Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
In meiner Kindheit und Jugend hörte ich oft den Ausdruck, der oder die «hat ein schweres Kreuz zu tragen». Die Vorstellung, dass wir Jesus, unser eigenes Kreuz tragend, nachfolgen können, entstand sehr früh in den christlichen Gemeinden und kam schon in den Evangelien zu Wort. So sagt Jesus im Markusevangelium: «Wer mein Jünger sein will, der sage sich von seinem Ich los, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach» (Mk 8,34).
Dem Weg Jesu zu folgen konnte im Römerreich zur Zeit, als Markus schrieb, tatsächlich zum Kreuzestod führen. Für zahllose Christen aber, die im Lauf der Geschichte mit Mut, Geduld und Liebe ihr «Kreuz» trugen, hatte dies nichts mit den Anschuldigungen zu tun, derentwegen Jesus gekreuzigt worden war.
In welchem Sinne kann ich im 21. Jahrhundert vom Kreuztragen sprechen, wenn es etwa darum geht, den Kürzeren zu ziehen, weil ich aufrichtig bin, mich für alternde Eltern aufzuopfern, oder mich mit einer schweren Behinderung durchzuschlagen?
Worin besteht da die Verbindung zwischen meinem «Kreuz» und dem, an dem Jesus gekreuzigt wurde?
Was die beiden verbindet, ist Treue. Jesus wurde gekreuzigt, weil er tat, was Treue zu Gott von ihm verlangte. Wenn auch ich das tue, dann sind wir ans gleiche Kreuz genagelt, wie verschieden unsere Lebensumstände auch sein mögen.
Jesus wollte sein Kreuz ebenso wenig wie ich es will. Das Kreuz, das wir uns selber auswählen, ist nicht das wahre Kreuz. Was wir wählen, ist Gott treu zu bleiben, was es auch koste, und das «Kreuz» versinnbildet den Preis, den wir dafür bezahlen müssen. Auf dem Ölberg betete Jesus ja selber um eine billigere Lösung: «Vater, wenn es möglich ist …» Er rang sich aber durch, bis er sagen konnte: «Dein Wille geschehe» (Lk 22,42).
Indem sie die gleichen Worte im Vater Unser beteten, haben Christen immer wieder Groll und Bitterkeit überwunden und den «Frieden Gottes» gefunden, «der alles Begreifen übersteigt» (Phil 4,7).
Wir können diesen Frieden an einer tiefen Freudigkeit erkennen, die mit Leid und Schmerz vereinbar ist. Sie steigt in uns auf, sobald wir den inneren Widerstand aufgeben und nüchtern zugeben: Was ist, ist.
Das bedeutet nicht Resignation, sondern genau das Gegenteil. Wenn wir die gegebene Lage als gegeben (dankbar) entgegennehmen, wird plötzlich Energie verfügbar, die wir bisher an unseren Widerstand vergeudeten. Darum sind wir jetzt imstande, aus unserer Lage etwas zu machen ‒ und oft erstaunlich mehr, als wir uns zugetraut hätten.
Solange ich mich erinnern kann, stand auf dem Schreibtisch meiner Mutter eingerahmt der Spruch:
«Das sind die Starken im Land,
die unter Tränen lachen,
ihr eigenes Leid verbergen
und andere glücklich machen.»[1]
Ich kann mich so gut daran erinnern, weil unsere Mutter uns das vorlebte. Menschen, die so leben, die drückt ihr Kreuz nicht nieder, es «erhöht» sie vielmehr, hebt sie über ihr kleines Ich hinaus und gibt ihnen den Halt, den sie brauchen, um Andere zu stützen.
Unser Ich ist es ja, von dem wir uns «lossagen» müssen, um das Kreuz Jesu Christ auf uns zu nehmen.
Schmerz lässt sich im Leben nicht vermeiden, aber es gibt viel Leid, das vom inneren Widerstand gegen den Schmerz kommt und dieses Leid können wir vermeiden.
In geduldiger Liebe freudig unser «Kreuz zu tragen» ist in der christlichen Tradition der Weg, das Leid zu überwinden.
In eine christlich-katholischen Familie hineingeboren und so aufgewachsen, kritisierte der große Mythenforscher Joseph Campbell (1904-1987) vernehmbar und unverblümt die Überbetonung von Schmerz und Leid, die sich in den Kirchen breitgemacht hatte. In seinen Forschungen zur Sakralkunst wies er auf masochistische Aspekte der Kreuzverehrung hin. Kurz vor seinem Tod wurde er in ein katholisches Spital eingeliefert. Wie mir seine Witwe, Jean Erdman, erzählte, hing da seinem Bett gegenüber ein für ihn ungewöhnliches Kruzifix an der Wand ‒ eine moderne Darstellung des siegreichen Christus, der mit ausgebreiteten Armen nicht so sehr ans Kreuz genagelt ist, als vom Kreuz aus die ganze Welt umarmt. Voll Freude rief Joseph Campbell bei diesem Anblick aus: «Das ist das Kruzifix, das ich mein Leben lang zu sehen hoffte!»
Und du? Welche Darstellung des Gekreuzigten ‒ wenn überhaupt eine ‒ spricht dich persönlich an?
Erinnere dich, dass die Kirche während der ganzen ersten Hälfte ihrer bisherigen Geschichte kein Kruzifix kannte, sondern nur das von Juwelen strahlende kosmische Kreuz ‒ ein Kreuz mit vier gleichlangen Armen; eine Kompass-Rose zur Orientierung auf dem Lebensweg.
Vergiss auch nicht, dass Matthias Grünewald den Isenheimer Altar für ein Spital malte, in dem am Antoniusfeuer Erkrankte, betreut wurden. Extreme Schmerzen leidende, verstümmelte und durch stinkende Wunden gedemütigte Menschen waren es, für die der Künstler seinen gemarterten Christus am Kreuz in so abstoßenden Einzelheiten darstellte. Sie blickten zum Gekreuzigten auf und sahen Gott ihr eigenes Leid tragen. Als «quasi medicina» galt darum damals diese Art von Andachtsbild; es heilte innerlich, auch wenn es äußerlich nicht kurieren konnte. Was hilft dir auf ähnliche Weise?
Wir alle haben ja das Recht und die Chance, in der religiösen Kunst das zu finden, was uns hilft. Aber noch überzeugender kann mitmenschliches Beispiel wirken. Weißt du von Zeitgenossen, die Jesus Christus so begeistert nachfolgten, dass sie auf ihre eigene Weise gekreuzigt wurden?
Pater Maximilian Kolbe (1894-1941) zum Beispiel nahm im KZ Auschwitz freiwillig den Platz eines Mitgefangenen ein, eines zum Hungertod verurteilten Familienvaters, und starb an seiner Stelle.
Was bedeutet es für dich persönlich, dein «Kreuz» zu tragen?
Unterwelten, Höllen und Totenreich sind uns näher, als wir wahrhaben möchten. Und was soll uns die Höllenfahrt Jesu Christi sagen, wenn wir nicht bereit sind, mit ihm auch dorthin zu gehen?
Im Credo bekennen wir gläubig, dass Gottes liebende Gegenwart auch im Reich des Todes gefunden werden kann. Wer soll aber Gottes Abgesandter sein? Wer soll seine Botschaft auch in die Hölle bringen, wenn du und ich es nicht tun?
Eine Frau, die ich liebe und bewundere, eine Persönlichkeit von internationalem Ansehen auf ihrem Fachgebiet, schickt mir jedes Jahr zu Beginn der Fastenzeit ihre Vorsätze bezüglich des Betens, Fastens und Almosengebens. Einmal schrieb sie:
«Um es etwas wärmer und persönlicher zu machen, werde ich heuer mit den Obdachlosen auf der Straße sprechen und sie umarmen, bevor ich ihnen Geld gebe.»
Und wie hältst du es? In welchem Reich des Todes kannst du Botschafter werden für Gottes Liebe?
Heruntergekommenen Ehrfurcht erweisen und ihnen so Würde und Selbstvertrauen zurückgeben, ist nur einer von vielen Wegen. Gibt es in deiner Nähe vielleicht ein Altersheim, in dem jemand von Kindern oder Enkelkindern vergessen und vernachlässigt lebt?
Welcher kurze Besuch oder Telefonanruf könnte für dich heute zur Höllenfahrt werden, für ein Kind Gottes aber ein Sonnenstrahl in der Finsternis?
Immer wieder muss ich staunen über die Flut der Freude, die nur darauf wartet, in unser Herz zu fließen, sobald wir eine gewisse soziale Berührungsangst überwinden und unsere Scheu vor Tod und Leiden ablegen.
Matthias Claudius (1740-1815) wusste um diese wahre Freude:
«In uns ist zweierlei Natur,
Doch ein Gesetz für beide;
Es geht durch Tod und Leiden nur
Der Weg zur wahren Freude.»[2]
[Credo (2015): ‹Gekreuzigt› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 114-116, und ‹Hinabgestiegen in das Reich des Todes› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 147f.]
[Ergänzend:
1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(59:00) Die Kreuzigung nicht suchen, aber auch nicht scheuen
2. Die Crux gemmata; siehe auch Kreuz ‒ Sinnbild: Ergänzend: 1.:
Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 4 ‒ Nachmittag
‹Memento mori› ‒ ‹memento vivere›:
Gespräch: (01:08:24) Die Crux gemmata, das mit Edelstein geschmückte kosmische Kreuz im Vergleich zum Isenheimer Altar
Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Zweites Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg
Teil 1:
(21:55) Der Auferstandene trägt nicht Narben, sondern freudenstrahlende Wunden: Ursprünglicher Sinn der Kreuzenthüllung und Ausklang mit Glockengeläut]
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[1] Franz Grillparzer: «Das sind die Starken, / die unter Tränen lachen, / eigene Sorgen verbergen / und andere glücklich machen.»
[2] Matthias Claudius: ‹Sterben und Auferstehn›