas daraus zu machen, es zwingt mich nicht.
Aus dem Augenblick etwas zu machen, ist viel mehr als sich einfach mit ‹Zwängen des Lebens› zu arrangieren. Das ist keine kreative Lösung.
Lebensvertrauen heißt ja auch, dass das Leben mich nicht zwingt, sondern, dass es mir Gelegenheit anbietet.»
5. Zeit ohne Druck (2017): Interview mit Bruder David von Heinz Niederleitner:
«Zum Lebensvertrauen gehört das Vertrauen, dass das Leben mir immer genug schenkt.
Zeit ist ein ganz wichtiges Element, das uns geschenkt wird.
Deshalb ist es ein ganz wichtiger Aspekt des Lebensvertrauens, sich darauf zu verlassen, dass das Leben mir immer genügend Zeit schenkt – auch wenn es nicht so ausschaut. Und warum schaut es nicht so aus? Weil ich etwas anderes will, als das Leben mir gibt.
Natürlich darf ich mir wünschen, für dieses und jenes mehr Zeit zu haben. Aber das Gefühl, dass nicht genug Zeit da wäre, darf ich ersetzen durch vertrauensvolles Ausnutzen der Gelegenheit, die das Leben mir jetzt schenkt.
In jedem Augenblick kann ich schauen, wie ich ihn so verwenden kann, dass ich auch das bekomme, was ich mir erträume und wünsche.
Dabei werde ich unter Umständen draufkommen, dass es mir möglich ist, etwas weniger zu schlafen.
Unter anderen Umständen ist es notwendig, etwas mehr zu schlafen.
Wenn ich eine halbe Stunde früher aufstehe, habe ich vielleicht Zeit für das, was ich mir wünsche; oder wenn ich das auslasse, was mir nicht so wichtig erscheint, bietet mir das Leben die Gelegenheit, stattdessen etwas zu machen, was mich wirklich freut.
Wir können uns eine Wertordnung setzen: Wie will ich die Zeit nutzen, die mir das Leben schenkt?»]
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