Text und Audios von Br. David Steindl-Rast OSB
(Audio 18:53): Bruder David liest aus seinem Buch zum Daodejing des Laozi Der Fließweg (2024) seine Erwägungen zum Spruch 71:
«Vom Nicht-Wissen
wissen
ist Erleuchtung
vom Nicht-Wissen
nicht wissen
ist Leiden
am Leiden leiden
hebt Leiden aufWeisheit ist
nicht leiden
am Leiden»
«Was dem Leiden ein Ende macht, wollen wir wohl alle wissen. Hier erfahren wir allerdings nicht, was es beendet, sondern was es ‒ in dreifachem Sinne ‹aufhebt›.[1]
‹Am Leiden leiden
hebt Leiden auf›:
hebt es
1. auf eine neue Verständnisebene: Es wird zu Anstoß, das Leid aller Wesen zu lindern;
2. beendet es ein passives Erleiden, denn es wird zum Mitleiden;
3. bewahrt es als aktives Mitleid. Leid ‒ als Mitleid ‒ gehört zum vollen Lebendigsein.»[2]
Das Wort «Erlösung» täuscht uns allzu leicht darüber hinweg, dass es dabei um Befreiung geht. Jesus hat wegen seines Eintretens für Befreiung gelitten, und alle, die im Lauf der Geschichte in seiner Nachfolge mit ihm leiden mussten, litten um der Befreiung willen.
Freilich ist Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung durch das Machtsystem nur die naheliegendste Form von Befreiung, die notwendig ist. Das Machtsystem selbst ist ja nur das offensichtlichste Krankheitssymptom der ver-rückten Welt, die wir hervorbringen, wenn wir unser Selbst vergessen und uns mit unserem Ich identifizieren, das vom Selbst, von der Mitwelt und so von Gott entfremdet ist. Befreiung von dieser Entfremdung beendet alles Leid.
Tiefes Mitgefühl lässt jene, die Befreiung von Selbstentfremdung erlangt haben, das Leid all derer teilen, die sich noch um Befreiung mühen. Diese «Bodhisattvas» ‒ wie Buddhisten sie nennen ‒ erreichen die Schwelle höchster Seligkeit, kehren aber um, weil sie an Befreiung (Erlösung) mithelfen wollen bis auch die Verstricktesten endlich befreit sind.
Wie tief sie auch aus Mitgefühl ins Leiden hinabsteigen, sie strahlen doch immer die Freude aus, die sie schon verkostet haben. Die Archetypen von Christus und Bodhisattva treffen da zusammen.
Viele, die Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama begegnen ‒ und nicht nur Buddhisten ‒ fühlen sich wie in der Gegenwart eines Bodhisattvas. Auch mir ging es so, als mir vor vielen Jahren zum ersten Mal gegönnt war, ihm zu begegnen. Das war im Green Gulch Zen Zentrum bei San Francisco, wo ihn bei seinem ersten Besuch in Kalifornien eine kleine Gruppe begrüßte.
Ein Teilnehmer benützte diese Gelegenheit um die buddhistische Tradition gegen die christliche auszuspielen. «Buddhisten lehren den Weg, die Leiden zu überwinden», bemerkte er. «Was hat Ihre Heiligkeit da den Christen zu sagen, die sich jetzt schon zweitausend Jahre lang im Leiden suhlen?»
(So etwa lautete die Frage; die Antwort schien mir so wichtig, dass ich sie mir ganz genau merkte.) «Schon gut, schon gut», sagte S.H. der Dalai Lama, «aber wir dürfen nicht vergessen, dass nach buddhistischer Lehre das Leiden nicht dadurch überwunden wird, dass man die Schmerzen einfach hinter sich lässt, sondern dadurch, dass man sie um anderer willen auf sich nimmt.»
In so wenigen Worten vermochte dieser große Lehrer eine Überzeugung auszudrücken, in der Buddhisten und Christen übereinstimmen.
Was immer deine persönlichen Umstände sein mögen: kannst du dich an eine Gelegenheit in deinem Leben erinnern, bei der jemand mit so großer Liebe Schmerzen erlitt, dass dadurch Leid überwunden wurde?
Mütter werden an Geburtswehen denken, Lehrer werden sich vielleicht daran erinnern, wie viel seelisches Leid überwunden werden kann, wenn wir es aus Liebe zu unseren Schülern ertragen. Kennst du aus eigener Erfahrung die Freude, die das Leiden überwindet, wenn wir aus Liebe zu anderen Schmerzen ertragen?
Hast du einmal Bilder von den Demonstrationen gesehen, die Dr. Martin Luther King in Selma, Alabama anstiftete, wo schwarze Bürgerrechtler vom Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen niedergestoßen und von Polizeihunden angefallen wurden? Hast du selber einmal teilgenommen an einer öffentlichen Protestaktion für Menschenrechte oder für ein ähnliches Anliegen?[3]
In der christlichen Tradition steht nicht das Kreuz am Ende, sondern das Leben. Wie Jesus sagt, ist er gekommen, um das Leben zu bringen, und es in Fülle zu bringen und nicht, um zu leiden und zu sterben.
Er stellt uns aber vor die Entscheidung ‒ weil wir eine Welt geschaffen haben, wo man so gegen den Strom schwimmen muss, um der Wahrheit willen, sogar Leiden auf uns zu nehmen um des Lebens willen.
Jeder, der sich heute entscheidet, lebensspendend und lebensbejahend zu sein und denen, die unterdrückt und ausgebeutet sind in unserer Welt so weit wie möglich Leben zu vermitteln, der wird leiden müssen.
Wenn es uns leidig ist, werden wir es nicht tun. Wenn wir aber bereit dazu sind, werden wir uns dafür entscheiden, auch zu leiden, weil es zu der Erfüllung all dessen beitragen kann, wofür wir als Menschen eintreten.
Die Zukunft, nach der wir uns sehnen, die nicht Untergang und Zerstörung ist, sondern die ein ganz neuer Aufbruch der Lebendigkeit sein kann, wird nur dann zustande kommen, wenn wir bereit sind ‒ wenn es uns nicht leid ist, auch Schwieriges zu erfahren und zu erleiden um dieser Zukunft willen.
Das einzige Bild, das in der gesamten christlichen Tradition immer wieder hinter Leiden steht, ist das Bild der Geburtswehen. Sie werden in der ganzen Bibel kein andres Bild finden. Das ist so typisch für das Durch-Leiden-Müssen, damit neues Leben entsteht.
Wir leben heute in einer Zeit, in der etwas ganz Neues geboren werden will, das göttliche Kind in uns. Uns dafür zu entscheiden, bedeutet leiden, aber in einem sehr positiven Sinn und es ist ganz im Zug der christlichen Tradition, aber doch gegen den Strich dessen, was wir manchmal irrtümlich und leider Gottes daraus gemacht haben.»[4]
[Die Quellenangaben zum obigen Text in Anm. 2-4]
[Ergänzend:
1. Audio Fokus aus «Der Atem der Stille» (DVD 2006), Benediktushof Edition: «S.H. der Dalai Lama, Bodhisattva-Ideal und Rosenkranz»; siehe auch die Transkription des Vortrags, 11f.:
2.1. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch Gottvertrauen im Leiden und Sterben: Ergänzend: 2. Audios
Erstes Seminar mit Bruder David im Rittersaal des Schlosses Goldegg:
(15:21) Loslassen – Ganz in diesem Augenblick leben – Verlust hat bei schöpferischen Menschen erst das Beste herausgebracht, das Beispiel von Helen Keller / (17:59) Leiden in unserem Herzen aufheben – Das Leben gibt uns nie Aufgaben, ohne uns auch die Kraft zu geben, diese Aufgaben zu bewältigen. Auf diese Kraft können wir uns verlassen
2.2. Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992); siehe auch die Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 39f.
Diskussion:
(24:18) S.H. der Dalai Lama zum Thema Leiden – Das Bodhisattva-Ideal
«Im Zusammenhang von buddhistisch-christlichem Dialog stellt sich die Frage des Leidens, denn Buddha ist zu seiner Lebensaufgabe erwacht, indem er das Leiden sah und einen Weg suchte, es zu überwinden. Der gesamte Buddhismus steht und fällt der Bemühung, das Leiden zu überwinden.
… Ich möchte Ihnen eine kurze Anekdote aus einem Interview mit S.H. dem Dalai Lama erzählen. Ich war bei diesem kleinen Interview, niemand sonst war als Christ gekennzeichnet. Es war kein Grund, warum S.H. der Dalai Lama sich besonders christlich ausdrücken sollte. Immer wieder haben die Leute ihm dort Fragen über den Buddhismus auf Kosten der westlichen Tradition gestellt. Immer wieder hat er diese Fragen genommen und umgedreht.
Zum Beispiel: Was haben Sie zu dem Problem des Krieges zu sagen? Die Christen haben seit Anfang an immer miteinander Krieg geführt. Die Buddhisten habe eine ausgezeichnete Geschichte des Friedens. Darauf hat er gesagt: Es sieht vielleicht manchmal so aus. Aber jede Lehre ‒ die christliche wie die buddhistische ‒ predigt den Frieden. Die Anhänger jeder Lehre führen miteinander Krieg. Buddhisten genauso wie Christen.
Dann kam die Frage auf das Leiden: Die Christen wühlen im Leiden herum und die Buddhisten haben diesen wunderbaren Weg, das Leiden zu überwinden.
Darauf sagte S.H. der Dalai Lama: ‹So einfach ist das nicht. Nach buddhistischer Lehre wird das Leiden nicht dadurch überwunden, dass man Schmerz zurücklässt, sondern dadurch, dass man Schmerzen für andere erträgt ‒ wo nötig.›
Ich könnte mir absolut keine bessere christliche Antwort vorstellen. Das ist im Buddhismus das sogenannte Bodhisattva-Ideal, das unserem Christusbild weitgehend entspricht. Bodhisattva ist ein Buddhist, der bis zur Schwelle der Erleuchtung vorgeschritten ist, bis zum Eingang ins Nirwana, sich dort umdreht und gelobt, nicht einzutreten, bis nicht das letzte Lebewesen auch bereit ist einzutreten, alles durchzuleiden um der anderen willen. Das ist letztlich Barmherzigkeit, Mitleid und Mitfreude.
Je tiefer man eindringt, um so klarer sieht man die Zusammenhänge. An der Oberfläche ist das schwierig und man kann es niemandem zur Last legen, wenn es nicht erkannt wird. Gott sei Dank haben wir in unserer Zeit Gelegenheit, andere Traditionen kennenzulernen. Dabei sehen wir immer wieder, wie wir alle im Tiefsten von demselben Herzen kommen und zu demselben Gott hingehen, denn es gibt nur ein Herz und eine göttliche Wirklichkeit.»
3. Der spirituelle Weg (1996): Zen-Buddhismus und Christentum im täglichen Leben: ein Dialog von Robert Aitken mit David Steindl-Rast, TEIL 2: 9 Kernfragen der Praxis: ‹Schmerz und Leiden› und ‹Das Leid der Welt›, 146f.:
«Ich war einmal in einer Audienz bei S.H. dem Dalai Lama, als man ihn fragte, welcher Unterschied im Umgang mit dem Leiden zwischen dem Buddhismus und dem Westen bestehe. Das war eine von vielen Fragen, die ihm von sehr negativ zu ihrem eigenen Kulturerbe eingestellten Westlern gestellt wurden und die darauf hinausliefen, dass der Buddhismus auf Kosten der christlichen oder im weitesten Sinnen biblischen Überlieferung überhöht wurde:
‹Ihre Heiligkeit, im Buddhismus wird eine wunderbare Überwindung des Leidens gelehrt. Was können Sie zu den westlichen Überlieferungen sagen, die zweitausend Jahre lang im Schmerz gewatet haben?›
Diese Frage konnte ich noch nachempfinden, weil ich, wie gesagt, selbst auch denke, dass Schmerz und Leiden im Christentum übermäßig betont werden, und das für einen ziemlich ungesunden Zug halte.
Wie S.H. der Dalai Lama diese Frage und andere herabsetzende Fragen beantwortete, hat mich tief berührt; er hat sorgfältig darauf geachtet, keine überlegene Stellung des Ostens zu beanspruchen. …
… Dann sagte er: ‹Im Buddhismus wird das Leiden nicht dadurch überwunden, dass man es hinter sich lässt. Das Leiden wird dadurch überwunden, dass der Schmerz um der anderen willen ertragen wird.›
Das ist das Ideal des Bodhisattvas, und meiner Meinung nach ist das auch das letzte Wort, das Christen oder sonst jemand über den Schmerz sagen könnten.
Robert Aitken: «Den Schmerz um der anderen willen ertragen. Und wie wäre den Schmerz m i t den anderen tragen?»
Bruder David: «Mit den anderen. Den anderen, die nicht einmal ‹andere› sind.»
Robert Aitken: «Eben!»
4. Eng ist der Weg (2005):
«S.H. der Dalai Lama antwortete, indem er sagte: ‹So leicht ist es nicht. Leiden wird nicht dadurch überwunden, dass man die Schmerzen einfach hinter sich lässt; Leiden wird überwunden, indem man den Schmerz für andere trägt.› Und dies ist eine von diesen Antworten, welche sowohl christlich wie buddhistisch ist. Es ist eine grundlegende Aussage, die aus der Tatsache kommt, dass die Enge der Pfad ist. »]
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[1] «Aufheben» hat für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einen dreifachen Sinn: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare). Der Begriff ist für Bruder David ein zentraler Schlüsselbegriff für die Paradoxie des Lebens: abnehmen, sterben, loslassen und doch Reifen, Erfüllung, Integration auf einer höheren Ebene; siehe auch Rühmen, Er-innern, Aufheben: Anm. 2; Sterben und Angst: Anm. 6; Heldenmythus, Opfer, Dankbarkeit: Ergänzend: 3.
[2] Der Fließweg (2024): ‹Gedanken zum Daodejing des Laozi›, Innsbruck-Wien, Tyrolia-Verlag 2024: ‹71›, 134
[3] Credo (2015): ‹Gelitten unter Pontius Pilatus› ‒ ‹Persönliche Erwägungen›, 106f.
[4] Mitschrift der Diskussion im Tagungsband Schmerz ‒ Stachel des Lebens (1992), 31f.: Bruder David antwortet Dr. Franz-Josef Köb, der Fehlhaltungen im Christentum anspricht: «Ich denke mir, dass in der Religion vieles Schädliches passiert ist.»