LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB

In meinem 6. Lebensjahrzehnt wurde es von großer Bedeutung für mich, dass ich in der Kamaldulenser Einsiedelei an der Big Sur Küste Kaliforniens leben durfte. Diese Mönchsgemeinschaft verbindet eremitische Elemente mit Elementen des Gemeinschaftslebens. Ich wurde, wie schon erwähnt, dorthin eingeladen und brüderlich aufgenommen und fand in dieser Gemeinschaft l4 Jahre lang mein klösterliches Zuhause zwischen vielen Reisen.

Zu meinem Staunen erfuhr ich dort auch, dass der heilige Romuald, der Gründer der Kamaldulenser Benediktiner, schon vor 1000 Jahren ein Modell für das Mönchsleben entwickelte, das sich gerade heute wieder als ungemein zeitgemäß erweist. Unsere Lebenserwartung ist so viel größer geworden, dass ein junger Mensch, der heute ins Kloster eintritt, damit rechnen muss, zwei oder drei Mal so lange Mönch zu sein wie jemand zur Zeit Benedikts. Das Mönchsgelübde gilt zwar ein Leben lang, aber es in ein und derselben Form so viele Jahrzehnte lang zu verwirklichen, kann eintönig erscheinen.

Das Kamaldulenser Modell bietet nun neben dem üblichen Gemeinschaftsleben noch zwei weitere Formen an: Die erste heißt Mission (Aussendung) und umfasst jede Art von Dienstleistung außerhalb des Klosters, zu der ein Mönch ausgesandt wird ‒ etwa Lehrtätigkeit, künstlerische Betätigung, Dienst an alten, kranken Menschen, an Drogensüchtigen, Straßenapostolat oder Gefängnisseelsorge.

Die zweite Alternative zum Gemeinschaftsleben im Kloster ist das Leben in der Einsiedelei.

Zwischen diesen drei Formen ‒ Einsiedelei, Klostergemeinschaft und Sozialeinsatz ‒ abwechselnd kann also ein Mönch sein Gelübde leben. Auch Thomas Merton hielt dies für ein vielversprechendes und zukunftweisendes Modell mönchischen Lebens. Ich begann es in meinem eigenen Leben zu verwirklichen, lange bevor ich davon gehört hatte.

Meine weiten Reisen und meine Zeiten als Einsiedler gehören eng zusammen. Schon früh pulsiert mein Leben in der Spannung zwischen den beiden Beziehungspolen von äußerem und innerem Kontakt. Auch ein Einsiedler, der seine Aufgabe versteht, zieht sich ja nicht von Kontakt schlechthin zurück, sondern von äußerem Kontakt. Und mit welchem Ziel? Gerade um jene tiefe innere Verbundenheit zu erneuern, ohne die jeder äußere Kontakt oberflächlich bleibt.

Eine kurze Fabel stellt das reffend dar: Ein Einsiedler zieht sich jedes Jahr tiefer in seine Höhle zurück. Ein Besucher fragt ihn etwas spöttisch:

«Was erwartest du denn, in der tiefsten Tiefe deiner Höhle zu finden?»

Die Antwort des Einsiedlers:

«Alle Tränen der Welt.»[1]

Wir alle brauchen beides: Weite und Tiefe, Ausfahrt in die fremde Weite und Einkehr in die eigene Tiefe.

Rhythmus und Formen dieser beiden abwechselnden Sehnsüchte sind von Mensch zu Mensch verschieden.

Für mich persönlich sind der Verinnerlichung geweihte Zeiten lebensnotwendig. Das ist wie so vieles andere zugleich Bedürfnis und Begabung. Und als Begabung ist es sowohl Gabe als Aufgabe.

Schon als Kind suchte und fand ich immer wieder Orte, um allein zu sein. Einer meiner Lieblingsplätze war eine einsame Quelle. Ich wurde nicht müde, ganz alleine dort zu sitzen und dem Wasser zuzuhören.

Als Student flüchtete ich mich manchmal mitten in einer Party (so sehr mir das Tanzen Spaß machte!) zum einzigen Ort, an dem ich allein sein konnte ‒ dem WC. In meinem Sommer auf der Alm war mir stille Einkehr inmitten der Nachkriegswirren ebenso wichtig, wie dass ich dort etwas zu essen bekam. Auch als junger Mönch durfte ich manchmal einen Tag oder sogar einige Tage in der kleinen Einsiedlerhütte im Klosterwald verbringen.

Das begann aufgrund eines Traumes, in dem irgendetwas ‒ ich konnte es nicht benennen ‒ mich schwer bedrückte. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Ein langer, enger Tunnel führte mich endlich ins Freie.

Da stand ich nun. In strahlendem Sonnenlicht blickte ich um mich und sah vor mir unsere Einsiedelei. Porta coeli hatten wir sie benannt ‒ «Himmelspforte» ‒, und das wurde sie in der Tat für mich ‒ Ort einer Seligkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt.

Als später meine Vortragsreisen begannen, wurden Zeiten des Alleinseins wichtig. Dieses Bedürfnis wird oft von den Mitbrüdern nicht gern gesehen. Der typische Einwand lautet: «Wenn ein Bruder tüchtig genug ist, um alleine zu leben, dann brauchen wir ihn in der Gemeinschaft, wenn nicht, dann braucht er uns.»

Mein Abt aber sagte mir: «Draußen bist du so viel unter Menschen. Wenn du heimkommst, brauchst du nicht wieder Menschen, nicht einmal deine Brüder im Kloster. Die Einsiedelei wird dir da guttun.»

Das stimmte. Zuerst war es die eine oder die andere unserer Einsiedeleien im Klosterwald von Mount Saviour, wohin ich mich zurückzog, dann andere Orte, die sich anboten. Manche, die ich hier näher erwähnen werde, waren recht romantisch, etwa Bear Island, eine winzige Insel im Nordatlantik, auf der ich einen Winter mit Kälterekorden dankbar überlebte, oder Sand Island Light, ein verlassener Leuchtturm im Golf von Mexiko, von dem aus ich nichts sehen konnte als Meer und Himmel.

Man sollte sich aber keine romantischen Vorstellungen machen vom Einsiedlerleben. Letztlich verlangt es nüchterne Konfrontation mit sich selbst und mit allen Tränen der Welt.

Zum Leben als Einsiedler gehört es, freiwillig ausgesetzt zu sein im Sinne von Rilkes dichterischem Bild:

«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.»[2]

Der äußere Ausdruck dafür, innerlich preisgegeben zu sein und sich verwundbar zu machen, ist ein Aufgeben bürgerlicher Geborgenheit.

Das durfte ich auf Bear Island[3] erleben, einem Inselchen von etwa sieben Hektar, auf dem nur ein Leuchtturm der Küstenwache Platz hat und der 100 Jahre alte Sommersitz der Familie Dunbar. Diese großzügigen Freunde erlaubten mir, mich in einem ihrer Gebäude einzuquartieren. Ich wählte einen Holzbau mit Werkstatt und Holzlager im Erdgeschoss und zwei Räumen darüber, die Rick Dunn mir winterfest machen half. Rick war im Winter 1976/77 dort mein getreuer Helfer. Schon der heilige Franziskus von Assisi wollte, dass einem Einsiedlerbruder immer ein zweiter als Helfer zur Seite steht, und sogar bei den frühen Wüstenvätern finden wir diesen Brauch. Wenn die Zusammenarbeit gelingt, dann gewährt dies dem Einsiedler vermehrte äußere und auch innere Freiheit. Bei uns bewährte sie sich, denn Dick meisterte die Kunst brüderlicher Fürsorge und die noch seltenere Kunst, sich gerade aus Fürsorge zeitweise unsichtbar zu machen.

Mit unserem Holzofen konnten wir uns ganz gut warmhalten. Auf dem obersten Wandbrett war es sogar warm genug, dass Keimsprossen gedeihten. In der Ecke unter dem Bett blies aber der Wind durch ein Loch in der doch nicht ganz winterfesten Wand immer wieder ein Häufchen Schnee herein. Wind gab es viel, und beim ärgsten Sturm dieses Winters mussten wir mitten in der Nacht zum Leuchtturm flüchten. Dort lebten ‒ mit Erlaubnis von «Captain», der Katze ‒ Steve Cancellari von der Küstenwache, Mary, seine Frau, und ihr Töchterchen Maggie und das Baby. Wir sahen sie gewöhnlich nur sonntags, wenn wir im Motorboot gemeinsam nach Southwest Harbor zur Messe fuhren. Sogar im Motorboot konnte das gefährlich werden, wie etwa am Weihnachtstag. Bei der Ausfahrt war das Meer spiegelglatt, nach dem Gottesdienst aber ging die Brandung so hoch, dass Steve erst nach Stunden die Rückfahrt wagte. Und ein Wagnis war es tatsächlich. Rick und ich konnten kaum schnell genug das Wasser aus dem Boot schöpfen, das sich Woge um Woge ergoss, während Mary versuchte, die weinenden Kinder zu beruhigen. Steve war trotz all seiner Mühe und Geschicklichkeit nicht imstande, das Boot an der rechten Stelle an Land zu bringen, sodass wir die letzten Meter, hüfttief im eisigen Meerwasser, die Kinder ans Ufer tragen und dann den Rest des Christtags im Bett feiern mussten ‒ mit dem bisschen, was wir an alkoholischen Getränken aufstöbern konnten. Und wenn schon das motorisierte Übersetzen gefährlich werden konnte, wie gefährlich war dann erst das Rudern. Da meinten wir mehr als einmal, unsere letzte Stunde hätte geschlagen. Aber gerade auch die «Süße reifender Gefahr»[4] gehört zu dieser Art von Einsiedlerleben.

Einen ganz anderen Aspekt lernte ich in der Hochwüste New Mexicos kennen. Dort hatten Mönche von Mount Saviour schon 1964 unter P. Aelred Wall ein Kloster gegründet «Christ in the Desert». Hier durfte ich in einer Lehmziegelhütte ‒ nicht weit vom Kloster, aber allein ‒ eine Fastenzeit erleben. Das Mitfeiern mit den Brüdern wurde in dieser Zeit für mich zur Kraftquelle beim Alleinsein, besonders, weil dort das Stundengebet dem kosmischen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten folgte, so wie Benedikt es vorsah. Unter dem Nachthimmel, an dem wie glitzernde Tautropfen die Sterne standen, durch die eisige Wüste zum Gebet zu gehen und rundum die Kojoten heulen zu hören, das war ein einzigartiger Tagesbeginn. Dann leuchteten je nach Sonnenstand Stunde um Stunde immer andere braune, rote, violette oder orangefarbene Felswände in diesem Canyon auf, bis nach einem letzten Aufflammen bei Sonnenuntergang die Dämmerung das Farbenspiel dämpfte und ausklingen ließ. Dieser stündliche Wandel des Lichtes gab den Tagen äußere, aber auch innere Ordnung.

Ein Einsiedlermönch soll sich zwar keine fixe Tagesregel vornehmen (wer das will, kann ja das Gemeinschaftsleben wählen). Er soll frei bleiben, sich vom Geist leiten zu lassen, der «weht, wo er will»[5].

Einzigartiger Ausdruck dieses göttlichen Lebensatems ist der Rhythmus des Kosmos. Er wird daher den Tagesablauf in der Einsiedelei mitgestalten, wie immer dieser auch sonst im Einzelnen aussieht. Je mehr wir uns innerlich der Natur anpassen, umso widerstandsfähiger werden wir gegen alle Willkür, die in unserer Gesellschaft vorherrscht.

Dieser Aspekt des eremitischen Lebens wurde mir besonders in den Wochen bewusst, die ich (den Namen des Ortes bewahrheitend) mit «Christus in der Wüste» feiern durfte.

(Bruder David erzählt weiter von der Einsiedelei auf Sand Island[6], einer Insel im Golf von Mexiko, gerade groß genug, dass ein Leuchtturm darauf Platz hat. Er war dort mit seinem Freund, dem Franziskaner P. Augustin Gordon. Sie trafen sich täglich nur zur ge-
meinsamen Eucharistiefeier. Die übrige Zeit verbrachte jeder allein auf dem Balkon, der unter der obersten Spitze rund um den 40 m hohen Turm läuft – schweigend und hinausschauend auf Himmel und Meer.)

Meist waren die Orte, an denen ich allein leben durfte, weit weniger außergewöhnlich, aber außergewöhnlich lieb wurden sie mir alle ‒ besonders einer: die Einsiedelei, die ich bei P. John Giuliani einrichten durfte. Mit diesem lieben Freund gemeinsam war ich an der Gründung der «Benedictine Grange» im Staat Connecticut beteiligt. «Grange» nannten wir unser Experiment, weil dieses Wort eine kleine Mönchsniederlassung entfernt vom Kloster bezeichnet, zugleich aber auch einen Speicher für Saatgut.

Zum Saatgut mönchischen Lebens für die Zukunft gehört auch seine eremitische Seite.

Darum durfte ich mich nun in einer Hälfte unserer kleinen Garage einnisten und sogar ein oberes Stockwerk bauen.

Fast in jeder beliebigen Umgebung sollte das Wesentliche gelingen:

«ausgesetzt auf den Bergen des Herzens»
In deinem Tagesrhythmus ohne Willkür
allein zu sein mit dem All-Einen,
«solus cum Solo»
und das Herz offen zu halten
«für alle Tränen der Welt».

Eine Einsiedelei, in der ich mich besonders zu Hause fühlte, möchte ich noch zum Abschluss erwähnen: Sky Farm Hermitage. Mein Freund, P. Dunstan Morrissey OSB hatte ein großes Stück Land in Sonoma, nördlich von San Francisco, geschenkt bekommen und lebte dort in einer Einsiedelei, die er Himmelsfarm nannte, vielleicht deshalb, weil dort am Tag nicht viel zu ernten ist, der tiefschwarze Nachthimmel sich aber wie eine fruchtschwere Baumkrone wölbt, in der zum Greifen nah die Sterne hängen.

Was ich dort zum ersten Mal erlebe, ist Einsiedelei als «Bleibe». Zwar kann ich nur zwischen Reisen auf Sky Farm Zeit verbringen, aber ich weiß: Ich gehöre dorthin. Das Land und seine Einsiedeleien gehören nicht uns, aber sie sind uns in Treuhand anvertraut, wir sind verantwortlich für dieses kleine Paradies. Wir pflanzen Bäume ‒ Olivenbäume, die vielleicht in 100 Jahren anderen Einsiedlern hier Schatten und Früchte schenken werden. Land, auf dem man Bäume pflanzen darf, wird dem Herzen zur Bleibe.

So wie wir alle den Mönch als Archetyp in uns tragen,
so auch den Einsiedler.
Unsere größte Freude auf Sky Farm ist es,
dieses Geschenk mit Menschen teilen zu dürfen,
die ihrem inneren Einsiedler begegnen wollen,
wenn auch nur für kurze Zeit.
Ist nicht schließlich das ganze Leben nur «auf Zeit»?

Bruder David im Dialog mit Johannes Kaup:

JK: Sie sagen, dass sich der Mönch in seiner Einsiedelei «auf den Bergen des Herzens aussetzt» und zugleich «alle Tränen der Welt» findet bzw. sein Herz dafür offen halten soll. Was meinen Sie damit konkret?

BD: Dass ein Einsiedler dem Leiden nicht ausweicht. Das war im Zusammenhang gemeint. Und dass das Einsiedlerleben keine Flucht ist vor der Gemeinschaft. Wer es richtig lebt, dem schenkt das Einsiedlerleben tiefe Gemeinschaft mit allen, besonders mit den Leidenden.

JK: Wie tut es das? Was meint dann, «die Tränen der Welt» sind bei mir, in der Höhle, in der Hütte oder welche Form die Einsiedelei auch hat?

BD: Das Alleinsein und die Meditation machen uns sensibler und stärken das Mitgefühl für Menschen, Tiere und die ganze Schöpfung.

JK: Aber wie komme ich in der Einsiedelei mit all dem in Kontakt? Wie geht das?

BD: Von innen her durch Meditation, einfach deshalb, weil man nicht abgelenkt wird und sich bewusst nicht ablenken lässt. Die Welt ist voll Tränen. Schon Vergil sagt;

«Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.»[7]

Das heißt:

«Tränen sind in allen Dingen, und alles, was dem Tod geweiht ist, berührt unser Herz.»

Wir sind uns dessen meist nicht so bewusst, lassen uns sogar gerne ablenken. Deshalb ist es schwierig, allein zu leben ‒ weil man dann eben keine Ausflucht hat. Man wird sozusagen nackt mit allem konfrontiert, auch mit allem Leid der Welt.

JK: Von den biblischen Propheten bis hin zu Jesus, aber auch von den frühen Mönchen in der ägyptischen Sketis[8] wird berichtet, dass sie ihre Schlüsselerfahrungen oft in der Wüste hatten. Auch Sie waren mehrfach in der Wüste in einer Einsiedelei in New Mexico Ich denke, dass man hier mit einer Leere konfrontiert wird und mit sich selbst. Entweder man gibt durch solche Erfahrungen auf oder man wächst innerlich. Womit wurden Sie in Ihren Wüstenerfahrungen konfrontiert und was haben Sie dort gefunden?

BD: Jeder Mensch, der in die Wüste geht, erlebt wohl, dass es dort, wie schon gesagt, keine Ablenkungen gibt. Man wird mit der Natur in ihrer ganzen Größe konfrontiert, in ihrer überwältigenden Schönheit, zum Beispiel dem Sternenhimmel bei Nacht Man kann die Sterne in der Wüste so viel klarer sehen. Sie erscheinen so groß. Aber auch der Rauheit der Natur stehen wir in der Wüste gegenüber, etwa der eisigen Kälte bei Nacht.

JK: Man ist auch dankbarer für die Ressourcen, die einem zur Verfügung stehen, selbst wenn es nur das lebensnotwendige Wasser ist.

BD: Ja, man wird dankbar für alles. Und das führt zu einer inneren Vertiefung, wenn man es wirken lässt und nicht in irgendwelche Ablenkungen flieht oder einfach weggeht.

JK: Gab es Momente, in denen Sie dachten: Warum tue ich mir das an? Bin ich nicht am falschen Ort? Gibt es auch solche Momente?

BD: Daran erinnere ich mich eigentlich nicht. Ich war immer sehr gerne in der Einsamkeit. Die einzige Zeit, in der ich manchmal gefühlt habe, dass ich nicht dorthin gehöre, war nicht in einer Einsiedelei, sondern in großen Menschenmengen. Auch wenn das nur selten vorkommt, aber etwa bei Empfängen, wo viele Leute sind und oberflächliche Gespräche geführt werden, da fühle ich mich fehl am Platz. So etwas erlebe ich als Zeitverschwendung, das Alleinsein dagegen nie. Es war nicht immer leicht, aber ich habe immer gewusst: Hier gehöre ich hin.

JK: Mich interessiert die Psychodynamik in dem Moment, in dem ich keine Ablenkungen mehr um mich habe, wo mich niemand mehr grüßt, ich ganz auf mich alleine gestellt bin, um zu überleben. Was ist in dieser Situation die ursprüngliche Erfahrung?

BD: Vielleicht so etwas wie: Es wird immer stiller, so wie Wasser, wenn es still wird. Dann klärt es sich und man sieht immer tiefer hinunter.

Man kann freier atmen und es stellt sich so etwas wie ein kosmisches Mitgefühl ein. Man fühlt sich mit allem verbrüdert.

JK: Man ist also in Resonanz mit der Landschaft, den Tageszeiten, vielleicht mit ein paar Tieren, die es auch noch gibt in der Wüste.

BD: Ja, wenn man in der Einsiedelei sonst keine Gesellschaft hat als eine Fliege, dann bekommt man zu dieser Fliege eine ganz persönliche Beziehung. Man hörte auch von irischen Einsiedlern, die zu ihren Mäusen freundliche Beziehungen hatten.

JK: Und sie gefüttert haben?

BD: Ja.

JK: Wie sah denn ein Tagesablauf in der Einsiedelei bei Ihnen aus?

BD: Das war sehr unterschiedlich. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich Einsiedler keinen festen Tagesplan auferlegen. Das heißt jetzt nicht, dass man jeden Tag schläft, so lange man will. Es gibt schon gewisse mönchische Normen. Aber vor allem ist das Leben mit dem natürlichen Tagesablauf sehr wichtig. Man kann bewusst das Morgengrauen sehen und den Sonnenaufgang. Man spürt, wenn es Mittag ist, wenn es so ganz still wird. Man freut sich daran, wenn es kühl wird am späteren Nachmittag und wenn der Abend sich senkt. Es wird einem der natürliche Ablauf des Tages weit mehr bewusst. Diese Natürlichkeit steht im Widerspruch zu der Willkürlichkeit, die unsere Gesellschaft dem Tag aufzwingt. Der normale Tagesablauf in der Stadt ist sehr willkürlich, verglichen mit der Natur. Es ist egal, ob es dunkel wird, weil man dann eben das Licht andrehen und den Tag verlängern kann, so lange man will. An sehr kurzen Wintertagen habe auch ich Licht verwendet in der Einsiedelei, aber sonst habe ich eigentlich am liebsten im Rhythmus des normalen Tageslichts gelebt. Im Winter schläft man länger als im Sommer. Das war auch bei den Mönchen, die in Gemeinschaft leben, ursprünglich so, Benedikt schreibt zum Beispiel ausdrücklich, dass das Abendessen so angesetzt werden soll, dass alles fertig ist, bevor es dunkel wird. Dieses Sich-Einlassen auf den natürlichen Tagesablauf, das ist wichtig. Wie man dann den Tag ausfüllt, zu welchen Zeiten man liest oder schreibt oder Handarbeit verrichtet, das ist im Vergleich weniger wichtig.

JK: Haben Sie verschiedene Projekte in die Einsiedelei getrieben?

BD: Es hat schon Zeiten gegeben, in denen ich mich allein zurückgezogen habe, um an einem Buchprojekt zu arbeiten, aber das würde ich nicht als Einsiedlerleben bezeichnen.

Das einzige Projekt des Einsiedlers ist es, allein und frei zu sein;
dem stehen andere Projekte im Weg.
Allein zu sein mit dem All-Einen,
wie Plotin sagt,
dieses Alleinsein selbst ist das große Projekt.

JK: Und das unterscheidet sich von Einsam-Sein.

BD: Das Alleinsein hat eine positive und eine negative Form. Die negative Form des Alleinseins nennen wir einsam sein.

Einsam sind wir, wenn wir von anderen abgeschnitten sind. Das Abgeschnittensein ist das Negative. Wir können auch mitten in einem ganz gedrängt vollen Raum einsam sein. Es bedeutet nur: Wir sind nicht verbunden mit den anderen, wir fühlen uns innerlich abgetrennt. Für die positive Form des Alleinseins haben wir eigentlich keinen richtigen Namen.

JK: Autonomie vielleicht?

BD: Nein, das klingt viel zu eigenmächtig.

Die ganze Verwundbarkeit des Einsiedlers gehört zum Alleinsein dazu.

Das ist freilich nichts, woran man gewöhnlich denkt. Es kommt vielleicht nicht so darauf an, dass wir einen genau treffenden Ausdruck dafür finden. Der Einsame ist jedenfalls abgeschnitten von der Gemeinschaft mit anderen, der Einsiedler aber ist innig verbunden mit ihnen. Und je tiefer und umfassender diese innere Verbundenheit ist, umso authentischer ist das Einsiedlerleben ‒ und umso glücklicher.

Unser größtes Glück, unsere wahre Freude
ist die Verbundenheit mit anderen.
Unser größtes Leid ist es,
abgeschnitten zu sein von ihnen.

JK: Sie haben vorhin die Verwundbarkeit des Einsiedlers angesprochen. Worin ist der Einsiedler verwundbar?

BD: Bei der Konfrontation mit sich selbst. Die Ablenkung ist eine Art Rüstung, die wir uns anlegen, um diese Verwundbarkeit nicht fühlen zu müssen. Warum will sich jemand verwundbar machen? Weil es eben unsere authentische Lage ist. Wir sind verwundbar. Man muss das zugeben, bevor man mit anderen offen sein kann in einer echten Beziehung. Wer für Beziehung offen ist, ist auch offen für Verwundung.

JK: Aber der Einsiedler hat diese Beziehung zu anderen Menschen zumindest in diesem Moment nicht.

BD: Doch! Nicht nur zu Menschen, sondern zu allem, was es gibt. Es handelt sich bei dieser Verwundbarkeit nicht nur und nicht in erster Linie um Beleidigungen, denen man sich aussetzt, sondern etwa um die Kleinheit, die man erlebt, wenn man unter dem Sternenhimmel in der Wüste steht, diese Nichtigkeit, die man da erlebt: Ich bin ja nichts.

JK: Aber das kann mich auch nur zur Demut bringen und muss nicht zwangsläufig eine Wunde sein. Verwundung, finde ich, ist etwas Stärkeres und hat auch mit unseren Schattenseiten zu tun.

BD: Was ich gemeint habe mit Verwundbarkeit kommt der Demut sehr nahe: keinerlei Rüstung anlegen.

JK: Könnte man das als Sensibilität, als besondere Achtsamkeit bezeichnen?

BD: Ja. Sensibilität, Achtsamkeit, Mitgefühl, das heißt Mitfreude und Mitleid. Das Mit- ist das Entscheidende daran. Nicht abtrennen, sondern verbinden.

JK: Besonders herausfordernd muss Ihre Zeit auf kleinen Inseln gewesen sein. Eine solche ist Sand Island, ein Haufen Steine, darauf ein verlassener Leuchtturm. Sie haben sich dahin mit einem Mitbruder per Boot bringen lassen. Wie geht das, alleine zu zweit zu sein?

BD: In diesem Fall auf Sand Island war Platz genug, auf zwei verschiedenen Seiten des Balkons dieses Leuchtturms den ganzen Tag allein zu verbringen, ohne den anderen auch nur zu sehen. Die Eucharistie haben wir dann gemeinsam gefeiert. Gegessen haben wir wieder allein. Aber die Eucharistiefeier war unsere Zeit der Gemeinsamkeit.

JK: Es gibt zwar heute wenig klassische Einsiedler, aber die Lebensform scheint zur Zeit sehr attraktiv zu sein: sich in eine einsame Berghütte zurückzuziehen oder mit dem Zelt oder einer Plane in der Wildnis zu leben, allen Elementen ausgesetzt ‒ das suchen Einzelne heute immer wieder. Es gibt auch neue Angebote, die an alte spirituelle Traditionen anknüpfen, wie die Visionssuche, die Initiationsriten oder Medizinreisen. Was suchen und finden die Zeitgenossen Ihrer Meinung nach dabei?

BD: Ich glaube, sie suchen und finden, wenn es erfolgreich ist, genau dasselbe, was der sogenannte Einsiedler sucht und findet. Einsiedler, die ihr ganzes Leben lang als Einsiedler leben, gibt es heutzutage wenige und es waren vielleicht nie sehr viele. Aber Einsiedelei auf Zeit ist besonders in unserer Gesellschaft fast eine Notwendigkeit geworden für viele Menschen. Manche gehen alleine wandern, andere haben ein Hüttchen oder eine Unterkunft, wo sie bleiben, und es gibt auch Klöster, die Einsiedeleien zur Verfügung stellen für eine Zeit. Das bewusste Alleinsein ist wohl immer irgendwie religiös gefärbt, ob das in einer klösterlichen Umgebung stattfindet oder bei einer Wanderung im Gebirge. Alleinsein ist für uns Menschen immer eine Gelegenheit zur Begegnung mit dem Großen Geheimnis. Das Alleinsein ein Leben lang durchzuhalten, ist schon etwas recht Ungewöhnliches. Ich kann mir vorstellen, dass das wirklich so etwas wie ein Beruf ist. Für mich war es das jedenfalls nicht.

JK: Sie brauchen den Rhythmus, die Dynamik von Alleinsein, Gemeinschaft und wirken können?

BD: Ja. Viele Menschen ‒ nicht nur Mönche ‒ finden heute, dass sie der Gemeinschaft am besten dienen können, wenn sie sich zwischendurch immer wieder zurückziehen, sich sammeln und selbst finden. Dann haben sie wieder mehr zu geben.

JK: Man bekommt manchmal auch eine ganz klare Sicht auf die Verhältnisse, in denen man lebt. So wie Henry David Thoreau[9] der seine Systemkritik der damaligen amerikanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert als Einsiedler entwickelt hat. Das war gewaltig. Es wurde auch eine Art Gründungstext, einer der vielen Gründungstexte der Hippiebewegung in den 68er-Jahren.

BD: Ich habe selbst einmal eine Pilgerfahrt gemacht zum Walden Pond, wo Thoreau eine Zeitlang Einsiedler war. Die Hütte steht leider nicht mehr.

JK: Und wie war das?

BD: Berührend. Sein Geist ist immer noch dort.

JK: Er war ein unglaublich anarchistischer Denker, im positiven Sinn.

BD: Er war sogar kurz im Gefängnis. Mein erster Besuch am Walden Pond fiel zufällig ‒ wenn es Zufall gibt ‒ auf einen «Tag der Erde».

[Ich bin durch Dich so ich (2016): 6. Einsiedlerleben: 1976-1986, 116-122 und 6. Dialog, 123-127, 129-131]


[Ergänzend:

VOM ICH ZUM WIR ‒ Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021) und Mitschrift des Filminterviews, 1:

Egbert Amann-Ölz: «Als Mönch stellt man sich einen Einsiedler vor – üblicherweise –, oder jemanden, der sich zumindest öfters alleine zum Gebet zurückzieht und dann gleichzeitig auch in einer Gemeinschaft lebt.»

David Steindl-Rast: «Zu dem Ersten muss ich sagen, dass man zunächst einmal die Vorstellung von einem Einsiedler korrigieren muss: Ich hab das große Glück gehabt, viel Zeit in meinem Leben in Einsiedeleien verbringen zu dürfen und ich kann aus Erfahrung sprechen:

Der Einsiedler schneidet sich nicht von der Welt ab, im Gegenteil! Das ist sehr schön ausgedrückt in einer kleinen Geschichte, die ein Einsiedler geschrieben hat, und zwar ist es eine erfundene Geschichte: Wenn man Einsiedler ist, wollen ja die Leute einen immer sehen, und dieser Einsiedler war auch bedrängt von vielen Besuchern und musste sich immer tiefer und immer tiefer in die Höhle hinein zurückziehen. Und da haben ihn dann die Besucher gefragt: ‹Was findest du eigentlich, wenn du ganz tief in die Höhle hineinkommst›? Und die Antwort war: ‹Alle Tränen der Welt›.

Alle Tränen der Welt: Also, wenn man sich zurückzieht, so vereinigt man sich mehr mit dem Wir als auf irgendeine andere Weise. Man hat mehr Zeit und Bewusstsein dafür. Das ist einmal die Korrektur von dem Einsiedler.»

2. Löwe, Lamm und Kind (1992); siehe auch Sinne und Kind werden: Ergänzend: 2.3.
Themen der Fragerunde:
Audio: Das Kind in uns und das mönchische Leben

3. Allein ‒ All-Eins, ein Auszug aus Der Mönch in uns (1978) im Buch Die Antwort der Erde (1978); siehe auch die Übersetzung von Eve Landis in Der Mönch in uns (1981), und die Übersetzung von Bernardin Schellenberger im 3. Kapitel «Der Mystiker in uns allen» im Buch Auf dem Weg der Stille (2023), 43-63]

___________________

[1] Theophane the Monk, aus: ‹Tales of a Magic Monastery›, New York 1981

[2] Rainer Maria Rilke: Fragment, siehe Sinne und Kind werden: Anm. 5

[3] Bear Island ist eine Insel im US-Bundesstaat Maine. Sie ist eine von fünf Inseln der Cranberry Isles.

[4] Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIII:

«Rufe mich zu jener deiner Stunden,
die dir unaufhörlich widersteht:
flehend nah wie das Gesicht von Hunden,
aber immer wieder weggedreht,

wenn du meinst, sie endlich zu erfassen
So Entzognes ist am meisten dein.
Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen,
wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.

Bang verlangen wir nach einem Halte,
wir zu Jungen manchmal für das Alte
und zu alt für das, was niemals war.

Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,
weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen
und das Süße reifender Gefahr.»

[5] Joh 3,8

[6] Sand Island Lighthouse ist ein 40 Meter hoher Leuchtturm, der den südlichsten Punkt des US-Bundesstaates Alabama bildet. Er liegt in der Nähe von Dauphin Island, an der Mündung der Mobile Bay, Alabama.

[7] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 117

[8] Sketis ist die Bezeichnung des sketischen Wüstentals (Wadi an-Natrun) in Ägypten. Der Name leitet sich vom Altägyptischen ‹Sechet-hemat› ab und bedeutet Salzfeld. Es beherbergt auch heute noch Einsiedeleien und später erbaute koptische Klöster.

[9] Henry David Thoreau (1817-1862). Der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph ist vor allem durch sein Buch ‹Walden oder das Leben in Wäldern› berühmt geworden.



Quellenangaben

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