LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Video und Text von Br. David Steindl-Rast OSB

(Video 53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.

In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:

Wir wissens ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.

Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?

Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.

Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich
s.[1]

(56:16) Wenn du so viele Wochen abgetrennt bist von fast allem und jedem, dann stellst du dir die Frage, ob es für dich ein gutes Leben überhaupt noch geben kann? Und falls dies doch noch möglich wäre, wie denn so ein erfülltes Leben ausschauen könnte trotz der Isolation der Krankheit und den vielen Krisen, die es gegenwärtig auf dieser Welt gibt?»

Bruder David: «Wie kann ein erfülltes Leben ausschauen? Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, das deutsche Wort erfülltes Leben legt die Antwort schon nahe. Sehr oft im Leben haben wir das Gefühl der Leere. Da ist nichts, da fehlt etwas. Und wenn wir krank sind, dann sagen wir: Es fehlt uns etwas. Wenn nichts mehr fehlt, dann ist das Leben erfüllt. Dann ist es voll ‒ die Schale ist voll. Dann will sie überfließen. Und dieses Überfließen ist die Dankbarkeit.»

(57:35) Bettina Buchholz: «Für mich ist das ein sehr schönes Bild, das Bruder David hier in den Raum stellt. Ich wäre gerne öfter so eine volle Schale, die nichts zurückhält, sondern dankbar überfließt. Wahrscheinlich geht es vielen von uns so.

Wenn du so eine anstrengende Krebsbehandlung erlebst, dann ist die Müdigkeit dein ständiger Begleiter. Doch ich wollte Bruder David noch eine allerletzte Frage stellen, obwohl ich ahnte, dass seine Antwort länger und vielschichtiger ausfallen könnte.

Ich hatte sein neuestes Buch mit dem Titel Orientierung finden mit großem Interesse gelesen, aber ich hatte es auf Grund seiner Komplexität nicht ganz verstanden, nicht ganz erfassen können. Also stellte ich ihm zum Schluss die Frage, ob er nicht für mich in ein paar Sätzen zusammenfassen könnte, wie man heute, in dieser so widersprüchlichen Welt, doch noch so etwas wie Orientierung und Erfüllung finden könnte?»

(58:37) Bruder David: «Ich habe ein ganzes Buch schreiben müssen, um das auszudrücken. Aber wenn ich’s in einem Satz zusammenfassen soll, ist: Lebensvertrauen ‒ dem Leben vertrauen. Das Leben ist vertrauenswürdig. Wenn wir dem Leben ‒ das heißt, dem großen Du, dem wir in jedem Augenblick des Lebens gegenüberstehen ‒, wenn wir dem vertrauen, erweist es sich vertrauenswürdig.

Das kann man leicht sagen, glauben kann man es nur, wenn man es ausprobiert. Auch in den schwierigsten Situationen immer wieder dem Leben vertrauen und hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir? Was schenkt mir das Leben? In jedem Augenblick schenkt uns das Leben etwas. Aber diese Gabe ist zugleich Aufgabe. Und das zu üben, immer wieder zu üben, das ist worauf es ankommt im Leben, scheint mir. Man kann es natürlich auch Liebe nennen, aber Liebe ist so ein schwieriges Wort, weil es so viel missbraucht und missverstanden wird. Aber wenn man unter Liebe das gelebte Ja zur Zugehörigkeit versteht ‒

Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Und Liebe ist dann, worauf es im Leben ankommt. Und Liebe bezieht sich auf jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, den ganzen Kosmos und letztlich auf das Herz des Ganzen. Denn das Ganze hat ein Herz. Und das erlebt man eben auch nur, wenn man sich darauf verlässt. Aber wenn man sich darauf verlässt, fühlt man den Herzschlag des Universums in unserem eigenen Herzen.»[2]

(01:01:06) Nach dieser intensiven Stunde mit Bruder David verspürte ich trotz meiner Müdigkeit so etwas wie eine aufkeimende Zuversicht, einen wachsenden Mut und ja ‒ auch wieder Lebensfreude. Und ich spürte wirklich so etwas wie den Herzschlag des Universums in mir. Dies alles möchte ich in mir bewahren trotz der Scheißkrankheit, der voranschreitenden Klimakrise und des furchtbaren Krieges. Ich wollte mich gerade bei Bruder David herzlich und inniglich bedanken.

[Video Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast (2023); siehe auch Transkription]


[Ergänzend:

Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude (2014): Interview von Andrea Huttegger mit Bruder David:

«Das Herz ist wie ein Gefäß, das sich anfüllt und überfließt vor Dankbarkeit. In Österreich ist es oft so: Gerade wenn das Gefäß überfließen will vor Freude, weil wir so viel haben, kommt die Reklame und sagt uns, dass es etwas Besseres gibt. Das Gefäß wird immer größer und fließt nie über. In Ländern, in denen Armut herrscht, fließt das Gefäß früh über, weil es sehr klein ist. Wir können unseres kleiner machen, z.B. durch Fasten. Plötzlich schmeckt das Wasser so gut. In diesem Moment fließt das Gefäß vor Dankbarkeit in Freude über. Unser Gefäß kleiner zu machen heißt nicht, die Lebensqualität zu vermindern, im Gegenteil. Eine gewisse Einschränkung erhöht die Lebensqualität, weil das Gefäß früher überfließt und Freude schenkt.»]

________________

[1] R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905

[2] Siehe auch Erlösung ‒ Sünde und Heil: Haupttext, sowie Ergänzung: 1.4. und Anm. 3: R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, II; siehe auch die Audios in Tanz ‒ der Sinn des Ganzen: Ergänzend: 2.1. und 2.6.



Quellenangaben

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