LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text, Video und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB

Die Tatsache «Es gibt mich» ist schon ein Ansatz für die Schöpfungsgeschichte, eine Schöpfungsgeschichte liegt schon da drinnen, noch gar nicht in Bilder ausgeformt, aber wunderschön, ansatzweise wunderschön da.[1]

Wenn wir um uns schauen, so erleben wir die Welt als sinnträchtig: schwanger mit Bedeutung. Jedes Ding sagt etwas aus ‒ manchmal so überwältigend wie ein sommerliches Gewitter, manchmal so zart wie ein Kücken, das soeben aus dem Ei geschlüpft ist.

In jedem Ding spricht uns etwas an, wenn auch nicht in Worten und Begriffen, so doch unserem Herzen vernehmlich.

Diese Erfahrung ist uns zugänglich; wir müssen nur unsere Scheu überwinden, und ‒ Selbsttäuschung vermeidend ‒ ein wenig introspektiv experimentieren.

Wir sollten vielleicht ein paar stille Minuten ohne Ablenkung mit einem Stein oder einer Blume verbringen und uns Rechenschaft darüber geben, was wir da erleben.

«Du großes Geheimnis, Quellgrund meines Lebens,
Meer, dem alles zuströmt!

Die Vielfalt der Welt, die mich umgibt,
ist eines Deiner größten Geschenke.
Ich aber verunehre diese unerschöpfliche Vielfalt,
indem ich verallgemeinere.
Du sagst ‹Birke, Weide,
Tanne Linde, Föhre …›
Ich sage ‹Baum›.
Jeder dieser Bäume hat
sein unbenennbares
ureigenes Farbenspiel;
ich nenne sie alle ‹grün›.
Ich habe nur ‹Blatt› oder ‹Nadel›
als Namen für all das Sonderbare,
das jedes Zweiglein mir entgegenstreckt,
meine Fingerspitzen mit immer neuen
Überraschungen zu beschenken.
Dankbar für Vielfalt, will ich heute
wenigstens einmal einen Allgemeinbegriff
bemerken und vermeiden.
Amen.»
[2]

Wenn wir nun in Stille um uns blicken und ergriffen werden von Staunen, was es doch alles gibt, dann eröffnet sich uns das Geheimnis als Weite ‒ als die unerschöpfliche Fülle des Seins, die aus dem Quellgrund hervorquellt.

Diese Weite ist in ihren Möglichkeiten ebenso grenzenlos wie die Tiefe, aus der sie hervorquillt. Wohin wir uns auch wenden, überall

«gibt es etwas»

und noch und noch etwas, und ich selbst gehöre ja auch dazu, denn es gibt auch mich: Das Geheimnis schenkt mich mir selbst und der Welt. In allem, was es gibt, wird das Geheimnis zum Geschenk, es schenkt sich selbst in allen Dingen.

Sonderbar, dass es kaum jemandem einfällt, nach dem ES zu fragen, das dies und das und alles gibt.[3]

«Denn wer ist denn dieses ES, das mich gibt? Meine Eltern. Aber wo kommen sie her? Aus der Evolution. Und wo kommt die her? Vom Urknall. Aber woher entstammt der Urknall? Keine Ahnung. Da bleibt immer ein unauflösliches Mysterium.»

Und doch wissen wir: ES gibt mich. Mich. Sage ich nun ‹Ich›, dann setzt das ein ‹Du› voraus. In dieser Ich-Du-Beziehung ist alle Spiritualität verankert. Wir im Westen reden hier auch von ‹Gott-Bezogenheit›, doch sollten wir das Wort Gott nur mit größter Vorsicht verwenden. Denn ‹Gott› ist nur ein Name für etwas Unnennbares, für das Mysterium ‒ das Mysterium,[4] dass sich jeder Mensch in einer Beziehung zu einer letzten Wirklichkeit befindet.

Diese Ich-Du-Beziehung ist das große Wunder ‒ unaussprechlich, unfassbar, unerforschbar.»

Christoph Quarch: «Was bedeutet das für unsere Lebenswirklichkeit?»

Bruder David: «Aus dieser Beziehung zu leben führt zu einer ganz neuen, anderen Lebenshaltung gegenüber Menschen und Tieren. Nun dominiert nicht mehr ‒ wie in unseren Breiten üblich ‒ die Ich-Es-Beziehung, sondern die Ich-Du-Beziehung.»

«Wovon wir aber noch weit entfernt sind.»

«Ja, denn wir haben die Ich-Du-Beziehung verdrängt und uns die Welt als ein Es untertan gemacht. Wir haben die Welt verobjektiviert, vergegenständlicht. Und nicht nur die Welt, sondern auch unsere Mitmenschen. Wir haben sie zu Dingen gemacht, zu Zahlen.»

«Wenn Sie hier ‹Wir› sagen, meinen Sie dann die westliche Zivilisation oder die Menschheit im Ganzen?»

«Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen. Dabei habe ich nur selten ‒ bei nordamerikanischen Indianern oder in Afrika ‒ Menschen gefunden, die ursprünglich in dieser Ich-Du-Beziehung leben, und das sogar gegenüber den Dingen, dem Feuer, den Pflanzen.

Ansonsten steckt die Welt in toto in dieser Ich-Es-Beziehung. Der nun anstehende Bewusstseinswandel[5] wird das rückgängig machen: weg vom Ich-Es, hin zum Ich-Du; hin zu einer Haltung, bei der die Umwelt zur Mitwelt wird. Auch hier haben wir es wieder mit dem Geist des Wir zu tun.»

«Das ist eine Veränderung, die nicht allein unser Denken betrifft, sondern uns auch emotional und körperlich verwandeln wird; weil sich ‒ wie Sie sagten ‒ Spiritualität durch alle Dimensionen des Lebens hindurch erstreckt.»

«Richtig, und eben hier kann eine spirituelle Praxis ansetzen, um den Veränderungsprozess zu beschleunigen.»

«An welche Praxis denken Sie dabei?»

«An eine Praxis, die ich selbst seit langem übe und hilfreich finde. Sie ist sicher nicht die einzige, aber doch eine, die sich wunderbar mit allen anderen spirituellen Traditionen verbinden lässt, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Es ist die Praxis der Dankbarkeit ‒ gratefulness. Alle Menschen verstehen dies.»

«Schon, aber wie wird daraus eine spirituelle Praxis?»

«Indem Sie Dankbarkeit methodisch üben. Indem Sie Dankbarkeit als innere Haltung kultivieren. Die Voraussetzung dafür haben wir schon besprochen: diese einfache Erfahrung des Es-gibt-mich. Hören wir genau hin:

ES gibt mich.

Das ist nicht: ‹Ich bin da.›[6] ‒ Da ist ein ES, und von diesem ES ist gesagt, dass ES  g i b t , und zwar  m i c h

«Und Dankbarkeit ist meine Haltung ‒ als Gegebener ‒ gegenüber dem, der mich gegeben hat. Richtig?»

«Ja, denn ich habe mich ja nicht gemacht
und nicht entworfen.
Ich habe mich empfangen.
Und ich tue es jeden Augenblick aufs Neue.
Und nicht nur ich tue dies,
sondern auch alles andere.
Alles, was ist, kommt ständig
als ein Geschenk aus diesem ES heraus.
Alles ist sich und einander geschenkt.

Wenn Sie sich das klar machen und in Dankbarkeit annehmen, dann bekommen Sie eine ganz andere Haltung zu Ihren Mitmenschen und zur Welt. Denn dann entsteht dieser Geist des Wir. Er ist ein Kind der Dankbarkeit[7]

«Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen,
und in den großen gibst du groß dich hin.»

Rilke: Das Stunden-Buch

Es ist geradezu ein mystischer Blick, der hier den Dichter in allen Dingen das große Du erkennen lässt.

Hinter den Dingen begegnen wir einer Gegenwart, die uns «entgegenwartet», wie Rilke es ausdrückt: einer Gegenwart, die uns etwas sagt, oder schweigend auf unsere Antwort wartet.

Diese allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem

«Gott sprach … und es ward»

im biblischen Schöpfungsbericht.

Wir haben es da mit einem dichterischen Ausdruck zu tun, dafür dass jedes Ding und jede Begebenheit als Wort verstanden werden kann.

Ein horchendes Herz weiß sich von Gott angesprochen in allem, was es gibt.[8]

Auch ein Mystiker aus der chassidischen Tradition des Judentums, Rabbi Yitzchak Berditchev (1740-1810), schaut alles mit diesem Blick an:

Wo ich auch gehe ‒ Du!
Was ich auch sehe ‒ Du!
Überall nur Du, immerdar Du. Du, Du, Du.
Wenn mir die Sonne scheint ‒ Du!
Wenn alles in mir weint ‒ Du!
Nur Du! Allezeit Du! Du, Du, Du.
Der Himmel nur Du! Die Erde nur Du!
Du oben! Du unten!
Wohin ich mich wende, so Anfang so Ende,
Nur Du, immerfort Du!

Aber verwischen wir hier nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen? Nein.

Diese Art, die Welt zu sehen, heilt den klaffenden Schnitt der Trennung zwischen zwei Welten ‒ zwei Welten, die wir unterscheiden können, nicht aber trennen dürfen: Du-Welt und Es-Welt.[9]

Wir haben die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nicht nur unterschieden, sondern gewaltsam getrennt. Die Ganzheit der Welt zerfällt durch diese extreme Spaltung. Überall um uns herum wird dadurch die Natur zum Objekt und wir erdreisten uns, sie beliebig zu manipulieren.

Wer aber je in den Bergen gewandert ist, das Schweigen des Waldes erfahren hat oder auch nur einen Baum im Park als Freund hat, weiß, dass die Natur mehr ist als nur Objekt. Sie steht uns zugleich auch als Subjekt gegenüber.

Martin Buber beschreibt dies am Beispiel eines Baumes, den er nicht als Gegenstand, sondern als Gegenüber zu sehen beginnt.[10]

«Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen ... Ich kann ihn als Bewegung verspüren ... Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten ... als Ausdruck der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn ... zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen ... In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand ...

Es kann aber auch geschehen, durch Entscheidung und Geschenk zugleich, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr ... Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm ‒ nur anders ... Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht ... Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade (ein Baumgeist), sondern er selber.»

Was hat sich hier ereignet? Hat der Philosoph Martin Buber einfach sein eigenes Bewusstsein auf diesen Baum projiziert und ihn so personifiziert? Auf die Frage nach dem Bewusstsein des Baumes antwortet Buber bescheiden: «Ich erfahre es nicht.»

Es geht gar nicht darum, was der Baum erfährt oder nicht erfährt: Es geht darum, was wir erfahren. Uns wird das Einbezogenwerden in eine Beziehung bewusst.

Beziehung ist Gegenseitigkeit.

Bei dieser Gegenseitigkeit spielt aber mehr mit als dieser einzelne Baum, so wie bei der Begegnung mit einem Menschen mehr mitspielt als dieses einzelne Du. So wie mir in dem Du eines andern das Ur-Du begegnet, so in der Gegenseitigkeit mit dem Es eines Baumes das Ur-ES, dem wir schon in dem Satz

«ES gibt mich»

begegnet sind ‒ jenes ES, das alles gibt, «was es gibt».

Diese Erfahrung kommt, wie Buber sagt,

«durch Entscheidung und Geschenk zugleich»

zustande.

Beides ist nötig: dass wir uns entscheiden, willig unser Herz dieser Erfahrung zu öffnen, und dass wir sie als Geschenk empfangen.

«Alles ist Gnade», sagt Augustinus, alles ist Geschenk des Lebens.

Und das Leben ist die abenteuerliche Geschichte unsrer Begegnungen mit dem Geheimnis.[11]

Sie schwingt mit, wann immer ich einem Du begegne. Anfangs mag dies kaum mehr sein als eine Ahnung, aber ich kann mir darüber Gedanken machen und einsehen, warum dies so sein muss:

«Wir tanzen rätselnd rundum im Kreis;
Das Geheimnis sitzt in der Mitte und weiß.»

Mein Ur-Du ist das Herz des Geheimnisses, das, wie Robert Frost (1874-1963) sagte, in der Mitte sitzt, während wir rätselnd rundum im Kreis tanzen.

Somit ist das große Du für uns alle ein und dasselbe. Diese schwerwiegende Einsicht können wir uns so tief zu eigen machen, dass sie unsre Haltung allen Mitmenschen gegenüber bestimmt, sie schwingt aber unterschwellig schon von Anfang an mit.[12]

Unsre Beziehung zum großen Geheimnis können wir nicht nur als Beziehung zum Ur-Du erleben, sondern auch zum Ur-ES.

Begegnungen, wie Buber sie mit dem Baum erlebte, können wir nicht selten mit Tieren erleben. Wer jemals einem Hund oder einer Katze tief in die Augen geschaut hat, weiß dies. Manchmal wird uns sogar eine tiefere Beziehung zu Pflanzen bewusst ‒ wie eben Buber zu seinem Baum.

Wenn uns eine solche Begegnung geschenkt wird,
heilt dadurch eine abgerissene Verbindung.
[13]

Die Unterscheidung zwischen der Ich-Du und der Ich-Es-Welt wird nicht aufgehoben, aber die gewaltsame Trennung zwischen den beiden Beziehungswelten beginnt zu heilen.

In der ungebrochenen Welt, in der wir von da an leben dürfen, überschneiden sich die beiden Perspektiven und gehen allmählich ineinander über. Freilich dürfen wir nicht erwarten, dass wir ununterbrochen eine wache Ich-Du-Haltung zu Tieren, Pflanzen und Dingen beibehalten können.

Das gelingt uns ja auch Mitmenschen gegenüber nicht ununterbrochen. Aber wir können immer wieder zur rechten Beziehung zurückfinden und so zur Heilung der klaffenden Wunde beitragen, die wir unsrer Umwelt zugefügt haben, weil wir sie nicht zugleich auch als Mitwelt[14] behandelt haben.[15]

In der Schöpfungsgeschichte gibt es diesen schwierigen Satz:

«Macht euch die Erde untertan.»

Es klingt, als seien wir die Herrscher über die Erde. Es klingt, als sei die Erde unsere Befehlsempfängerin oder gar unsere Sklavin.

Nehmen wir also die Bibel zur Hand und lesen wir noch einmal genau nach. Wir erkennen, dass es nicht nur einen, sondern zwei Schöpfungsberichte gibt. Der erste, Genesis 1,28 [1 Mose 1,28], spricht tatsächlich vom Befehl Gottes an die Menschheit, die Erde zu bevölkern und sie sich untertan zu machen. Blättern wir aber weiter, folgt ein anderer Ansatz. In Genesis 2,15 [1 Mose 2,15] steht geschrieben:

«Bebauet die Erde und behütet sie.»

Diese Sorgfalt im Umgang mit der Erde finden wir an vielen Stellen des Heiligen Buches, auch im Neuen Testament. Die Bibel ist da nicht ganz eindeutig, sie zeigt uns zwei verschiedene Einstellungen zur Natur, die sich gegenseitig korrigieren.

Vielleicht sind die beiden Haltungen absichtlich nebeneinandergestellt. Vielleicht sollen wir uns selbst entscheiden. Wie wollen wir als Menschen leben? Wie wollen wir meint dem Geschenk der Schöpfung umgehen?[16]

[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 1-3, 7-9, 11f., 15f.]


[Ergänzend:

1. Schöpfungsmythen antworten auf die Frage: Wer bin ich?

2. Der springende Punkt: Schöpfung ist Selbstmitteilung Gottes

2.1. Video Wir sind daheim in dieser Welt (1975) und Transkription; siehe auch Sinne und Sinn:

(06:45) «… Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: ‹Gott sprach und es ward Licht.› Und ‹Gott sprach und da war ein Firmament›, und ‹Gott sprach›, und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.»

2.2. Audio Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011); siehe auch die Transkription des Vortrags:

(37:18) «Ein neues Gottesverständnis: Jeder von uns muss sagen: ‹Es gibt mich.› Darin können wir alle übereinstimmen. Es Was ist dieses Es? Das große Geheimnis, aus dem alles hervorfließt. Nicht in dem engen Sinn von Schöpfung mit einem Schöpfer irgendwo da droben: das war Bildersprache. Wem das hilft ‒ fein. Wem das nicht hilft: Bilder sind Bilder! Aber: ‹ES gibt mich›. Das ist dieses Geheimnis, mit dem sind wir alle als Menschen konfrontiert. Das ist die göttliche Quelle.

Und mein innerstes Selbst
ist das  e i n e  Selbst,
ist das göttliche Selbst,
das mich mit allen Menschen,
mit allem, was es gibt
und mit der göttlichen Wirklichkeit
verbindet, vereint:
‹ES  g i b t ›

Was kann ES  g e b e n ?
Diese göttliche Wirklichkeit
kann nur  s i c h  s e l b s t  geben.
Und alles, was gegeben ist,
ist Ausdruck
dieser göttlichen Wirklichkeit.»

2.3. Im Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 54f.:

«Aber Vorsicht: Auch Schöpfung ist nur ein bildlicher Ausdruck; auch SCHÖPFER ist nur ein Bild, und bildliche Vorstellungen können irreführen. Beim Schöpfungsbegriff müssen wir uns vor dem Irrtum hüten, es handle sich um einen Anstoß von außen. Die schöpferische Kraft im Weltall ist zwar Geschenk, wirkt aber als Be-gabung von innen her. Sie ist eins mit dem Selbstverwirklichungsimpuls von allem, was es gibt. Gott ist kein kosmischer Uhrmacher, obwohl wir das Universum als Kosmos, als bis in die letzte Einzelheit geordnetes Ganzes erleben.»

«Im biblischen Schöpfungsmythos geht es anders zu als in Collodis ‹Pinocchio›, wo Geppetto eine Puppe schnitzt, die ihm davonläuft. Der biblische SCHÖPFER haucht dem Werk seiner Hände seinen Lebensatem ein.

Könnten wir (und so der ganze Kosmos) inniger verbunden sein mit Gott?

Hier muss das Bild von Gott als unser Vater das Bild von Gott als unser SCHÖPFER ergänzen und berichtigen.

Es geht hier um ein Gegenüber,
mit dem wir doch im Innersten eins sind.

Weil Lebendiges nicht  e r zeugt, sondern  g e zeugt wird, verlangt etwas in uns danach, dass auch Pinocchio zuletzt nicht Puppe bleibt, sondern in der Geschichte Collodis der Fleisch-und-Blut-Lausbub wird, der er eigentlich schon von Anfang an war.

‹Gezeugt, nicht geschaffen; eines Wesens mit dem Vater›,

sagt eine andere Fassung des Glaubensbekenntnisses.»[17]

2.4. Bruder David bietet in seinem Vortrag anlässlich der Salzburger Hochschulwochen 1972 Jesus als Wort Gottes, abgedruckt im Buch Die Frage nach Jesus (1973), 9-67, eine Gesamtschau auf die Bibel, die christliche Lehre mit Blick auf die primitiven Religionen, den Buddhismus und Hinduismus, aus der Erfahrung unseres eigenen Strebens nach Sinn.

S. 62, wie auch im Auszug Wir leben vom ureigensten Leben Gottes; ebenso im Haupttext von Es gibt mich und in Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 2.2.:

«Wenn wir den biblischen Schöpfungsbericht nacherzählen sollen, erinnern wir uns vielleicht an mehr oder weniger Einzelheiten, aber es stellt sich in 99 von 100 Fällen heraus, dass wir den springenden Punkt vergessen. Man wird immer wieder erzählen, dass Gott den Menschen erschafft und dann mit ihm spricht, dann sich ihm offenbart, dann mit ihm in Kommunikation eintritt. Aber da ist schon der springende Punkt verfehlt. Denn was die Bibel uns berichtet, ist nicht, dass Gott den Menschen da draußen erschafft, mit dieser Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern was Gott zunächst erschafft, ist noch gar nicht Mensch, nur etwas, das so aussieht wie ein Mensch, eine kleine Ton Puppe, leblos. Und jetzt kommt der eigentliche Schöpfungsakt, indem der Schöpfer in ganz drastischer biblischer Bildsprache dieser leblosen Figur sein eigenes Leben gibt, indem er seinen Geist, seinen Atem diesem leblosen Ding einhaucht [1 Mose 2,7]. Es gibt also nach der biblischen Anthropologie keinen Augenblick, in dem der Mensch nicht schon in Gemeinschaft mit Gott steht.»

2.5. Begegnung mit Gott durch die Sinne (1993):

«So verblüffend der Gedanke anmuten mag: Was ich als meine Sehnsucht nach Gott erlebe, ist Gottes Sehnsucht nach mir.»

«Die Bibel drückt solche Einsichten in den Worten ‹Gott spricht› aus. Da ich in der biblischen Tradition aufgewachsen bin, ist mir diese Sprache vertraut, doch würde ich sie ungern jemand anderem aufdrängen. Was zählt ist, dass wir zu einem gemeinsamen Verständnis kommen, was diese oder irgendeine andere Sprache ausdrücken will. ‹Gott spricht› ist eine Art, auf meine persönliche Beziehung mit der göttlichen Quelle hinzuweisen. Diese Beziehung lässt sich als Dialog verstehen: Gott spricht, und ich kann antworten.

Aber wie spricht Gott? Durch alles, was es gibt. Jeder Gegenstand, jede Person, jede Situation ist letztlich WORT. Das Wort sagt mir etwas und fordert mich auf zu antworten. Jeder Augenblick mit allem, was er enthält, spricht das große Ja auf neue und einzigartige Weise aus. Indem ich darauf anspreche, Augenblick für Augenblick, Wort für Wort, werde ich das WORT, das Gott in mir und zu mir und durch mich spricht.»

2.6. Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 20; siehe auch Jesus-Gebet:

«Um das an mich gerichtete Wort, das Wort, das ich zugleich bin, zu verstehen, muss ich die Sprache des Einen, der mich anspricht und ausspricht, sprechen. Wenn ich Gott überhaupt verstehen kann, so ist dies nur möglich, weil Gott mir am Geist des göttlichen Selbstverständnisses Anteil schenkt.[18]

Das Hinhorchen und Antworten, das unser geistliches Leben[19] ausmacht, ist also keine dualistische Angelegenheit, sondern vielmehr Feier dreieiniger Verbundenheit: das Wort, das aus der Stille entspringt, führt im Verstehen heim in die Stille.

Mein Herz, wie ein Gefäß, das im Meer versinkt, ist voll von Gottes Leben und zugleich völlig darin eingetaucht. All das ist reines Geschenk. Meine Antwort ist Dankbarkeit

3. «Großvater, wirst du immer bei mir sein?»

Siehe den Vortrag von Bruder David Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (21. Oktober 2010) im Kardinal Wendel Haus, München mit dem Schöpfungsmythos der Apachen (30:00-35:31) und der Transkription dieses Abschnittes am Schluss des Haupttextes in Es gibt mich, sowie die Audios in Schöpfungsmythen: Ergänzend: 1. und 2.]

__________________________

[1] Bruder David im Vortrag Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2010) (27. Oktober 2010) in Wien (07:33 und 27:08); siehe auch die Mitschrift

[2] Der einleitende Text zu Du großes Geheimnis: Gebete zum Aufwachen (2019), ‹21 ‒ Vielfalt›, 30, ist aus dem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, 54

[3] Orientierung finden (2021):‹Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ergreift›, 47 und 43

[4] Schweigen und Wort: Ergänzend: Auf dem Weg der Stille (2023), 124, und Suche nach dem Sinn (2019):

«Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff dafür, ‹Mysterium› ist vom Tätigkeitswort ‹myein› abgeleitet, das bedeutet ‹still bleiben› oder ‹den Mund halten›.

Ein Mysterium, ein Geheimnis ist keine Leere, sondern die unfassbare Präsenz, die uns anrührt und uns sprachlos macht, indem sie uns Sinn erschließt.»

[5] Zum Stichwort ‹Bewusstseinswandel› siehe Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021): Videointerview von Egbert Amman-Ölz mit Bruder David; siehe auch die Mitschrift des Videointerviews:

«Wir haben uns eine Eigenständigkeit und eine Selbständigkeit und ein Ich-Bewusstsein erworben, und wir müssen unseren Vorfahren da sehr dankbar sein, dass sie das erreicht haben: Das war eine ungeheuer schwierige Aufgabe, zu der heutigen Unabhängigkeit sich durchzuringen aus einem völligen Verstrickt-sein im Wir – nicht nur Verstrickt-sein, sondern keine persönliche Identität! Also wir müssen den Vorkämpfern da sehr dankbar sein, dass sie uns soweit geführt haben.

Aber jetzt haben wir diese Unabhängigkeit zu so einem hohen Maß erreicht und übertrieben schon, dass wir nicht nur selbständig, sondern vereinsamt sind – vereinsamt und abgeschnitten von allen anderen: Vereinzelung. Und unsere große Aufgabe wäre es nun, alles das Positive beizubehalten, was uns da geschenkt wurde, was die Menschheit sich errungen hat an Unabhängigkeit des Einzelnen, aber das zu verbinden mit einer Vernetzung, mit einem Bewusstsein der Gemeinschaft, mit einem wieder Eintreten in die Verbundenheit mit allen andern – und damit meine ich nicht nur alle anderen Menschen, sondern alle Tiere, alle Lebewesen und das ganze Universum. Wir müssen uns wieder eingebettet wissen und danach handeln.»

[6] Der Unterschied der beiden Ausdrucksweisen ‹Ich bin da› und ‹Es gibt mich› ist tiefgreifend, wie Bruder David schon zu Beginn seines Buches Orientierung finden (2021): ‹Das Ich ‒ mein Dasein als Geschenk›, 17f., ausführt. Siehe den Text S. 18 in Es gibt mich: Ergänzend: 1.4.

[7] Das Wir wächst aus der Dankbarkeit (2013): Interview von Dr. Christoph Quarch mit Bruder David

[8] Orientierung finden (2021): ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 30, in Verbindung mit Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet (2015), 54f.

[9] Ebd. 30

[10] Buber Martin: ‹Ich und Du›, Gerlingen, Schneider 131997

[11] Orientierung finden (2021): ‹Das ES ‒ in allem den Zauber des Daseins entdecken›, 32f.

[12] Ebd. im Kapitel: ‹Immer Du ‒ denn alles Leben ist Beziehung›, 28, mit Bezug auf die Verse von Robert Frost, Ebd. 14

[13] Siehe eine Herleitung des Wortes ‹Religion›, etwa in Dankbarkeit ist der Spitzenkandidat, oder in Religiosität ‒ ethische Urquelle:

«Religiosität ‒ vom lateinischen re-ligare, wiederverbinden ‒ weist auf das Wesen dieser Beziehung hin: auf die Heilung unserer gestörten Verbindung zum Urgrund, zur Um- und Mitwelt und zu unserem wahren Selbst

[14] MITWELT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 150:

«MITWELT nennen wir gewöhnlich jenen Teil unsrer Umwelt, mit dem wir uns besonders eng verbunden fühlen ‒ unsre Mitmenschen, unsre Zeitgenossen, unser gesellschaftliches Umfeld, unsren Lebenskreis im engeren Sinn. Diese Einengung übersieht die Tatsache, dass wir mit unsrer ganzen Umwelt ‒ mit dem gesamten Universum ‒ so eng verbunden sind, wie mit dem, was wir als unsre Mitwelt erkennen. Jedes Atom in unsrem Körper ist, wie es auch oft ausgedrückt wird, kosmischer Sternenstaub. Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dann werden wir unsre Umwelt ganz anders würdigen und ihr mit der Ehrfurcht begegnen, die unsre Mitwelt verdient.»

[15] Orientierung finden (2021): ‹Das ES ‒ in allem den Zauber des Daseins entdecken›, 33f.

[16] Erkenntnis (2023): Kapitel 5: ‹Dem Welthaushalt freudig dienen: Unsere Wohngemeinschaft›, 116

[17] Das Große oder Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis, das in der Liturgie verwendet wird, spricht von Jesus Christus als

‹Deum de Deo,                                      ‹Gott von Gott
Lumen de Lumine,                              Licht vom Licht
Deum verum de Deo vero,                 wahrer Gott vom wahren Gott,
genitum non factum,                          gezeugt, nicht geschaffen,
consubstantialem Patri,                     eines Wesens mit dem Vater
per quem omnia facta sunt.              durch ihn ist alles geschaffen.›

Der Gegensatz von ‹gezeugt, nicht geschaffen› könnte den Eindruck erwecken, als ob zwischen Jesus Christus: ‹gezeugt› und der Schöpfung: ‹geschaffen› eine dualistische Spaltung bestehe. Auch die Schöpfung, wie alles Lebendige, wird nicht  e r zeugt, sondern  g e zeugt. Wenn wir so tief in den Namen Jesu eintauchen wie Bruder David im Herzens- oder Jesus-Gebet, begegnen wir dem kosmischen Christus, der die Schöpfung einschließt:

«Wenn ich jedem Ding und jedem Menschen, den ich treffe, diesen Namen gebe, wenn ich ihn mir in jeder Lage vergegenwärtige, dann erinnere ich mich daran, dass all dies nur Erscheinungsformen der unerschöpflichen Fülle des einen ewigen Wortes Gottes, des Logos sind.»

[18] Wie der hl. Paulus in 1 Kor 2,10-16 argumentiert, ist für Bruder David der Schlüssel zum Verständnis unserer Gottesbeziehung. Immer wieder bezieht er sich in Vorträgen auf diese Bibelstelle.

[19] Siehe Hl. Geist ‒ Lebensatem Gottes: Ergänzend: 1.2.:

«Geistliches Leben, das ist ‒ im Deutschen ‒ ein schwieriges Wort und missverständlich, weil man gleich an ‹die Geistlichen› denkt. Was heißt also ‹Geistliches Leben›?»



Quellenangaben

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